Alter schützt vor Torheit nicht

Donnerstag, 1. Mai 2008

Der Stern lud den ehemaligen Bundespräsident Roman Herzog zum Interview. So eine Gelegenheit kann sich Deutschlands ranghöchster Lobbyist nicht entgehen lassen. Gehörig schlug er dort die Propagandatrommel für seine vielgepriesene "Reform der Reformfähigkeit", der an den Schreibtischen seines "Konvents für Deutschland" entworfenen Maxime, die die Menschen zu willigen Reformopfern machen soll. In der üblichen reformistischen Blut-Schweiß-und-Tränen-Manier spricht er den Bürgern Mut und Opferbereitschaft zu, erklärt die Notwendigkeit eines steinigen und entbehrungsreichen Weges. Überhaupt zum "Konvent für Deutschland": Auf den ersten Blick könnte man es für einen Fortschritt in der journalistischen Berichterstattung halten, dass man Herzog mit diesem Konvent in Verbindung bringt. Dies wurde oftmals in der Vergangenheit vertuscht, um den durch seine ehemaligen Ämter zur Seriosität gelangten Christdemokraten, nicht in ein falsches, d.h. ins rechte Licht zu rücken. Liest man aber weiter, wie der Stern den Konvent mit der Altersweisheit renommierter Altpolitiker in Verbindung bringt, somit diesem Think Tank zu einem objektiven, moralisch einwandfreien, partei- und wirtschaftsunabhängigen Ruf zu verhelfen, dann wird schlagartig klar, dass die Konfrontation Herzogs mit diesem verkappten Interessensverband sicher keine kritische Komponente beschwört.

An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, Herzogs rhetorische Kunststückchen genauer zu durchleuchten, seine Verdrehungen und Blindheiten Satz für Satz zu zerlegen. Sicher ist er nicht als Deutschlands begnadetster Lobbyist einzustufen. Doch seine früheren Ämter brachten ihm ein Höchstmaß an Reputation ein; ein Maß, welches hierzulande sonst kein Lobbyist für sich beanspruchen kann. Gerade wenn man einer Person soviel Vorab-Vertrauen schenkt, ist Skepsis geboten; gerade dann ist jeder Satz genauestens zu lesen:
"Unser Problem ist ja, dass fast zu allen wichtigen Fragen die beiden großen politischen Lager fast gleich stark sind. Das heißt: Mal gibt es bei den Bürgern eine Mehrheit von 51 zu 49 Prozent und dann wieder eine von 49 zu 51 Prozent. Das sorgt zwar für maßvolle Entscheidungen, aber es verhindert mutige Entscheidungen, weil jedes Lager dabei befürchtet, der anderen Seite zu einer klaren Mehrheit zu verhelfen."
Gezielt spricht Herzog hier von Mehrheiten der "beiden großen politischen Lager", läßt gekonnt die drei anderen großen Parteien unter den Tisch fallen - gerade so, als gäbe es sie nicht. Dabei suggeriert er, dass zwischen Union und SPD ein qualitativer Unterschied faßbar wäre, den die Bürger auch als solchen begreifen. Allerdings - und das scheint in der herzogschen "Analyse" keine Rolle zu spielen - können bei Wahlergebnissen von teilweise weit unter 40 Prozent, die beiden großen Parteien nicht mehr von Mehrheiten sprechen, es sei denn, man geht a priori von einer Einheitsfront, d.h. Großen Koalition aus. Nebenher existiert in Herzogs Szenario kein Wählerschwund; kein Wort davon, dass z.B. die "37 Prozent-Mehrheit" der hessischen CDU, gemessen an der Zahl aller wahlberechtigten Bürger, eine "24 Prozent-Minderheit" ist. Wenn er schon von Mehrheiten sprechen will, sollte er sie am Heer der Nichtwähler festmachen.

