Seriös berichtet

Montag, 14. September 2009

Die Uhr zählt rückwärts. Menschenaufläufe vor der Stätte des Stumpfsinns. Reporterheere marodieren. Sind die Gladiatoren schon eingetroffen? Wer zuerst? Was trägt die Titelverteidigerin? Fragen über Fragen neben Fragen. Was glauben Sie, Herr Experte? Wer hat heute Abend die Nase vorn? Und Sie, Herr Demoskop? Lassen Sie doch mal Ihre Zahlen sprechen. Merkel oder Steinmeier oder gar keiner? Wer wird die Wählerinnen und Wähler begeistern? Die Uhr tickt erbarmungslos gen Stunde Null. Aber es bleibt noch ein Weilchen. Flott unseren exklusiven Experten gefragt, dann noch diesen, dann noch jenen. Doch halten Sie es kurz, Herr Sachkenner, nicht zu ausführlich, nicht zu tiefgründig. Wir wollen schließlich noch einen Einspieler platzieren, der sich mit Steinmeiers Mittagessen befasst. Seine Laktatwerte machen stutzig, Merkels Stuhlgang war unregelmäßig. Und wir müssen dringend noch den Pöbel befragen, der vor den Toren der intellektuellen Mattigkeit kampiert.

Was glauben Sie? Wem halten Sie die Daumen? Dem Herausforderer? Sagen Sie bloß! Warum? Was hat er, was Merkel nicht hat? Halt, keine Zeit mehr, unser Studioreporter hat Politiker Kenntmichnich am Mikrofon. Bitte, Herr Kollege, Sie haben das Wort. Herr, Kenntmich... ähm, Sie sehen also die Titelverteidigerin vorn. Interessant. Warum meinen Sie das? Im Urin. Achso! Vielen Dank auch. Kurze Einblendung in die CDU-Parteizentrale. Rote Nasen und La Ola. Angie! Angie! Angie! Fragen an torkelnde Christdemokraten. Warum Angie? Die Beste!... Angie is soooo geil! Gute Stimmung, wie Sie sehen können, werte Zuschauer. Noch ein Paar Minuten, nur Geduld. Gleich sind die Matadoren in der Arena. Derweil zu Reporter Jedermann, der steht bei der SPD. Frankie! Frankie! Tolle Atmosphäre. Die Sozialdemokraten sind selbstbewusst. Einen von der Toilette zurückkehrenden Rotschlipsigen am Arm gepackt. Halt, dürfen wir Sie was fragen? Was zeichnet Ihren Kandidaten aus? Franz ist super! Franz is ne ganz feine Kerl! Sie meinen wohl Frank? Frank-Walter?

Schneller Schnitt. Interview mit dem Verleger eines Magazins. Schwarz-Gelb ist mein Traum. Angela Merkel ist mein Traum. Danke für die bildreichen Worte. Vielleicht danach nochmal, wenn Sie wollen. Einige ergreifende Worte des Reporters selbst, berühmter Groschenheft-Moralist. Soziale Gerechtigkeit wird sicher ein zentraler Punkt, soziale Gerechtigkeit ist so wichtig - das schreibe ich selbst immer sonntäglich in meiner Kolumne, meine Damen und Herrn. Bleiben Sie dran, hier bekommen Sie alle Informationen zum Duell. Ah, ich höre gerade, der Mitbewerber betritt das Studio. Schwenk auf den Eintretenden. Er wirkt angespannt. Just in dem Moment schäkert er mit einem der vier Schiedsrichter. Wir bleiben bei Steinmeier, holen aber Psychologe Gernegroß zu uns, der uns die Szenen kommentieren wird. Gelassen sieht er aus. Ein ganzer Mann, strahlt Größe aus, der geborene Staatsmann. Der Anzug ist grau. Grau verdeutlicht Seriosität. Man sieht, er meint es ernst. Danke, Herr Nervendoktor. Seriosität, Sie haben es gehört, meine Damen und Herren. Es ist also kein Schaulaufen, die Farb- und Körpersprache veranschaulicht es uns. Kein Schaulaufen, wie es seit Tagen geunkt wird. Der Herausforderer fordert heraus, er geht richtig ran an die amtierende Titelverteidigerin. Und sein grünes Taschentuch ist Hoffnungsschimmer, nicht wahr, Herr Psychologe? Ach, der ist schon weg, bei den Kollegen vom Privatfernsehen.

