De dicto

Sonntag, 5. Juli 2009

"Bei uns sitzt man mindestens 15 Jahre, durchschnittlich sind es 17, aber eben nicht lebenslänglich, wie es uns das Wort vorgaukelt.
Dann schon lieber 150 Jahre als Rekordstrafe für einen Rekordbetrüger, selbst wenn es auf den ersten Blick absurd erscheint."
- BILD-Zeitung, Peter Hahne am 5. Juli 2009 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Wieder einmal befleißigt sich die BILD als Rächer im Namen der Gerechtigkeit, wieder einmal steht die bundesrepublikanische Auslegung von lebenslanger Haft zur Diskussion, und wieder einmal muß der übliche Kinderschänder herhalten, um die angeblich zu lockere Haftmoral dieses Landes zu geißeln. Man fühlt sich an gesellige Stammtischrunden erinnert, in denen solche Themen bei Weißwurst und Brezen, hinuntergespült von einem kühlen Weißbier, in die Runde gebrüllt werden. Auch dort wird der Kinderschänder zum Sujet, damit aus juristischer Vernunft, aus den Rückgriff auf die Menschenrechte, eine emotionale und herzergreifende Debatte entstehen kann. Wie kannst Du nur einen Kinderschänder verteidigen?!

Hahne will in seiner sonntäglichen Philippika allen Ernstes erklären, dass fünfzehn Jahre Haft ein Pappenstiel seien, quasi auf einer Backe abgesessen werden können, während im Land der unbegrenzten Möglichkeiten auch unbegrenzte Haftstrafen erlassen würden. Und mit der gleichen Ernsthaftigkeit ist er bemüht zu erklären, dass mit richtigen Gutachtern und teuren Anwälten, die sowieso schon laxe Strafe nochmal ermäßigt wird. Sowas gilt hierzulande sicher für Ackermanns und Zumwinkels, aber für einen Sexualstraftäter sicherlich nicht - einerseits aus Mangel an der nötigen Finanzierung eines teuren Anwalts, andererseits aber auch, weil man der Justiz nicht ernsthaft vorwerfen kann, sie würde mit voller Absicht, um Eltern potenzieller Kinderopfer zu ärgern und in Angst und Schrecken zu versetzen womöglich, Täter zu früh auf freien Fuß setzen. Die richtigen Gutachter, so könnte man Hahnes Deutung von "richtig" erklären, sind solche, die sich ein positives Menschen- und Weltbild bewahrt haben, in dem ein Sünder nicht zwangsläufig bis in alle Ewigkeit mit seiner Sünde durch sein Leben rennen muß, sich bessern kann, eine zweite Chance erhalten sollte. Und solche richtigen Gutachter lassen fürwahr viele gebesserte Charaktere aus der Haft, ohne dass jemals wieder ein Rückfall stattfindet - natürlich gibt es Ausnahmen. Gutachter geben Prognosen ab, sie können nicht in die Zukunft blicken.

Die Möglichkeit einem Straftäter eine zweite, vielleicht auch eine dritte und vierte Chance zu erteilen, ist keine Willkürtat der deutschen Justiz. Sie fußt auf den Menschenrechten, die lebenslange Haft ohne Aussicht auf Resozialisierung und einem zukünftigen Leben in Freiheit, nicht zulassen. Dieses Denken wiederum rührt geradewegs aus den Fundus christlicher Nächstenliebe, in der es von jeher ein Zeichen von tiefer Menschenliebe war, auch den Sündern nicht ewig ihre Sünden vorzuhalten, sie in die Arme zu schließen und wieder an der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Es dürfte ja nicht verwundern, dass sich jene bigotte Tageszeitung über solche Aspekte des Christentums hinwegsetzt, man weiß ja, wie gerne man dort den Papst feiert, über Kirchliches berichtet, aber im gleichem Atemzug gegen vieles wettert, was ein wirklich jesuanisch inspirierter Christ nicht verurteilen dürfte. Es ist eben das Kampfblatt des Klein- und Spießbürgertums, das sich zum ritualisierten Schönwetter- und Sonntagschristentum bekannt hat, und daher nichts weiter als eine Ausgeburt von Bigotterie. Aber wenn sich der Theologe und sich sonst so fromm gebende Hahne so äußert, dann muß man sich fragen dürfen, in welcher Lotterie er sein abgeschlossenes Theologiestudium gewonnen hat.

Was aber die theologische Sophisterei betrifft, das großkotzig geschwungene Wort, das bedeutungsvolle Formulieren von aussagefreien Sätzen und dergleichen, da hat Hahne viel vom Studium profitiert - am Inhalt fehlt es aber... mal wieder. Es ist das Gequatsche eines Laienpfaffen, der viel von Nächstenliebe fabuliert, aber nicht alle Menschen als seine Nächsten betrachtet.

8 Kommentare:

Wolfgang Buck 5. Juli 2009 um 19:14  

Der elementare Unterschied zwischen der deutschen und der amerikanischen Justiz ist der, dass in Deutschland die Haftstrafe als Möglichkeit der RESOZIALISIERUNG gesehen wird; im christlichen Kontext also die VERGEBUNG eine wesentliche Rolle spielt.

In der amerikanischen Justiz spielt dem gegenüber die BESTRAFUNG die entscheidende Rolle. Wirklich lebenslange Strafen oder gar die Todesstrafe geben keinerlei Möglichkeit der Vergebung; geben jedoch den Opfern, wie auch der Öffentlichkeit das süße Gefühl der RACHE.