Freilich gehört es zur Sophisterei, dass man einfache Fälle konstruiert, die einleuchtend wirken. Und gerade ein Lobbyist, der für Reformen eintritt, die am effektivsten mit den beiden Volksparteien umzusetzen sind, teilweise schon umgesetzt wurden, muß sich dieser Einfachheit bedienen. Der Leser soll glauben, dass es einen Widerstreit der beiden Großen gibt. Schließlich soll er bei jeder Wahl glauben, er hätte dieselbige. Es muß ihm auch klar werden, dass nur das "Angebot" - ich spreche hier gewollt im Singular - von CDU/CSU und SPD umsetzbar ist. Die im Interview erläuterten Mehrheiten, zielen nur darauf ab, trotz einbrechender Wahlergebnisse und besorgniserregenden Wählerschwundes, den Primat der großen Parteien rhetorisch aufzuwerten, eine Wahrheit zu entwerfen, in die sich die Bürger ohne Widerworte hineinversetzt fühlen. Ein Primat der beiden Volksparteien, der das Primat wirtschaftlicher Interessen ist; der Primat derjenigen, für die Herzogs "Meinungsmacher-Vereinigung" arbeitet.
"Der Druck der Weltwirtschaft hatte hier eine positive Wirkung. Die Wirtschaft zeigte sich offen für neue Ideen. Aber in der Politik hat sich sehr wenig getan. Die politische Maschinerie ist an vielen Punkten unverändert blockiert."
Von welchen Ideen er spricht, bleibt hier schleierhaft. Doch hinter den ersten beiden Sätzen verbirgt sich die ewige Mär der Reformer: der "Mythos der Globalisierung". Stets heißt es in diesem Phantasiekonstrukt, dass die Globalisierung die Neuheit, quasi der letzte Schrei der Weltgeschichte sei; nie vorher hätte die Welt miteinander so im Handel gestanden, wie es heute der Fall ist. Dieser "neueste Schrei" verlangt natürlich eine besondere Gesetzgebung, denn jede vorherige sei mit dieser Neuheit noch nicht konfrontiert gewesen. So rechtfertigen die Reformer den Sozial- und Demokratieabbau. Die Lockerung des Kündigungsschutzes z.B. geschieht somit nicht aus egoistischen Selbstverständnis der Unternehmen heraus, sondern weil der "Druck der Weltwirtschaft" dies abverlange. Dass junge Menschen sich nicht mehr trauen, eine Familie zu gründen, weil man ihnen jegliches Fundament der Sicherheit untergraben, nicht selten gänzlich abgetragen hat, bewertet Herzog als "positive Wirkung". Auch das Daraufhintrimmen der Gesellschaft, Menschen nach einer Kosten-Nutzen-Kalkulation zu bewerten, womit bestimmte Leistungen im Gesundheitswesen aus Wettbewerbsgründen - wir sind ja schließlich im Widerstreit mit der ganzen Welt, sprich: die Globalisierung nötigt uns dazu! - gestrichen werden. Kurz: Der Abbau von sozialen Errungenschaften gilt in Augen dieses entrückten Herrn, als positives Zeichen, als Ausdruck vorbildlicher Reformiererei. Und dann fragt er sich ratlos, warum die Menschen keine Lust mehr auf Reformen haben...

Bezeichnend auch die beiden folgenden Sätze, in denen er verbittert festhält, dass die Politik sehr wenig getan habe. Immerhin soll niemand glauben, dass die bitteren, oft sehr schmerzhaften Reformen der letzten Jahre, das Ende der Fahnenstange bedeute. Freilich sind noch nicht alle angestrebten Reformen der neoliberalen Think Tanks umgesetzt. Daher ist die "politische Maschinerie" blockiert, weil sie weitere Reformen blockiert oder nur halbherzig - aus der Sicht der Reformer - umsetzt.
"Die politischen Ansatzpunkte von Union und SPD sind zu unterschiedlich. Da liegt der Konflikt immer gleich um die nächste Ecke. Hinzu kommt, dass erhebliche Gärungsprozesse auch innerhalb der Parteien ablaufen. In jeder Partei gibt es doch zwei Parteien. Eine, die schon kapiert hat, dass sich viel ändern muss, und eine, bei der diese Erkenntnis noch dauert."
Es ist wichtig für die Lobbyisten, immer wieder den Unterschied zwischen den beiden Volksparteien herauszuheben. Nichts könnte der eigenen, d.h. reformistischen Sache mehr Schaden zufügen, als ein Bewußtwerden der Massen, in einem alternativlosen Parteiensystem zu leben, in dem sich Parteien durch Namen und Farben unterscheiden, nicht aber in den Inhalten. Mit wohlbedachter Dreistigkeit wird verdrängt, dass es einst eine regierende SPD war, die die Reformen umsetzte, welche die Union als Oppositionsfraktion forderte. Zum ausführenden Laufburschen degradiert, lief die deutsche Sozialdemokratie den Forderungen der Konservativen im vorauseilendem Gehorsam nicht nur hinterher, sondern geradezu voraus.