Ein wenig Zeit verbleibt uns. Anke, Kollegin im Backstage-Bereich, wo bleibt Frau Merkel? Anke stutzt. Anke, wo ist die Kanzlerin? Anke glotzt. Anke, kannst Du mich... können Sie mich hören? Anke niest. Tut mir leid, wir haben da ein technisches Problem. Nochmals vor den Tempel geistiger Umnachtung, nochmals zu den Menschen vor dem Studio. Was ist bei Euch da draußen los? Ins Mikrofon schreiend: Massen von Menschen hier. Unglaublich! Die Demokratie blüht! Hier eine Gruppe CDU-Anhänger. Was glauben Sie? Angela! Angela! Freudentrunkene Demokraten! Vielen Dank, feiern Sie schön weiter. Sie sehen selbst, hier ist man überzeugt. Kurze Zwischenmeldung: Frau Merkel wird angekündigt. Sobald sie das Studio auch wirklich betritt, schalten wir zu ihr. Frau Dr. Wärgernwer, Sie sind Psychologin. Was meinen Sie, in welchem Outfit die Kanzlerin heute auftritt? Welche Farbe soll den Wählerinnen und Wähler verdeutlichen, dass sie es kann? Blau also! Sehr interessant. Oder rot, meinen Sie? Orange wäre auch möglich! Grün vielleicht. Soso, vielen Dank für diese wertvollen Informationen. Man glaubt ja gar nicht, was Farben alles ausrichten können. Ist sie schon im Studio? Nein? Die Uhr tickt und tickt. Ein bißchen Zeit ist ja noch, deshalb nochmals ein kurzer Einspieler. Steinmeiers Beraterstab wird vorgestellt, zwei unbekannte Glatzköpfe mit Brille. Merkel im Badeanzug, Merkels Leibgericht, Merkel grimassierend. Jetzt sind Sie gerüstet, meine lieben Zuseher. Jetzt wissen Sie alles, was notwendig ist. Ein wichtiger Gast kündigt sich an.

Auftritt Westerwelle. Herr Westerwelle, so kurz vor dem Ereignis, wie fühlen Sie sich? Ungerecht ist es, undemokratisch, ich wäre so gerne dabei. Herr Westerwelle, was würden Sie der Kanzlerin an den Kopf werfen, wenn Sie Steinmeier wären? Das wird ein Platzpatronenduell! Herr Westerwelle, warum glauben... tut mir leid, Frau Merkel has left the backstage! Danke, Herr Wester... und da ist sie auch schon! Siegessicher sieht sie aus. Sie lächelt sogar. Findet Zeit für Witzchen. Eine großartige Sportsfrau, sie gibt Herrn Westerwelle die Hand. Entschuldigung, Herrn Stoiber... Herrn... na, Steinbrü... meier. Sie gibt Meier die Hand. Alle in Position! Gleich wissen wir, wer das Land regieren wird. Passen Sie gut auf, liebe Zuschauer. Hier entscheidet sich Ihr Kreuz. Ein aufschlussreiches Duell, wünsche ich Ihnen. Möge Ihnen Ihre Wahl leichter fallen. Hoffentlich haben Sie sich Chips und Bier ins Wohnzimmer geholt, denn gleich wird es spannend. Tröten hervor! Und schalten Sie hinterher nicht ab, denn wir analysieren exklusiv für Sie den dramatischen Abend. Jetzt müssen wir an unsere vier Kollegen abgeben. Die Zeit ist reif.

Einspieler. Dramatische Musik, Pathos hinter Schwarz-Rot-Gold. Merkel - Steinmeier! Heimrecht Merkel, sie steht an erster Stelle. Wichtigkeitsschwangere Musik, wichtige Mienen diverser Schiedsrichter, jetzt wird Demokratie zelebriert...

