Kein Grund zu jammern

Donnerstag, 22. Oktober 2009

Dass dieses Land als Hochburg des geschmackvollen Jammerns gilt, ist fürwahr keine neue Einsicht. Wer strebsam seine Hauspostille liest, der weiß aus den Spalten, die den sozialen Frieden herbeischreiben, dass auf hohen Niveau gejammert wird, wenn Rentner oder Erwerbslose sich mal wieder empören. Säcke von Leserbriefen unterstreichen diese Erkenntnis, verewigen das Gewimmer für all jene, die glauben, sich lediglich mittels Massenmedien auf dem Laufenden halten zu müssen. Defätismus ist deutsch - sowas weiß man, wenn man der Jammergestalten tägliche Not aus den täglichen Blätterhainen herausfiltert, wenn man erklärt bekommt, dass des Armen Not kein Hilferuf ist, sondern wohlfahrtliche Zivilisationserkrankung, nämlich Gejammer dritten Grades, das den Gehirnlappen dazu zwingt, als Jammerlappen aufzutreten.

Erneut bestätigt sich, wie tief verwurzelt dieses Krankheitsbild in diesem Lande ist. Da packt die Koalition unserer Wahl brachliegende Reformfelder an, will sich in Sachen Pflegeversicherung betätigen, möchte eine private Zwangsversicherung einführen, und was sie erntet ist Gewimmer und Bedenkenträgerei. Die Privatisierung der Pflegeversicherung wäre ein weiterer Mosaikstein, den man aus dem sozialstaatlichen Kunstwerk entferne, man würde Menschen zum Sparen zwingen, die womöglich kaum genug besitzen, um in der Gegenwart würdevoll über die Runden zu kommen. Konstruktive Kritik ist jedoch Mangelware, stattdessen Jammereien, negative Schwingungen und Pessimismus.

Doch dazu gäbe es gar keinen Grund. Was die Koalition in Lauerstellung mitteilt ist doch eindeutig: Sie bekennt sich zu den Alten, sie will eine Gesellschaft, in der potenzielle Alte - was soviel heißt wie heutige Junge - Chancengerechtigkeit erlangen. Jeder soll die Möglichkeit haben, im Alter versorgt zu sein. Wer keinen ausreichenden Kapitalstock erwirtschaftet hat, der kann hadern, aber er kann dann niemandem vorwerfen, er hätte keine Chance gehabt. Es ist gelebte Großzügigkeit der Koalitionäre, die laut ideologischer Lehre zur rationalen Wirtschaftlichkeit verpflichtet wären, jeden unbrauchbar gewordenen Torso zu entsorgen, ihn auf eine Müllhalde zu werfen, damit er nicht die wertvollen Ressourcen auffrisst, die diejenigen brauchen, die noch nicht unbrauchbar geworden sind; es wäre wie gesagt deren Verpflichtung, ausgebrannte Torsi zu entfernen. Aber sie nehmen Abstand davon! Ist das denn ein Grund zu Jammern, wenn uns die baldige Koalition mitteilt, sie würde nicht so rigoros aussortieren, wie das ihrem eigentlichen Naturell entspräche?

Man muß doch auch mal optimistisch ins Weite glotzen; man muß doch honorieren, wenn Leute, die in der Verantwortung stehen, ihren eigenen windigen Impetus zur Seite stupsen, um ihren Untertanen was Gutes zu tun. Stattdessen Mäkeleien hier, Nörgeleien dort. Dabei ist es doch eine frohe Botschaft für alle, die nicht mehr gebraucht werden in Zukunft. Denn es wurde ihnen Karitas vor Augen gehalten. Natürlich nur, wenn die zukünftigen Unbrauchbaren vorher auch brauchbar waren. Durchgehend unbrauchbare Objekte mit menschlichem Anschein werden wohl nicht hinzugezählt, und wer nur einen spärlichen Kapitalstock für die drohende Karitas hamsterte, hat sich letztlich auch als durchgehend unbrauchbar erwiesen. Aber deswegen muß man nicht gleich resignieren, schimpfen, jammern, alles schwarz und grau zeichnen. Die Chance bleibt dennoch für jeden greifbar.

Erstmal heißt es Freude zeigen, der soziale Kahlschlag fällt humaner aus als befürchtet. Man läßt die Reststoffe des produktiven Verwurstungsprozesses leben - wenn das erstmal kein Grund ist durchzuatmen! Und es liegt am Einzelnen, auch weiterhin leben zu dürfen. Spare in der Not, dann hast du in der Not, meint schon der Volksmund. Damit die menschliche Ruine in seiner ruinösen Not zehren kann, muß er nun, in der Not, seinen ausgebeuteten Leib arbeitsfähig zu halten, schon einmal etwas kürzertreten. Das verringert höchstwahrscheinlich auch die Lebenserwartung - was nicht heißt, man dürfe darüber jammern. Es ist notwendig, die Kassenlage macht es nötig, dass der Arbeitsautomat gesundschrumpft, weniger verbraucht, damit die Gattung als Ganzes überleben kann. Ja, es ist durchweg evolutionär vorgesehen, dass bestimmte Gattungsvertreter früher ableben müssen, damit die Spezies nicht zum absterbenden Ast biologischer Entwicklung wird, damit sie sich nicht als Sackgasse und Irrtum erweist, dem homo neanderthalensis in die ewigen Jagdgründe hominider Verwandter nachfolgt. Spare also in Zeiten des Mangels, damit der Gattung eine Zukunft bevorstehen kann. Wer hier jammert, ist ein Netz-, Bau- oder Höhlenbeschmutzer.

So weit soll aber noch nicht gedacht werden, es reicht zunächst anzuerkennen, dass die Koalition der Ellenbogen dazu bereit ist, die Ellenbogen dezent einzufahren, ausrangiertes Stückgut weiter an Luft und Wasser teilhaben zu lassen. Wenn es nur für Luft und Wasser bezahlen kann, versteht sich. Denn irgendwo ist auch die Menschenliebe in ökonomische Fundamente zu betten.

13 Kommentare:

Anonym 22. Oktober 2009 um 12:26  

Gestern im Deutschlandfunk 19:15.
Mehrere Journalisten sprechen zu Schwarz-Gelb.
Eines der Themen das Schonvermögen. Niemand müsse mehr aus seiner Wohnung ausziehen. Eine Journalistin, dass dies doch schon vorher so gewesen wäre.
30% der AlG2-Empfänger tragen einen Teil der Miete aus ihrem Regelsatz. Tausende müssen Monat für Monat zwangsumziehen.
Die wissen gar nichts.

willi 22. Oktober 2009 um 12:35  

Es war in den Gesellschaften schon immer so, dass die Jungen die Alten mitversorgen und zwar durch ein Umlagesystem, was erstaunlicherweise in unserem doch so überelgenen Kapitalismus angeblich nicht geht, sondern nur funktioniert, wenn Versicherungskonzerne damit Geld verdienen.
Das Gerede vom aufzubauenden Kapitalstock verschleiert die Tatsache, dass es sich dabei im Prinzip auch um ein Umlagesystem handelt, denn das Geld, dass später benötigt wird, muss dann ebenso in der jeweils aktuellen Volkswirtschaft erarbeitet werden.
Es geht mal wieder darum, auf möglichst breiter Front Spielgeld einzusammeln, um damit in Kasino zu gehen.

Daisy 22. Oktober 2009 um 15:05  

Den "Jammer"-Vorwurf würde ich in einer Reihe stellen mit "Neiddebatte", "Gutmenschentum" und "Political Correctness". Der Begriff "jammern" wird auch gerne angewandt, wenn sich Arbeitnehmer gegen unfeine Behandlung wehren.

All dies sind Schlagworte, die nahezu beliebig gebraucht werden können, und die Wirkung zeigen, ohne dass derjenige, der sie benutzt, sich in irgendeiner Weise mit den von ihm kritisierten Inhalten auseinandersetzen muss. Erschreckenderweise erfüllen sie oft ihren Zweck: Kritik wird zum Verstummen gebracht bzw. der Kritiker wird ins Abseits gestellt.

Seismograph 22. Oktober 2009 um 15:15  

Wie war das doch gleich:
"Spart der Arme in der Not, hat der Bonze in der Zeit",
oder so ähnlich.

Anonym 22. Oktober 2009 um 15:56  

@willi:
Das "Gerede vom aufzubauenden Kapitalstock" verschleiert nicht nur die Tatsache, dass es sich dabei um ein Umlagesystem handelt. In der Schweiz haben wir seit vielen Jahren die obligatorische 2. Säule bzw. die Pensionskassen - was damals in einer Volksabstimmung gutgeheissen wurde.

Dieses persönliche Kapital wird von den Pensionskassen ganz gewöhnlich angelegt in Aktien, Immobilien usw. Damit hat das Proletariat gezwungenermassen ein objektives Interesse an steigenden Aktienkursen und Immobilienpreisen - die Interessen des Kapitals wurden so gezielt identisch gemacht mit den Interessen des Proletariats. Und so kämpfen die Sozialdemokraten um möglichst hohe Mindestzinssätze im vorgeblichen Interesse der Altersvorsorge ihrer Klientel.

Dieses Interesseparadox wird wunderschön praktisch sichtbar in dem faktischen Umlageverfahren über die Wohnungsmieten: Die Pensionskassen investieren massenhaft in Immobilien. Damit steigen ganz konkret die Mietpreise für das dort wohnende Proletariat. Anstatt ehrlich und transparent über steigende Lohnnebenkosten finanzieren die Leute über die Wohnungsmiete das Rentensystem.