Fragen muß man sich auch über das demokratische Verständnis Herzogs, wenn er einen Widerstreit verschiedener Ansichten, so wie es in demokratischen Parteien zuweilen der Fall ist bzw. sein sollte, zu einem Mißstand erklärt, der die Schuld trage an der mangelnden Reformfähigkeit und -bereitschaft. "Gärungsprozesse" nennt er sowas und schwadroniert dabei um die "einzig geltende Wahrheit", die noch nicht alle Parteiflügel erfaßt hat. Dahinter schimmert Herzogs Verächtlichkeit gegenüber der Demokratie hervor, die für ihn einen Zustand der Schwäche darstellt, weil sie den verschiedenen Ansichten Raum und Geltung verschafft, keine einheitliche Front präsentiert, ständig mit Widerworten zu kämpfen hat.
"Wenn es richtig ist, dass sich das Wissen der Menschheit alle zehn Jahre verdoppelt, dann hat es sich seit 1945 vervierzigfacht. Das kann die Schule nicht vermitteln. Sie versucht es dennoch, indem sie die Kinder wahnsinnig mit Stoff belastet. Mit der Folge, es wird zu wenig erklärt und zu wenig eingeübt. Am Ende steht, dass die Kinder in der Schule eine Menge hören, es aber nicht mehr wissen, wenn sie aus der Schule kommen. Das ist der entscheidende Punkt: Es kommt nur darauf an, was die Kinder am Ende wissen. Unter diesem Gesichtspunkt bringen wir den Schülern nicht zu wenig bei, sondern zuviel."
Woher Herzog die fadenscheinige Erkenntnis hervorholt, wonach sich das Wissen der Menschheit pro Dekade verdoppelt, kann hier nicht nachvollzogen werden. Aber mit solchen drastischen Worten läßt sich trefflich Stimmung erzeugen. Damit rechtfertigt er seine Abkehr vom humanistischen Bildungsideal und wirbt ziemlich offensichtlich für eine "pragmatische Bildung": eine eigentliche Ausbildung, eine Form der Heranzucht an wirtschaftliche Verhältnisse, die sich an den Notwendigkeiten der Unternehmenswelt zu orientieren hat. Herzog sagt damit: Unnötiges Wissen kann verworfen werden, solange die jungen Menschen das lernen, was sie später im Beruf brauchen. Der Mensch hat sich im Weltbild Herzogs also fortan an den Notwendigkeiten seiner Tätigkeiten zu orientieren, soll nur lernen, was zur Profitmaximierung beiträgt. Nebensächlichkeiten sind irrelevant. Damit schlägt er in die bereits blutende Wunde, die sich heute im Abbau geisteswissenschaftlicher Disziplinen an den Universitäten niederschlägt. Und unwillkürlich fühlt man sich an die Worte Himmlers erinnert, der meinte, man müsse den Polen - der Sklavenklasse der Zukunft - lediglich das Zählen beibringen, denn dies sei für ihre Arbeit im Dienste des Reiches durchaus ausreichend.