14 Kommentare:

Kempec 14. September 2009 um 01:35  

Wie cool!!Ich habe ja kein Deutsches Fernsehen hier, aber nach deiner Wundervollen Beschreibung kann ich mir die "Show" die da abgezogen wird mal wieder lebhaft vorstellen. Es ist doch sicherlich lächerlich wenn die beiden Müll ablassen. Danke für den köstlichen Bericht!

Rainer 14. September 2009 um 07:19  

Bravo, mit tödlich langweiliger Epik genau den Kern der Sache getroffen. Nur sind es nicht der wertvollen Worte zuviel ob dieses Schauspiels?

ad sinistram 14. September 2009 um 07:35  

Sicher sind es zu viele Worte. Aber dann dürfte ich über nichts mehr berichten, bestenfalls nur noch "Alles scheiße!" schreiben, womit der Kern getroffen wäre, aber mein Schreibdrang und der Lesetrieb meiner Leser nicht befriedigt würde.

Geheimrätin 14. September 2009 um 10:08  

Das geniale an dem Affenzirkus war ja vor allem das "Ergebnis": laut der Umfragergebnisse, die ja schon vorlagen, noch bevor das Duett zuende war, lag Steinmeier weit vor Merkel in der Gunst des Publikums, während Merkel jedoch als wesentlich glaubwürdiger rüberkam...

HAL9002 14. September 2009 um 10:48  

Ich glaube nicht, dass dies der Kern wäre. Nach der erneuten, mentalen Vergewaltigung gestern ging mir folgendes durch den Sinn:
1. Fast alle Menschen (vor der Mattscheibe) sind Scheiße
2. Warum ziehen mich diese Doofies da mit rein
3. Warum haben fast alle ein so schlechtes Gedächtnis und warum achten alle nur auf Äußerlichkeiten

Dann bin ich einsam auf der Couch eingepennt, hatte einen Alptraum (ich als Moderator mit Westerwelle und Kauder)
Heute tut mir alles weh und habe eine Scheißstimmung.
Hoffentlich ist die Wahl bald vorbei, damit ich mich wieder über Sachthemen aufregen kann. Im Moment zehrt es nur an meinen Nerven
Glück Auf!

fletcher2 14. September 2009 um 11:23  

Jaaa! Demokratie ist spannend. Hat Spielberg Regie geführt? - Seine Filme waren auch schon mal besser.

Die beiden Hauptdarsteller mußten sich von den Reporterstatisten provokante ;-) Fragen stellen lassen. Jeden Moment rechnete ich mit tätlichen Übergriffen. Doch nichts geschah. Nicht mal eine Werbeunterbrechung als Pinkelpause - noch nicht mal ein happy end für unentschlossene Demokraten. Nur gaaanz am Schluß hat man gesehen, daß die beiden Hauptdarsteller sich mögen - beim Patschehändchenreichen. Ein schönes Paar. Bonnie and Clyde für Germany. Ich plädiere dafür, daß beide einen Osk(c)ar bekommen. Direkt vor die Nase.

Frank F. 14. September 2009 um 13:09  

@ fletcher2

Deren Händchen sind gar nicht so patsche-patsche harmlos. An Frau Merkels und Herrn Steinmeiers Händen klebt u.a. frisches afghanisches Menschenblut ... auch Kinderblut.

Ich frage mich, wo der laute Protest der von Beiden oft gepriesenen internationalen Gemeinschaft bleibt. Von den Hunderttausenden (wenn nicht Millionen) von Protestlern auf den Straßen und Plätzen hier in Deutschland ... in genau dem Land das in der Geschichte oft bewiesen hat, dass es dieses blutige Handwerk besonders gut versteht.

Ein passenderer und vor allem gerechterer Ort für diese TV-Show wäre Den Haag gewesen.

Anonym 14. September 2009 um 17:17  

Die Horde denkt nur für sich selbst!

NRW-Bauern sollen mehr Energiepflanzen anbauen!

Jean Ziegler sagt wer Kinder verhungern lässt ist ein Mörder.
Mütter die Auto fahren. Und die Mitschuld daran ragen, dass die Kinder anderer Menschen verhungern sind Bestien.