Die wenigen ehrlichen Ökonomen sind zumindest im persönlichen Gespräch davon überzeugt, dass mit der Pensionierung der Babyboomer-Generation die Immobilienpreise zusammenbrechen werden: Viele Pensionskassen werden gleichzeitig gezwungen sein, ihren Immobilienbesitz zu verflüssigen, und es ist nicht absehbar, woher dafür die Nachfrage kommen soll.

Robert Reich 22. Oktober 2009 um 16:59  

Welche Grausamkeiten; und ich meine nicht nur den tatsächlich zu erwartenden sozialen Kahlschlag, sondern auch die Verteidigung "deutscher" Interessen am Hindukusch und sonstwo,die die Tigerenten-Koalition!!!! noch vorhat, werden die ganzen arschkrieschenden Journalisten des Mainstreams entweder selbst nicht erahnen oder vielleicht schon wissen. Gejammert wird in Deutschland vor allem von der Kaste der notleitenden Bänker, Industiellen (ekelhaft, wie bestimmte Medien diese Jammerlappen von Arcandor, Schaeffler usw. in Szene setzten) und Politmarionetten. Der normal-durchschnittliche Tafel-oder Suppenküchenbesucher wird bestenfalls als jammervolle Gestalt, als der "Der ewige Sozialschmarotzer", dargestellt.
Und Schonvermögen: Da kann der "Sozialschmarotzer" wenigstens eine ordentliche private Altersvorsorge a la RIESTER abschließen.

Anonym 22. Oktober 2009 um 20:03  

Apropos Riester; spannend wird's auch, wenn die sogenannten geburtenstarken Jahrgänge erst in Rente gehen (dürfen) und es bei vielen von denen dann vorne und hinten nicht reicht. Und Schwupps haben wir eine neue Generation von Sozialschmarotzern, von "Alten", die zu nichts mehr nützen. Dauert noch ein paar Jährchen, aber bis dato kreuzt bestimmt der richtige Typ Politiker auf,( mit der gehörigen Portion Zynismus, versteht sich), der der "Öffentlichkeit" diese Message unter "vorgehaltener Hand" zu verkaufen versteht.

Anonym 22. Oktober 2009 um 20:09  

Für mich ist dieser Beitrag ein schönes Signal, das meiner eigenen seit über 20 Jahren vertretenen Ansicht zu einer weiteren Bestätigung verhilft (ja, mal wieder, in letzter Zeit ist es wohl ZU OFT): Es gibt zu viele Menschen auf der Welt. Da wir Menschen, und allen voran die Machthaber dieser Erkenntnis nicht Untätigkeit folgen lassen können, sodass der Natur, dieser einzigen Kompetenz *zu Lasten des Menschen* in meinen Augen, mal wieder nachgeholfen werden soll, statt *zu Gunsten des Menschen* zu agieren. Die Mächtigen wollen nämlich sicherstellen, dass sie weiterhin die Hände an den Hebeln haben und die langsame Bevölkerungsreduktion doch ein wenig "begleiten" wollen. Schließlich geht es um die Weichenstellung in die Zukunft. Ressourcen müssen eingespart werden, also auch Menschen, die dieser Ressourcen bedürfen. Und zwar so kontrolliert, dass ja kein Krieg ausbricht, denn in dem Chaos kann man ja gar nichts mehr kontrollieren. Da müssten ja sogar ein paar Reiche über die Klippe springen. "Gott behüte", soviel zum christdemokratischen Verständnis.

fletcher2 22. Oktober 2009 um 21:01  

Nein, diese Eliten jammern nicht. Sie klagen an! Sie klagen diese Hartz IV Jammerlappen an, die Leistungsträger - also Sie - durch ihr Jammern nach "mehr" in Ihrem sozialen Drang Gutes zu tun, zu behindern. Sie, die Eliten, möchten ja gerne Arbeitsplätze schaffen, Sie möchten ja gerne investieren; aber wie denn, wenn der Staat lieber diesen Armen gibt, als Ihnen noch mehr Steuern zu erlassen!?

Fordern und Fördern ist auch bei den Oberen angekommen. Sie fordern vom Staat mehr Entlastung und fördern mit dieser Erpressung ihre eigene Brut.

Deutschland - und die Welt - gehen diesen neoliberalen Weg bis zum bitteren Ende.
Wie sagte Einstein: "Ich weiß nicht, welche Waffen im nächsten Krieg zur Anwendung kommen, wohl aber, welche im übernächsten: Pfeil und Bogen."
Er wird wohl Recht behalten.

Charlie 23. Oktober 2009 um 03:08  

Es war ja abzusehen, dass die neoliberale Bande den Abbau des Sozialstaates - in diesem Falle mal wieder zugunsten der Versicherungskonzerne - weiter vorantreibt. Wer diese Parteien gewählt hat, darf also nicht jammern. Alle anderen dürfen es schon.

Es ist doch so eine einfache Milchmädchenrechnung: Wenn ein paritätisches Umlagesystem abgelöst wird von einem System, in dem der Arbeitgeber nichts mehr beisteuert, der Arbeitnehmer also alles selber bezahlen muss, und in dem Versicherungen an dem ganzen Mist auch noch Gewinne erwirtschaften wollen - wer ist denn da der Gelackmeierte? Wer um Himmels Willen heißt so etwas gut?

Und die unzähligen Menschen, auf die Du hinweist, Roberto, die sich eine solche "private Pflegeversicherung" schlichtweg nicht leisten können - was wird dann nach christlich-liberalem Willen aus denen? Entstehen bald Slums in Deutschland? Oder "Auffanglager" für obdachlose Alte und Kranke? Oder wird man den "humanen" Weg der Euthanasie wählen?

Es stehen einem die Haare zu Berge vor Entsetzen, wenn man an die finstere Zukunft denkt.

Maverick 23. Oktober 2009 um 11:35  

Und die unzähligen Menschen, auf die Du hinweist, Roberto, die sich eine solche "private Pflegeversicherung" schlichtweg nicht leisten können - was wird dann nach christlich-liberalem Willen aus denen? Entstehen bald Slums in Deutschland? Oder "Auffanglager" für obdachlose Alte und Kranke? Oder wird man den "humanen" Weg der Euthanasie wählen?

"Geben" ist christlicher als "Nehmen" – also geben sie ihnen den Rest.

Anonym 23. Oktober 2009 um 21:51  

Sophie Scholl hatte sich 1942 geweigert für die deutschen Soldaten in Russland Socken zu stricken, weil "das den Krieg verlängert". Diese Einstellung war in meinen Augen absolut richtig.

Analog dazu sehe ich den Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP (wobei ich diese Parteien eigentlich für etwas schlauer gehalten hätte). Der Worst Case bei der BT-Wahl wäre m. E. gewesen, dass sich die neoliberale SPD nochmals in Regierungsverantwortung retten und sich weiterhin am Abbau des Sozialstaats hätte beteiligen können (das wäre vom dummen Wahlvieh wohl als unabänderlich hingenommen worden - wie so vieles andere auch). Da den meisten Deutschen jegliche Empathie fehlt und jeder nur an sich denkt, muss es die sog. "Mitte" am eigenen Leib spüren, dass sie verarscht wurde und dass sie nur in den Wahlreden etwas gilt. Diese Leute müssen es am eigenen Geldbeutel spüren - das darf ruhig richtig weh tun. Ich sehe da ein Potential, dass man nicht unterschätzen sollte. Die Französische Revolution ging schließlich auch vom Bürgertum aus - nicht von den Armen und Unterdrückten. Ich bin also zynischerweise sehr erfreut darüber, dass CDU/CSU und FDP das sozialstaatschädliche Gift nicht schleichend, sondern nun offenbar mit dem Holzhammer verordnen wollen - umso schneller der Erkenntnisgewinn der sog. "Mitte" !

Anonym 24. Oktober 2009 um 14:46  

Sie gehen mit den Menschen am unteren Ende etwas hart ins Gericht. Eines haben diese häufigen Wahlverweigerer zumindest besser verstanden als andere: Diese Welt läßt sich nicht ändern. Selbst wenn es in D besser ginge, wird es woanders weiterhin Probleme geben, die D zu seinem Vorteil nutzen wird. Wer wirklich verstanden hat wie Politik und Macht funktioniert wird entweder mitmachen um seines eigenen Vorteils willen, oder sich angewiedert abwenden.
Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten! Das ist die entscheidende Erkenntniss. Wenn mehr Menschen sie auch in ihrer Gänze zulassen würden, wäre allen geholfen und das lügnerische Demokratiegesültze würde aufhören.
Ich vermute, daß die meisten diese Erkenntniss nicht vollumfänglich zulassen können, weil dann die Angst sie übermannen könnte das es eh nur schlimmer und schlimmer würde und sie niemals mehr einen Hoffnungsschimmer sähen.

Spart euch die Verbitterung. Macht in eurem Leben es besser, behandelt ihr ganz persönlich Menschen mit Respekt und geht entsprechend mit Ihnen um. Verweigert euch selbst wenn es um miese Geschäfte oder miese Methoden geht. Das kannst du alleine erreichen. Erst wenn viele davon angesteckt würden, könnte sich etwas ändern.
Danach sieht es allerdings nicht aus...

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