Der neue Typus Mensch, so wie ihn sich Roman Herzog zusammenphantasiert, soll eine Funktion bekleiden, soll in dieser Funktion unschlagbar kompetent, aber generell ungebildet sein. Da er nur im Hier und Jetzt seines Arbeitsalltags lebt, braucht er keine höherwertige Bildung außerhalb seines Bereiches. Mündig im Produktionsprozess, unmündig in seiner Rolle als zoon politikon! Dieser Irrweg Herzogs führt geradewegs zum orwellianischen Menschentypus und gereicht der Gesellschaft aus Huxleys "schöner neuen Welt" zur Ehre, postuliert die absolute Mobilmachung des Menschen für seinen Herrn - den Wirtschaftsapparat.
"Es muss jetzt wieder ein neuer Generationenvertrag zustande kommen. Der von 1957, bei dem die Jungen den Alten ein sicheres Leben garantiert haben, funktioniert nicht mehr. Jetzt müssen die Alten den Jungen versprechen: Wir werden unser politisches Gewicht an der Wahlurne nicht missbrauchen, um uns Privilegien zu sichern."
Dass der Generationenvertrag von 1957 nicht mehr funktioniert, entstammt ebenso dem kanonisierten Märchenbuch der Reformer. Nur indem man die staatliche Umlagefinanzierung diskreditiert, sie kontinuierlich madig macht, öffnet man die Tore zur Privatrente und zur horrenden Profitmaximierung der Versicherungsunternehmen. Als Lobbyist hat sich Herzog auf solche axiomatischen Aussagen zu stützen, die nicht weiter erläutert werden müssen. Die Behauptung bedarf keiner Erklärung und Darlegung, sondern steht isoliert im Raum. Es sei ja "hinlänglich bekannt", "zweifelsfrei erwiesen" und "jedermann wisse es auch", dass die staatliche Rente ein "Auslaufmodell" ist.

An den Kopf fassen muß man sich beim letzten Satz. Die älteren Menschen dieses Landes haben also den Jungen zu versprechen, so zu wählen, wie es die Jungen gerne hätten. Erneut spiegelt sich das kuriose Demokratieverständnis des Roman Herzog wider. Zwar will er, gütig wie er ist, den Senioren das Wahlrecht nicht mehr entziehen - vormals äußerte er sich ja in diese Richtung -, aber sie hätten so abzustimmen, dass es der privaten Versicherungswirtschaft nicht schadet. Natürlich ersetzt er den Begriff "private Versicherungswirtschaft" durch "Junge", denn zuviel Offenheit kommt beim Bürger auch nicht an, selbst wenn Herzog in der Folge das krasse Gegenteil davon behauptet. ("Mein Rat ist: Schonungslose Klarheit. Nur so können sie Vertrauen aufbauen.") Man ist wirklich geneigt, Herzog einen klaren Verstand abzusprechen, wenn er Wählern die moralische Pflicht auferlegen will, nicht nach ihrem freien Willen, nach ihren Belangen zu votieren, sondern nach dem, was ein alter Mann - der in dekadenten Adelskreisen verkehrt, weil er in ein Schloß hineingeheiratet hat, zudem einen Konvent ausrangierter Politikerentwürfe leitet, welcher Sozialabbau zur Maxime erkoren hat - in seinen Tagträumen als Weisheit letzter Schluß deklariert.


Kritische Textstellen gäbe es einige mehr. Es ist angsteinflössend, wie man doch mit wenigen Zeilen derartig viel Verqueres, Manipuliertes und Schöngeredetes an die Leser weitergeben kann. Der Stern reiht sich erneut ein in die Riege der Steigbügelhalter, stellt biedere Fragen, die Herzog recht in Szene setzen, greift Schwammigkeiten nicht auf, um Herzog festzunageln. Was man hier "Interview" nennt, ist die Selbstbeweihräucherung Roman Herzogs mit der freundlichen Unterstützung des Stern. Und so beendet der Stern in unnachahmlicher Devotion mit der Frage, ob denn die Bürger Angst vor der Freiheit hätten, weswegen sie keine Reformen (mehr) wollen. Die Angst vor Sozial- und Demokratieabbau anzusprechen, hätte die schöne Selbstdarstellung des ehemaligen Bundespräsidenten versaut.

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP