Der gestrige Mensch und seine metaphysische Revolte

Mittwoch, 27. Januar 2016

Wie gesagt, er konfrontierte mich mit seiner Meinung: Für ihn sei Multikulti gescheitert. Es funktioniere einfach nicht, daher müsse man sich davon als Ideal verabschieden. Es war eine Lebenslüge. Ich sah ihn an, fragte ihn, welche Alternativen es denn gäbe und folgerte, dass es bei den Deutschen immer so einen Hang gäbe, sich gegen Gemachtes, schon längst Unabwendbares, ja gegen die nicht mehr veränderbaren Entwicklungen auf Erden, mit sonderbarer Blindheit aufzulehnen. Ob Multikulti gescheitert oder gelungen sei, sei doch völlig zweitrangig. Es ist die Realität in einer Welt, die immer mehr zusammenrückt, die globalisiert Geschäfte abwickelt und die per Tastenklick einem globalen Provinzialismus fröne. Es gehe doch schon seit Jahrzehnten nicht mehr um das Ob oder »Ob-nicht«, nicht um das »Wollen-wir« oder das »Nein-lieber-nicht« – nur noch das Wie ist von Bedeutung. Moderne Gesellschaften seien nun mal multikulturell und multiethnisch.

Mit Camus könnte man sagen, dass da der konservative Deutsche in die Revolte eintrete. Und zwar in die metaphysische Revolte, in einen Aufstand gegen das Gemachte und Finale. Wir müssen uns vielleicht Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Den Meier oder Müller hingegen als traurige und unglückliche Gestalt, die Felsen händisch wälzt, wo der Lastenaufzug schon längst erfunden wurde. Er findet sich mit den Entwicklungen, die die moderne Welt generiert, nicht ab, erklärt für gescheitert, was gar nicht mehr zur Bewertung taugt, weil es hinzunehmen ist. Richard David Precht sagte kürzlich, dass die Globalisierung eben nicht abgeschottet zu haben sei und uns die Flüchtlinge »Willkommen im Leben« entgegenrufen. Dem kann man nur zustimmen. Multikulturalität ist kein Gesprächsgegenstand, über den man noch in dem Sinne befinden könnte, ob wir das wollten oder eben nicht. Sie ist das Los dieser Erde, die Durchmischung von Völkern und Nationen ist die logische Folge einer Welt, die sich vernetzt und sich so zu einem größeren Dorf entwickelt hat.

Der Kultursoziologe Arjun Appadurai distanzierte sich schon in den Achtzigerjahren von der klassischen marxistischen Bewertung, dass Waren alleine die Determinanten sozialer und gesellschaftlicher Verhältnisse seien (»The Social Life of Things«). Auch Dinge seien selbst Akteure. Auf die globalisierte Welt gemünzt, ergibt diese These, dass es eben nicht nur die Infrastruktur ist, die »um die Welt geht«, sondern auch die Suprastruktur, der Bereich der Ideen und Formen. Das ist ein Grund für die Zukunftsträchtigkeit multikultureller Gesellschaften. Wer glaubt, dass Globalisierung nur bedeutet, einfach Rohstoffe und Waren von A nach B und von B nach A zu schicken, der nimmt das Phänomen nur begrenzt wahr. Für Appadurai ist Globalisierung ein zirkulierender Strom sozialer Formen. Daher lassen sich Handel und dessen soziale Folgen nicht sauber voneinander scheiden.