In unserer auf Konsum und Unterhaltung ausgerichteten Gesellschaft scheint es leider nur noch eine Frage der Zeit, bis sich unser sehr bewährtes Rechtssystem weg bewegt vom Gedanken der Resozialiserung hin zum amerikanischen Rachesystem. Das bietet auch dem populistischen Politiker auf Stimmenfang eine bessere Bühne (vgl. Koch oder Schröder: "Wegschließen – und zwar für immer!")

Wir scheinen uns in allen Bereichen des öffentlichen Lebens immer weiter weg zu Bewegen von den rationalen Ansätzen der Aufklärung hin zu stark emotional geprägten Ansätzen auf Basis von Gier, Rache, Spaß usw. Das ist besonders hart für einen aufgeklärten Atheisten mit katholischer Kindheit wie mich.

Der öffentliche Diskurs basiert heute weniger auf Immanuel Kant als vielmehr auf Dieter Bohlen scheint mir. Da passt auch der "Theologe" Peter Hahne und seine Nähe zu BILD und Merkel recht gut dazu.

klaus baum 5. Juli 2009 um 20:40  

"...der viel von Nächstenliebe fabuliert, aber nicht alle" Tassen im Schrank hat.

Zentral für die Lehre Jesu ist das Motiv der Umkehr. Das vielleicht wichtigste Gleichnis dafür ist das vom "Verloren Sohn".

Andererseits ist die Erfahrung mit Jack Unterweger, der in den Talkshows einst als geglückte Resozialisierung herumgereicht wurde ... und dann nach seiner Freilassung erst so richtig anfing zu morden.

Man darf nicht vergessen, daß wir auf der einen Seite die Notwendigkeit der Resozialisierung haben, daß man Menschen nicht auf eine falsche Tat festnageln darf, und daß auf der anderen seite Resozialisierung immer auch Risiko bedeutet. Aber auch ein Mensch, der bisher durch nichts Böses aufgefallen ist, birgt ein Risiko in sich.

http://www.youtube.com/watch?v=6aN0HOraCp0

Gegen Hahne wäre zu sagen, daß dem NT 1 Sünder lieber ist als 99 Gerechte. Und Hahne gehört mit Sicherheit zu den Selbstgerechten.

Anonym 5. Juli 2009 um 23:17  

@Klaus Baum

Im Sommer-Interview mit Horst Köhler hat Hahne den richtigen im ZDF gefunden - Horst Köhler (auch so ein Christ - pfui deibel) vertrat vom Sozialrassismus bis zum Antikommunismus so jedes Klischee in seinem Sommerinterview, und Hahne leistete dabei - im öffentlich-rechtlichen ZDF! - sogar noch Flankenschut.

Ja? Wo leben wir denn!

chriwi 6. Juli 2009 um 07:32  

Tja diese Forderungen gab es schon im alten Griechenland. Es hat sich schon damals gezeigt, dass das Grundproblem ja nicht gelöst wird. Bei den meisten Sexualstraftätern kann man die Strafe so hoch ansetzen wie man will. Es würde sich nicht viel ändern, weil sie Triebtäter sind. Nur eine Therapie wäre möglich.
Da man bei der Bild Zeitung so etwas wie differenzieren nicht kennt verstehen diese Leute solche Gesichtspunkte nicht. Wie wäre es denn mit lebenslänglich für schlecht recherchierte, diskriemnierende, reißerische Artikel? Dann wären wir ihn los den komsichen Hahne.

wilko0070 6. Juli 2009 um 10:51  

"Wie kannst Du nur einen Kinderschänder verteidigen?"

Ein ähnliches Totschlag-"Argument" kenne ich noch aus DDR-Zeiten. Nur hieß es dort auf jegliche Kritik am System "Aber du bist doch auch für den Frieden?"

klaus baum 6. Juli 2009 um 10:59  

Ich hatte gestern geschrieben:

>>Aber auch ein Mensch, der bisher durch nichts Böses aufgefallen ist, birgt ein Risiko in sich.<<

Dann ist mir am Abend Otto Schily eingefallen. Menschen, die nicht vorbestraft sind, entfalten - wenn sie Macht erhalten - das Potential des gefährlichen Irreseins.

klaus baum 6. Juli 2009 um 11:25  

Der Fall Jack Unterweger als Theaterstück. Dazu heute die taz.

>>Aber diese Faszination (an Unterweger; kb) ließ sich auch sozialpädagogisch legitimieren, erwies sich in Unterweger ja scheinbar die läuternde Kraft der Kunst. Ein Killer, der zu dichten beginnt und ein besserer Mensch wird. Bald gilt Unterweger als Exempel gelungener Resozialisierung. Elfriede Jelinek, Günther Nenning, die gesamte Creme des Geisteslebens setzte sich für seine Freilassung ein.<<

Wähler 8. Juli 2009 um 13:21  

Was mich außer dem hier bereits Gesagten noch beunruhigt ist die Tendenz, alles anzugreifen bzw. in Zweifel zu ziehen, was mit den Werten der Aufklärung zu tun hat, weil es die Möglichkeit zum Missbrauch gibt.

Alle Bürgerrechte, die Freiheit und Selbstverantwortung beinhalten, können natürlich auch von einzelnen missbraucht werden. Nur der (Kurz-)Schluss, der daraus gezogen wird ist fatal, nämlich lieber die Rechte zugunsten der "Sicherheit" über Bord zu kippen.

Solche wunderbaren Institute wie die "Verdachtskündigung" im Arbeitsrecht, die mal eben im Vorbeigehen den Grundsatz der Unschuldsvermutung bis zur Verurteilung aushebelt, sind wohl erst der Anfang.
Freuen wir uns also auf eine doppelplusgute Gesellschaft!

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