Robert Reich 14. September 2009 um 18:14  

TV-Duell? Wenn es nur ein Duell gewesen wäre... Diese Inhaltslosigkeit, dieses Gewäsch. Warum fliegen keine schwarz-rot-goldenen Luftballons herum? Blabla - Weg aus der Krise, gesunkene Arbeitslosenzahlen? Manipulierte Statisken,ja! Man kann diese Vorstellung ja nicht mal als Theater oder Polit-Cirkus bezeichnen. Im Theater oder Circus wird wenigstens noch Leistung dargeboten. Und wie im Blog schon geschrieben wurde: Blut an den Händen! Wenigstens sollten am 27. September ALLE zur Wahl gehen - wenigstens im Ansatz versuchen, mit dem Mittel der Wahl etwas zu bewirken...

otti 14. September 2009 um 19:54  

Treffend auf den Punkt gebracht und in Worte gefasst, die wichtigtuerische Unwichtigkeit gegenseitigem scheindemokratischem Bespritzens mit üblichen inhaltsleeren Worthülsen politischer Propaganda.

Das Event: ein Nonevent.
Überflüssig, unnütz, unnötig.


Nicht sehenswert.
Da guckst Du doch nicht!

Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit wurde uns von den Matadoren in der Arena versprochen. Von Kämpfern neoliberaler Unmenschlichkeit, die gerade mitverantwortlich für den größten Niedergang menschlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens sind.

Daumen runter für solche Leute!

hedera 14. September 2009 um 21:45  

Am 13. habe ich es ein wenig bedauert aber heute bin ich wieder froh, dass ich keinen Fernseher besitze. Sonst wäre ich jetzt genauso sauer wie Ihr, ob der verlorenen Zeit.

Frank F. 15. September 2009 um 08:05  

Diese Farce kommt einem auch hierzulande bekannten dänischen Märchen gleich:

...Die Kammerherren, die das Recht hatten, die Schleppe zu tragen, griffen mit den Händen gegen den Fußboden, als ob sie die Schleppe aufhöben, sie gingen und taten, als hielten sie etwas in der Luft; sie wagten es nicht, es sich merken zu lassen, dass sie nichts sehen konnten.

So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: "Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!" Keiner wollte es sich merken lassen, dass er nichts sah; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht wie diese..."


Da bleibt dann doch noch die Hoffnung:

..."Aber er hat ja gar nichts an!" sagte endlich ein kleines Kind. "Hört die Stimme der Unschuld!" sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte.

"Aber er hat ja gar nichts an!" rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: ,Nun muss ich aushalten.' Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war..."


Ach, kleines Kind! Wo bist Du?

Margitta 15. September 2009 um 09:59  

"Ach, kleines Kind! Wo bist Du?"

Das "kleine Kind" ist wohl der an die Kette gelegte MUT in jedem von uns.

Ich selbst erinnere mich daran, dass ich noch vor gar nicht allzu langer Zeit immer auf andere geschielt und darauf gewartet habe, dass "DIE" doch endlich was tun.

Darauf zu warten heißt jedoch, tausende von Gelegenheiten zu verpassen das zu tun, was nur ICH tun kann.

Anonym 15. September 2009 um 11:50  

Das kommt dabei heraus, wenn deutsche Spießigkeit versucht Medienspektakel ala US Wahlen vorzutäuschen.

Dort gibts halt bischen mehr Geld aus den wirtschaftlichen Interessenverbänden für die Wahl des Wunschkandidaten bzw. der Wunschgesetze. Dann kann man auch bessere und mehr Statisten kaufen.
Mehr Elan seitens der Teilnehmer gibts normalerweise auch.

Hierzulande stinkt der Mief durch alle Ritzen, dort ist der Lack dicker, die Show ehrlicher. Hierzulande ist das nur aufgesetztes Tamtam, dort ist die Show kultivierter Bestandteil.
Dann noch eine Umsetzung durch das verkommene Pack der Schleimspurjournalisten im ÖRF. Das ist so erbärmlich, was dieses Propagandafernsehen auf Kosten des Zuschauers da veranstaltet.
Das schlimmste ist, daß viele "Bürger" meinen das es so schon richtig sein müsste. Das sind die, die sich in der Inhaltlosigkeit und Positionslosigkeit selbst wiedererkennen.

Schmonzettentheater.

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