Der metaphysische Widerstand gegen Multikulti erinnert mich an jene Stimmen, die ich bei vielen Menschen zuweilen höre, die den Jahrgängen jenseits der Fünfzig angehören. Sie beklagen sich zuweilen, dass der Einzelhandel stirbt, die Innenstädte verwaisen, weil die Menschen gezielt den Internethandel nutzen. Nun kann man die Menschen dafür sensibilisieren und ihnen sagen »Kauft nicht beim Online-Händler!«, aber das widerspricht der allgemeinen Entwicklung. Mit frommen Belehrungen ändert man die Zeichen der Zeit nicht. Es ist ein antimodernistisches Hadern, ein metaphysisches Widerstreben gegen eine Veränderung der Lebensrealität, gegen das gute alte Gestern, an das man gewohnt war. Natürlich werden Innenstädte sich modifizieren. Tun sie ja heute schon. Den Konsum aber online vereinfacht und bequemer gestaltet zu haben, wird man mit moralischer Einstufung des Phänomens nicht einfach aus der Welt schaffen. Man kann faktisch über diese Entwicklung gar nicht mehr verhandeln, weil sie da ist und angenommen wurde und noch verfeinert wird und sich fort und fort entwickelt. Wer zurück will, der sehnt sich nach einer Welt, die es nicht mehr gibt, die es nur wieder geben kann, wenn das Netz irreparabel zusammenbricht.

All die Stimmen, die Multikulti für gescheitert erklären oder die Straßen füllen mit ihren Parolen gegen Ausländer, tönen im antimodernistischen Blues. Sie glauben aus unerfindlichen Gründen, dass sie mit ihrer isolationistischen Haltung die Dynamiken dieser modernen Welt aufhalten können. Wenn man Mauern und Zäune errichtet, so denken sie, dann kann die Welt und das Land so bleiben, wie es immer war. Man konserviert sich die Erinnerung an eine Wirklichkeit, wie sie vor Jahrzehnten mal war, aber nicht mehr sein kann in unseren Tagen. Es sind insofern wirklich ewiggestrige Stimmen, die sich gegen die multikulterelle Gesellschaft stellen. Wer metaphysisch revoltiert, fällt aus seiner Zeit, zieht eine Schnute und tut so, als würde das etwas nützen, als würde »der Weltgeist« diese infantile Haltung zur Kenntnis nehmen und einlenken, gleich darauf schuldig bekennen, dass alles so bleiben kann, wie es sich »sein unzufriedenes Publikum« wünscht. Plus die Vorzüge natürlich, die die vernetzte Welt für uns gezeitigt hat. Denn man will ja nur nicht multikulti sein, multikonsumistisch hingegen schon.

Es braucht einen gesunden Fatalismus in gewissen Entwicklungen unserer Epoche der Menschheitsgeschichte. Der »ethnisch reine Gesellschaftsentwurf«, einer weitestgehend homogenen Bevölkerung, ist schon seit Jahren dahin. Völkerwanderungen gab es ja ohnehin schon immer. Die globalisierte Welt schafft diese menschliche Konstante nicht etwa ab, sondern forciert sie. Sie erzeugt Einwanderungsländer und -gesellschaften. Die Mobilität zwischen Ethnien und Kulturen ist unabänderbar in einer solchen Weltordnung. Wer das nicht will, muss nationale Volkswirtschaften und Mangelökonomie in Kauf nehmen und darf nicht mit stolzer Brust von deutschen Waren in der Welt, von Exportweltmeisterschaft und Marktführerschaft schwelgen. Der sollte glücklich sein, ein provinzielles Landei zu sein, ohne Ansprüche auf exotische Früchte, Erdöl und Urlaub auf Bali.

Dass eine multikulterelle Gesellschaft immer einfach zu regieren ist, dass es sich ohne Probleme darin leben lässt, heißt das alles deshalb noch lange nicht. Man muss es regeln, muss Toleranz und Gelassenheit lernen und selbst jegliche leitkulturelle Attitüde ablegen. Aber ob wir das wollen oder nicht, es ist nun mal so. Hört auf zu jammern!

4 Kommentare:

Alles nur Satire 27. Januar 2016 um 09:09  

Tja, alles wieder mal gesagt, sehr deutlich und entsprechend zum Nachdenken anregend.
Ich bin selbst Mitte 50, habe für die Auswüchse des Internets (FB, Twitter, Amazon, Zalando, Gaming), nichts übrig, nutze diese „Angebote“ nicht.
Der Ausdruck „Multikulti“, die vereinfachend postulierte, als einzig gültige Wahrheit verpackt und von „ewig gestrigen“ dankbar angenommene These:„Multikulti ist gescheitert“, konnte ich noch nie ernst nehmen. Zu platt, lächerlich, eindimensional.
Jeder, der diese Sätze wiederkäut versteht diese Worte doch nur als Bestätigung führender Politiker dieses Landes für seine eigene irrationale Ablehnung alles Fremden.
Ich nenne es das „ deutsche Kraldenken“ und benutze dieses Wort gerne bei passender Gelegenheit.
Das jemand wie Herr Precht ähnliche Äußerungen kürzlich tat, die meine Einlassung, die ich bereits seit einiger Zeit in Blogs und Kommentaren gerne anführe, nämlich: „Die Flüchtlingswellen, die jetzt über Deutschland und Europa hereinbrechen, sind nur Teil II der Globalisierung.“, erfreut mich. Ganz so dumm und abwegig können meine Gedanken vielleicht doch nicht sein.
„Multikulti“ sehe ich persönlich ganz und gar nicht als gescheitert an. Das „Miteinander und Nebeneinander“ unterschiedlicher Lebensgewohnheiten von unterschiedlichen Menschen, darf nicht mittels „Leitkulturen“ in nationalistische „Förmchen“ gepresst werden. Einen Anspruch auf „Leitkultur“ zu erheben, ist per se eine Unerträglichkeit und sollte in einer angeblich aufgeklärten Wertegesellschaft gar nicht ausgesprochen werden.
Gescheitert dagegen ist „neoliberal“, zum Scheitern gebracht wurde ein Sozialstaat, dessen Aufgabe es einst war, alle seine Bürger in ausreichendem Maße abzusichern, zu versuchen, „Gleichheit, gerechte Chancenverteilung“ so weit es möglich und verträglich war, herzustellen.
„Leben und leben lassen“ wäre eine gute Alternative zu „Leitkultur“.

Reinard 27. Januar 2016 um 11:11  

Revolt-e. Ausser der Quengelei über ein paar Schreibfehler fällt mir nichts weiter ein. Es ist so, wie beschrieben. Die Frage ist vielmehr, warum das dem Bürger so eindeutig nicht vermittelt wird. Das wäre ja möglich. Wer richtiger- und vernünftigerweise sagt "wir schaffen das" muss außer dem wie? eben auch das warum? erklären.

Es ist schon sehr mühsam, die Realität als solche zu akzeptieren, insbesondere wenn man selbst mitgewirkt hat. Das immer wieder zu beschreiben ist darüber hinaus frustrierend. Aber alternativlos ;-)

Anonym 27. Januar 2016 um 14:39  

Es gibt wenige Dinge, für die es nicht gelten würde, dass der langsame, sanfte und rücksichtsvolle Weg nicht der bessere wäre.Final gesehen, bleibt deiner Vision vielleicht keine Alternative. Prozessual gesehen schon. Man hat heute den Eindruck, dass der vormalige Intellektuelle, der den Gang der Welt, ihre Geschichte aus der marxistischen Vision heraus gelesen hat und es dem Subjekt der Geschichte, dem Arbeiter dargestellt hat, ihm dargestellt hat, was die Automatik der Geschichte für ihn vorgesehen hat, dass dieser heute wieder auftaucht. Aus der Innenperspektive des Subjekts der Geschichte heraus stellte sich dies alles natürlich anders dar. Aber wer gab schon etwas darauf, was kümmerte die Existenz des Einzelproletariers gegenüber dem Gang der Welt? In der Tat war diesem Gruppenprojekt das klägliche Scheitern zugedacht, entgegen aller Automatik. Deren Verkünder verkriechen sich mehr oder minder in die verbleibenden Restplätze mit Niveau, die der Neoliberalismus hält noch zur Verfügung stellte. Das Subjekt der Geschichte wandelte sich. Nun begann es rechts zu wählen. Siehe da, da meldeten sich die Automatikkenner zurück: die gegängelten des Neoliberalismus sind alles Rechtsradikale, Ausländerfeinde und Ewiggestrige, die einen fixen Lohn wollen. Der Bruch war vollzogen. Auf der einen Seite balsamisierte man sich mit allen möglichen Moralversionen ein, auf der anderen Seite darbte man in vorgegaukelten Politikoptionen, die allesamt auf das gleiche hinaus liefen und laufen. Der Multikulturalist ist ja auch in der Regel einer, der das Multikulti von der Diversifizierung des Restaurantangebotes kennt. In den soliden Wohnvierteln, in denen er wohnt, bleibt man aus finanztechnischen Gründen ethnisch eindimensional. Er genießt also die langsame, sanfte und rücksichtsvolle Variante. Sie wird nicht etwa im Wohnbau plötzlich als H. gehandelt, weil sie kein Kind mehr ist, keine Ehefrau und kein Kopftuch trägt. Ist das etwa toll, als H. gehandelt zu werden? Nicht nur, in der offiziellen Diktion gibt es das auch gar nicht. Der Vorfall ereignet sich nicht, obwohl er sich ereignet. Der Multikulturalist von heute hat es sich bequem eingerichtet. Wie vormals kennt er die Zukunft, während das Subjekt, der im ethnischen Wirbel lebende, sie noch nicht kennt und an den Reibungsflächen zu Leben hat. Der Multikulturalist ist auch feige. Kniet er doch plötzlich vor den meisten Praktiken nieder, wenn sie nur sagen, sie seien Kultur und Tradition. Da vergilbt die Strebung nach Befreiung, gleichen Rechten und gleichen Lebensmöglichkeiten alsbald zu einer neuen Frömmigkeit gegenüber dem Kulturellen. Bei dir geht die Frau auf der Straße zwei Meter hinter dir? Und sie darf dich in der Öffentlichkeit nicht kritisieren? Wow, so tolle Kulturphänomene gibt es doch. Du findest die Religion als Kind von Aufklärung, Moderne und Postmoderne als belanglos und im Fälle der Übertreibung in der Geltungskradt als lächerlich? Aber wenn du den Islam lächerlich findest bist du ein Rassist! Das Christentum darfst du aber lächerlich finden! Natürlich!

Anonym 27. Januar 2016 um 14:39  

Es fehlen in dieser Situation nach vielen Richtungen Einfühlung und Rücksicht. Und vor allem Konsequenz. Stattdessen hechelt man dem Pöbel zu, er solle ja nicht einem Stereotyp verfallen. Oder einem rechten Rattenfänger auf den Leim gehen. Denn dann hapere es offenbar an der Moral. Unmoralisch ist er dann, der Pöbel. Da kann man gelassen den Stereotyp ausfahren. Man braucht da nicht weiter die einzelnen Kontexte zu differenzieren, es ist doch immer das gleiche mit diesem Pack. Es ist offenbar das Pack, das fortwährend Gegenstand transindividueller Veränderungen ist. Die Knetmasse der Wortführer und Weltveränderer. Die Anpassungszeiten werden knapp gehalten, Fehlanpassungen sofort puniert. War das Pack früher zu lahm, zu lahm für die Revolution,ist es heute zu aktiv, falsch aktiv. Zu lahm ist es immer noch, es arbeitet ja schließlich zu wenig und will dafür immer zu viel.
So fließt doch in neuen Schläuchen alter Wein allzu oft noch. Der bequeme moralische Standpunkt ist heute das Vehikel, vormals war es die Geschichtsautomatik, mit der die Belehrung vollzogen wurde.
Der Fortschritt ist ausgeblieben.

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