Herrgott, Maria!

Freitag, 30. Oktober 2015

Aus der Schüssel, die sie auftrug, dampfte es wie aus einem Fjord. Er hatte den ganzen Tag frei gehabt und keinen Handstrich im Haushalt getan. Erst schlief er bis fast zur Mittagsstunde, dann hockte er sich für einen langen Schiss auf den Abort und zu guter Letzt ließ er sich von seiner Frau bekochen und bedienen. Nun bekochte sie ihn bereits zum zweiten Mal an diesem Tage und bereitete das Abendmahl. Es war sein letztes Abendmahl, denn ab morgen würde er wieder mal für einige Wochen außer Haus leben.
   »Ich werde dann noch rüber zu Zac gehen«, sagte er ihr.
   »Du bist immer weg. Entweder treibst du dich mit deinen Kerlen herum oder du gehst zu Zac.«
Sie klang wie jemand, der sich zurückgesetzt fühlte.
   »Ich habe heute meinen freien Tag. Verdirb mir also nicht meine Freude. So spät werde ich ja auch nicht zurück sein.«
   Er schöpfte sich was von der Suppe in seinen Teller und fing an sie zu schlürfen.
   »Wird sie auch dort sein?«
   »Wen meinst du?«
   »Sie. Du weißt genau, wen ich meine.«
   »Maria? - Keine Ahnung.«
   »Natürlich wird sie dort sein. Sie ist immer dort. Ganz nah an den Jungs.«

Er schlürfte weiter und äugte argwöhnisch zu ihr herüber. Was würde jetzt wieder von ihr kommen? Sie aber fuhrwerkte noch am Herd herum.
   »Was soll denn das heißen?«
   »Was das heißen soll? Sie ist eine Nutte. Dort macht sie ihre Geschäfte.«
   »Woher hast du denn das?«
   »Die Leute im Ort sagen das alle. Jeder sagt, dass Maria eine ist, die für Geld an Männern herumlutscht.«
   Er schöpfte sich nach und sie legte den Lappen weg und stierte ihn an.
   »Es wird viel geredet, Baby. Ich glaube nicht, dass sie eine solche Frau ist.«
   »Und wieso räkelt sie sich dann Abend für Abend bei Zac an der Theke?«
   »Woher soll ich das wissen? Sie hat keinen Mann, sie wird einsam sein und Unterhaltung suchen.«
   Sie winkte ab und machte sich wieder an die Arbeit. Er hingegen war mal wieder genervt. Frauen haben ja ein Gespür für Nebenbuhlerinnen. Und Maria war eine. Sie lag goldrichtig. Es stimmte, sie schaffte an. Und überdies waren er und Maria ein Liebespaar.
   Maria nahm nicht wenig ein an einem Arbeitstag. Sie war gut in ihrem Job. Tagsüber empfing sie Männer in ihrem Haus. Abends sahnte sie bei Zac ab. Da kam ein hübsches Sümmchen zusammen. Und weil sie so schrecklich vernarrt war in ihren Liebling, gab sie ihm ab und an einen Obolus ab. Als Anerkennung. Denn wer liebte schon eine wie sie …
   »Weißt du, du bist so viel mit deinen Kerlen unterwegs. Hast so wenig Zeit, mit mir mal einen Abend zu verbringen, bist selbst die meiste Zeit über Nacht im Außendienst. Und nun musst du auch noch zu Zac.«
   »Baby, ich will doch nur mal einen freien Abend genießen. Du sagst ja selbst, dass ich immer im Dienst bin. Du könntest mir einen netten Abend drüben bei Zac schon mal gönnen.«
   »Ich muss es ja eh akzeptieren. Wann hast du schon mal auf mich gehört?«
Vor einigen Monaten hatte sie ihm eine Szene gemacht, weil er wieder mal zu den Jungs flüchtete. Erst bat er sie um den nötigen Respekt. Aber sie verweigerte ihn und schimpfte los. Da machte er kurzen Prozess und donnerte ihr eine auf die rechte Wange. Sie fiel zu Boden und halb wirr im Kopf überlegte sie kurz, ob sie ihm auch noch die linke Wange hinhalten sollte.
   Das war ihr eine Lehre.
   »Dann versprich mir wenigstens, dass du dich von diesem Luder nicht angraben lässt.«
   »Wo denkst du hin. Ich habe mit Maria kaum ein Wort gewechselt bislang.«
   »Versprich es mir.«
   »Na, komm mal her zu mir.«
   Sie tanzte zögerlich an. Er fasste sie um die Hüfte, zog sie zu sich, lupfte ihr Kleid und küsste ihr die Brüste und versuchte sie mit seinen Zähnen zu erwischen.
   Sie aber entzog sich ihm.
   »Hör auf damit. Komm früh genug heim und das alles gehört dir«, lockte sie ihn.
   »Auch das hier?«
   Er zog sie wieder zu sich heran und grapschte ihr unter den Rock und drang in ihren Pelz ein. Sie war trocken wie vierzig Tage Wüste.
   »Das war aber auch schon mal feuchter, Baby.«
   »Du warst auch schon mal liebevoller.«
   Sie schob sich wieder von ihm weg.
   »Versprich es jetzt endlich.«
   »Was denkst du eigentlich von mir? Ich bin ein anständiger Ehemann. Wer braucht Maria, wenn er das hier haben kann.«
   Er deutete auf sie und ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen.
   »Du kannst so süß sein, wenn du willst.«
   »Darf ich dir nochmal an den Schoß, meine Schöne?«
   »Geh jetzt zu Zac, kipp dort das, was du kippen musst und komm schnell heim. Ich ziehe mich aus und warte im Bett auf dich.«
   Ein leichtes Grinsen umspielte seine Mundwinkel. Ob er später von dem Angebot Gebrauch machen würde, lag nun ganz in Marias Ermessen.
   »Oh Baby, du machst mich noch immer ganz verrückt.«
   »Bleib da, dann kriegst du mich gleich.«
   »Ich muss zu Zac, muss noch kurz was bereden.«
   Morgen wollte er wieder auf Tour gehen und Maria sollte sich bereithalten. Das wollte er ihr sagen. Er hatte sie schon öfter dabei gehabt, wenn er mit seinen Jungs durch die Lande zog. Das war die beste Zeit für ihn. Sie bot ihre Dienste in allerlei Städten und Dörfer feil, verdiente was für die gemeinsame Kasse und abends nach getaner Sexarbeit lag sie bei ihm auf der Matte und tat das, was sie am besten konnte.
   Vielleicht hatte Maria ja auch noch einige Groschen für ihn übrig. Er konnte sie gut gebrauchen.
Seine Frau hingegen war enttäuscht. Sie bot ihm hier ihren Körper an und nicht mal jetzt ließ er sich ködern. Das war früher alles anders. Die Leute da draußen, dachte sie sich, die denken alle, dass mein Mann ein ganz großer Akt ist. Ein Macher. Eine Persönlichkeit. Aber in Wirklichkeit ist er ein Trinker, wahrscheinlich einer, der es mit anderen Frauen treibt und dann im ehelichen Bett nicht mal mehr hochgeht.
   Früher hatte er noch einen bürgerlichen Beruf. Schreiner. Er war ein anständiger Kerl gewesen. Ging seinem Job nach, klopfte seiner Frau auf den Arsch und begehrte sie so oft, dass sie manchmal glaubte, sie täten nichts anderes. Es war eine herrliche Zeit gewesen.
   Klar, er trank damals schon nicht schlecht. Aber der Rausch trübte sein Wesen nicht. Und sie liebte ihn inständig. Irgendwann kam er auf den Trichter, mehr aus seinem Leben machen zu wollen. Er trommelte eine Horde ungewaschener Hippies um sich und zog über die Felder. Sie hielten Sessions und Gigs ab und die Leute liebten ihre Zaubershow. So blieb er manchmal wochenlang weg und das entfremdete ihn abermals.
   Nach einer Weile wurden Gerüchte an sie herangetragen. Angeblich würde er sich mit anderen Frauen abgeben, während er auf Tour war. Leichte Mädchen. Groupies, die entzückt ihre Schenkel spreizten. Sie nahm es hin. Was konnte sie schon ändern?
   »Kannst du das nicht auf morgen verschieben mit Zac?«
   »Morgen bin ich doch wieder unterwegs, Baby. Das weißt du doch.«
   »Na gut. Ich werde auf dich warten. Nackt.«
   Sie funkelte ihn an, aber er reagierte nicht. Sah durch sie durch. Da startete sie ein letztes Manöver.
   »Schatz, ich möchte dich haben da unten, lass mich nicht zu lange warten.«
   »Ein wenig Geduld, Baby, ich bin wirklich bald zurück.«
   »Du gehst wirklich nicht wegen ihr zu Zac, oder?«
   »Nein, wirklich nicht.«
   Er fragte sich, wie er Maria befriedigen und dann noch im Saft stehen konnte, um seine Frau zu beglücken. Es schien ihm aussichtslos. Er stand vor einem Dilemma. Im Treffen von Entscheidungen war er nicht besonders geübt. Meist entschied Maria für ihn. Er würde sie fragen müssen.
   Er erhob sich vom Tisch, küsste seine Frau auf die Wange und dachte sich, dass er eigentlich ein ziemlich mieser Typ ist. Dann sah er sie an und ihm kam in den Sinn, dass er ja auch nicht wisse, was sie so treibe, während er durch die Lande tingelte. Es war doch so: Wer nichts ausgefressen hat, sollte mal den ersten Stein werfen. Der Spruch gefiel ihm. Er wollte ihn sich merken und bei Gelegenheit benutzen.

Dann zog sich Jesus, den sie Christus nannten, seine Sandalen an und ging ins Bordell, das Zac im Hinterzimmer seiner Kneipe leitete. Bevor er die Hütte verließ, rief er ihr noch was von »Meinung« und »Zerstörung« und irgendwas, dass sich wie »TTIP« anhörte hinein. Wenn er der Messias war, dann sprach er halt gerne mystisch und in Rätseln.

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Unsere gemütliche Stube

Donnerstag, 29. Oktober 2015

Gekauftes Sommermärchen, erlogene Abgaswerte, gefakete Arbeitslosenstatistiken. Was für eine Lügen-Republik! Anders gesagt: Das Biedermeier ist nicht mehr nur inmitten von Zierkissen - es ist unsere Staatsdoktrin geworden.

Gibt es noch Wahrheiten? Bestimmt. Aber sie werden immer weniger. Selbst weltpolitische Kleinigkeiten wie die Fußball-Weltmeisterschaft, auf das dieses »neue und weltoffene« Deutschland bis heute so stolz ist, war also wahrscheinlich nur das Resultat von Schmiergeldern. Damals hieß es, dass »die Welt zu Gast bei Freunden« sei. Sommermärchenhaft. Doch alles war offenbar bloß ein Produkt aus Bestechungsgeldern. Illusorisch bricht diese stolze Geschichte jetzt in sich zusammen. Was derzeit thematisch passt, denn bei Freunden ist die Welt wahrlich nicht zu Gast bei uns. Eher in Zeltstädten. Wie gesagt, selbst solche Randnotizen haben einen bitteren Beigeschmack, bauen auf Lüge. Man kann sich darüber wundern. Oder man kann sich sagen: War eh irgendwie klar. Die »konjugierte Wahrheit« ist der stetige Begleiter in diesem Deutschland unter Kanzlerin Merkel. Unter ihrer Ägide hat sich nicht nur den politischen Diskurs sediert (immerhin wissen die Sozialdemokraten noch nicht sicher, ob sie bei der nächsten Bundestagswahl überhaupt einen Gegenkandidaten ins Rennen schicken sollen), sie hat auch das Wohlbefinden des Biedermeier zur Doktrin in diesem Lande erhoben.

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Aus fremder Feder

Mittwoch, 28. Oktober 2015

»Der Weg in die Freiheit führt nach innen, und was ansonsten und insbesondere im US-Verständnis unter Freiheit läuft, ist eigentlich nur die Freiheit, Geld zu verdienen, andere über den Tisch zu ziehen, rücksichtslos zu sein.«

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»Bild«-Leser sagen ihre Meinung

Dienstag, 27. Oktober 2015

Den Pranger, den die »Bild« letzte Woche abdruckte, also all die Bilder, genannten Namen und Kommentare diverser Facebook-Nutzer, hätten nicht unbedingt unter dem Label »Der Pranger der Schande« firmieren müssen. Es hätte völlig gereicht, wenn man es mit »Jetzt sprechen unsere Leser« oder »Bild-Leser sagen ihre Meinung« betitelt hätte. Jeder Mob und jede Meute braucht schließlich ein Organ, das sie mit Weltanschauung anfüttert, braucht eine Tageszeitung, die den Hass sät. Und als gutes Printmedium erteilt man eben auch mal den Lesern das Wort. Der Facebook-Kommentar ist an sich auch nichts anderes als ein Leserbrief. Außerdem geschieht es denen doch recht, dass sie jetzt öffentlich gemacht werden, dass ihre Ansichten aus der Zeitung prangern. Oder etwa nicht?

Viele, die sich über den Hatespeak der letzten Monate ärgerten, Pegida und ihre KZ-Redner verabscheuten und dieses Klima des Ausländerhasses beklagten, rieben sich die Hände. Gut, es war zwar die »Bildzeitung«, die diesen Pranger ins Leben rief, aber dass man diese Hassbürger im Standby-Betrieb jetzt wortwörtlich beim Namen nennt, das fanden sie richtig gut. Es ist Schadenfreude, die verständlich ist. Außerdem sollten Erwachsene, die ihre Wut als Meinungsfreiheit in den Raum stellen, auch die Folgen des Erwachsenenalters spüren dürfen. Vielleicht verliert einer seinen Arbeitsplatz und wird geächtet. Vielleicht auch nicht. Aber so oder so: Pranger sind verwerflich. Und besonders ein Medium, das für sich selbst in Anspruch nehmen sollte, einen gewissen journalistischen Standard erfüllen zu wollen, kann sich einen Pranger nicht leisten.

Arno Frank schreibt in »Meute mit Meinung«, dass die sozialen Netzwerke eine grundsätzliche Ablehnung traditioneller Medien verursacht haben. Plötzlich war man der Meinung, dass man es doch besser könne, als all die bezahlten Tintenkleckser in den Redaktionen. Frank beklagt, dass Zeitungen auch immer mehr auf das eingehen, was ihre Leser in Netzwerken wollen. So entschuldigen sie sich gar für Artikel, die kritisiert wurden. Aber genau das sollte Zeitung nicht tun, erklärt er. Aber in einer Sache täuscht er sich gewaltig: In der Anonymität der Shitstormer und Hexenjäger. Die sind nämlich gar nicht anonym, sondern tun das unter Klarnamen. Die Hemmungen sind gefallen. Die Ablehnung der Medien ist zur völligen Abkehr von ihnen mutiert: »Lügenpresse! Lügenpresse!« Und so hat sich Frank wohl auch keinen Pranger in einer »Zeitung« vorstellen können. Hat sich kein Printmedium vorstellen können, dass nicht nur auf die Netzwerke reagiert und sich danach ausrichtet, sondern gleich noch die Praxis aus diesem Metier anwendet, um »Berichterstattung« zu leisten.

Was »Bild« da in den Sinn kam, ist die Beförderung von Facebook-Usus in den journalistischen Alltag. Man adelt den Shitstorm und macht den Pranger zu etwas, was nicht mehr im Halbseidenen sozialer Netzwerke geschieht, sondern im öffentlichen Raum und somit den Anstrich von Legalität erhält. Dass man sich als jemand, der das Hatespeak des Mobs verachtet und es gerne juristisch verfolgt sähe, über eine öffentliche Zurschaustellung der Hasser freut, ist menschlich nachvollziehbar. Aber deswegen noch lange nicht korrekt. Denn worüber man sich da freut, das sind Handlungsmuster, die man der »Bild« sonst vorwirft, wenn sie zum Beispiel Leserreporter rekrutiert und für so genannte »Schnappschüsse« entlohnt. Oder wenn sie Tatverdächtige ungepixelt zeigt und deren Namen angibt, obgleich die Tat nicht bewiesen war – und sich manchmal als unbegründeter Verdacht erwies. Jeder, der in den Verdacht einer Straftat gerät, ganz gleich welcher Art, hat das Recht auf Wahrung der Privatsphäre. Das lässt sich aus der Unschuldsvermutung filtern, die nicht weniger als ein Grundpfeiler des Rechtsstaat ist.

Man kann also nicht einerseits die Machenschaften dieses Blattes moralisch ächten und den Pranger für solche, die man selbst moralisch geächtet hat, begrüßen. Die Kommentare der Hassgestalten sind verdächtig. Aber sie müssen juristisch nachgewiesen, verfolgt und angeklagt, danach von einem Richter als Verhetzung eingestuft und verurteilt werden. Solange gelten sogar solche Leute als unschuldig. Man muss ihnen ihre Schuld erst nachweisen. Und der Pranger ist keine Einrichtung, die den Schuldnachweis irgendwie objektiv begleiten würde. Er ist eher das klassische Element einer Haltung, die auf Rache sinnt und die Schuld zu einem Kriterium erhebt, das nicht gerichtlich exekutiert werden muss. Der Pranger ist ein Urteil und kein Fingerzeig für Staatsanwälte. So sehr man die Hatespeaker auch ablehnt, so widerlich ihr Weltbild auch ist: Man muss ihnen den Rechtsstaat gewähren.

Lässt sich die »Bild« eigentlich auf Facebook-Methoden ein? Täusche ich mich vielleicht? Was war zuerst da? »Bild« oder Facebook? Möglicherweise sind es auch die Nutzer der sozialen Netzwerke, die »Bild«-Methoden kopieren. Die schroffe Sprache, das geistig vergiftete Weltbild und so weiter. Der Pranger war ja immer irgendwie Element der »Bildzeitung«. Ei oder Henne also? So oder so, scheinen bestimmte Verhaltensnormen in der Social Media und bei jener Gazette in einen Unterbietungswettbewerb, in ein Moraldumping zu treten. Das erinnert an jene Szene in »Nachts im Museum«, bei der sich der Nachtwächter und ein Äffchen gegenseitig immer und immer wieder ohrfeigen und der zum Leben erwachte Teddy Roosevelt den Menschen ermahnt mit dem Satz: »Wer ist höher entwickelt, hm?« Wenn sie sich also gegenseitig mit Prangermethodik unterbieten, dann muss man fragen: Wer ist der Journalist, hm? Na gut, wir reden von der »Bild«, nicht vom Journalismus. Mein Fehler.

Im Übrigen bleibe ich bei der Meinung, dass TTIP zerstört werden muss. Weil ich das immer am Ende sage. Auch, wenn ich keine passende Überleitung vom Text zum Abschlusssatz bekomme.

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Gewissensbisse ohne Zähne

Montag, 26. Oktober 2015

Vor etwas mehr als zwei Wochen gingen zwischen 150.000 und 250.000 Menschen auf die Straßen Berlins, um gegen das Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten Stellung zu beziehen. Unzählige folgten dieser Veranstaltung via Livestream. Andere waren aus der Ferne, also im Geiste dabei. So gesehen waren Millionen von Bürgern dieses Landes anwesend, als stellvertretend für alle TTIP-Gegner diese sechsstellige Menschenmasse demonstrierte. Diese geballte Manpower (um mal die Sprache zu sprechen, die die Neoliberalen ansonsten uns angedeihen lassen) sollte doch die Abgeordneten, immerhin nicht weniger als Volksvertreter, zum Nachdenken anregen. So jedenfalls will es die demokratische Theorie.

Je größer die Masse, desto höher der Anreiz für den Abgeordneten, seine Entscheidung nicht nur seinem persönlichen Gewissen zu unterwerfen, so wie es Artikel 38 des Grundgesetzes definiert, sondern eben auch dem, was die Legion von Wählern möchte. Je mehr Menschen kundtun, dass sie dies oder das nicht gutheißen, desto mehr macht man denen, die Entscheidungskompetenzen haben, ein schlechtes Gewissen. Das ist die Grundlage solcher Aufläufe. Man macht aufmerksam und verdeutlicht, dass ein Parlament von einigen hundert Delegierten, nicht über die Köpfe der Masse hinweg entscheiden darf. Große Demonstrationen sind deswegen immer auch ein Spiel mit den Gewissensbissen, die man erzeugen möchte. Es soll einem Abgeordneten nicht so einfach gemacht werden, einfach mal so zu entscheiden, wie es eine profitorientierte Minderheit von ihm will. Wir sind das Volk und so. Und dein Gewissen sollte das nie vergessen.

So weit, so gut. Das Problem ist jedoch, dass dieses Prinzip mit TTIP vielleicht gar nichts zu tun hat. Vielleicht gibt es für etwaige Gewissensbisse gar keine Zähne. Noch immer weiß man nicht, ob je ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages über die Ratifizierung des Freihandelsabkommens befinden muss. Alles ist noch in der Schwebe. Die Frage ist nämlich, ob TTIP eine reine Sache zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten wird, bei der die Länderparlamente außen vor sind - oder dann doch ein »gemischtes Abkommen« zwischen den Mitgliedsstaaten der EU und den USA, das ohne solchen demokratischen Firlefanz auskommt.

Die deutsche Regierung geht davon aus, dass es sich bei TTIP (und CETA) um gemischte Abkommen handeln wird. Dieselbe deutsche Regierung übrigens, die glaubt, dass Austerität ein Weg aus der Misere im Süden Europas sein wird. Die Leute in dieser Regierung wissen also, wie man sich wortgewandt täuscht und sich selbst was vormacht. Der ehemalige EU-Chefunterhändler in Sachen TTIP, ein Mann namens De Gucht, hat aber schon mal angekündigt, dass sich mal ein Gericht mit der Art des Abkommens beschäftigen werde. Denn ein reines Abkommen wäre den Befürwortern des Abkommens am allerliebsten. Das spart Zeit und Nerven und speist die Gewissheit, dass es was wird mit TTIP. Die Europäische Union ist überdies sehr geübt im Verschleppen und Modifizieren von Vorhaben, die keine Mehrheit finden. Als die EU-Verfassung scheiterte, initiierte man einen Vertrag mit Verfassungsinhalten und dann konnte doch noch verabschiedet werden, was vorher nicht gelingen mochte. Nichts ist also sicher. Außer vielleicht die Bereitschaft der deutschen Regierung, einen auf naiv zu machen.

Nein, man muss ja gar nicht glauben, dass die nationalen Parlamente - und in unserem Falle der Deutsche Bundestag – ein Unsicherheitsfaktor wären. Die Konstellation der Großen Koalition, die ja vermutlich ein Langzeitprojekt über 2017 hinaus sein wird, lässt nur recht wenig Hoffnung schimmern. Auch wenn die Abgeordneten doch nicht übergangen werden, wird es wohl dazu kommen. Überraschungen sind im modernen Parlamentarismus nicht vorgesehen. Nicht in wirtschaftlichen Fragen. Da ist das Gewissen etwas, was man sich gefälligst verbeißen sollte. Geht es zum Beispiel um Abtreibung oder Präimplantationsdiagnostik, ist der Abgeordnete noch ganz ein Gewissenhafter. Aber nicht als Rahmensetzer für die Wirtschaft. Da soll er gewissenlos der Leitlinie, der Agenda und dem Fraktionszwang folgen. Aber lassen wir das, denn das ist eine ganz andere Sache.

Fest steht nur, dass TTIP nicht erst undemokratisch wirkt, wenn es aktiviert ist. Es gibt als Einstandsgeschenk schon seinen geballten antidemokratischen Geist frei. Man verhandelt im Stillen und stülpt die Resultate womöglich über die nationalen Verfassungen. Schon vorab ist dieses Vorhaben also ein demokratischer Notstand. So wie TTIP heute schon wirkt, obgleich es noch nicht mal absolute Realität geworden ist. Über den apriorischen Wirkungsgrad mal an einem der kommenden Montage mehr. Daher bin ich der Meinung, dass TTIP zerstört werden muss. Nicht erst dann, sondern schon jetzt in der Vorlaufphase.

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Helft ihm, zeigt ihn an!

Freitag, 23. Oktober 2015

»Wieso kommentierst du die Sache mit Akif P. eigentlich nicht?«, fragte mich gestern jemand. Antwort: Weil es Angelegenheiten gibt, die keiner Worte bedürfen, sondern einer Strafanzeige. Und die ist erfolgt, wurde von mir gestellt. Am Dienstag war das. Die Polizei in Dresden ermittelt. Vorgangsnummer hat man mir mitgeteilt. Ich las nun bei einigen auf Facebook Entkräftungen. P. habe eben nicht etwa gemeint, dass man Konzentrationslager in Betrieb nehmen solle, um der Flüchtlingsfrage Herr zu werden. Er wollte vielmehr suggerieren, dass die Politik Leute wie ihn und seine Zuhörer dort konzentrieren würde, wenn sie nur könnte. Ich stimme der Einschätzung, dass er es so und nicht anders gemeint haben könnte, vollumfänglich zu. Es ist trotzdem Verhetzung, denn er wiegelt Menschen auf, rührt eine Stimmung an, die destruktive Kräfte entfesseln soll. Dass er mit solchen »Vergleichen« NS-Opfer verhöhnt, nehme ich übrigens als Argument zwar zur Kenntnis, ist aber leider oft ein Totschlagargument. Roberto Benigni haben sie seinerzeit dasselbe unterstellt.

Ich kannte den Mann bis vor anderthalb Jahren gar nicht. Dann sah ich ihn zufällig in einer Mittagssendung im ZDF. Damals war er wohl schon zu einer kleinen Berühmtheit gekommen, weil er in jungen Jahren Katzenkrimis geschrieben hatte. Ich habe kein Faible für Kriminalstücke. Wenn aber kein schnodderiger Marlowe ermittelt, sondern eine Hauskatze, dann ist mein völliges Desinteresse sicher. Jedenfalls saß er da beim Zweiten auf einem Sofa und erzählte in derber und unterirdischer Sprache von seinem neuem Buch. Untertitel des Käses: »Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer«. Dauernd sagte er »verfickt«. Er machte auf einen, der aus dem Rinnstein kroch. Aber seine Sprache war dazu zu künstlich. Ganz unten in der Gosse nimmt man auch kein Blatt vor den Mund, aber man kalkuliert nicht mit den verbalen Deftigkeiten. P. tat das. Die Moderatorin saß jedenfalls bei ihm und schien glücklich, so einen originellen Gast bei sich zu haben. Kommt nicht oft vor beim Großeltern-TV der Gebühreneinzugszentrale. Ich konnte ihn nicht leiden und dachte mir: Hoppla, da haut aber einer richtig auf die Kacke, um sich Gehör zu verschaffen. Er wird es schon nötig haben. So einen gibt man auf keine Fall ein Forum, urteilte ich nach dem Auftritt.

Nach einer Weile war er eine etwas größere Berühmtheit als vorher. Man las von ihm und sah ihn ab und an im Fernsehen. Deutschlands größtes Revolverblatt ging Currywurst essen mit ihm. Natürlich lederte er wieder los. Er war ja ein Skandalautor. Man musste doch von ihm berichten. Er schimpfte weiterhin, sprach in einem Jargon, den selbst die gestandene Gosse erröten ließ und war so voller Hass, voller Unversöhnlichkeit, dass man sich sagen konnte: Ja, der Typ braucht dringend Hilfe. Tabletten vielleicht. Oder einen einfühlsamen Psychotherapeuten. Erst dachte ich ja, der wäre affektiert - aber dann war mir klar, dass er nicht mehr ordentlich spult. Ich meine, Hetzer gibt es viele. Aber so passioniert, so wild und frei von jeglicher logischen Rhetorik, ist keiner von denen. P. war der Bad Guy, der Sarrazin wie einen Wissenschaftler aussehen ließ. Ganz bei Trost schien er nicht. Und seine Romane waren ja auch Kassenschlager, als er ein junger Mann war. Vielleicht knallt er gerade durch und sieht kein Land mehr und macht sich jetzt wieder einen Namen als reaktionärer Hetzer, kam mir in den Sinn. Bei den Hohlköpfen könnte er ja noch punkten. Die Art und Weise, wie er das tat, offenbarte aber, dass da echt einer angeknackst war. Die einen ticken aus und landen am Hauptbahnhof und sammeln Kippen. Die anderen hocken mittags beim Zweiten auf der Couch. Vielleicht ist das zu einfach. Aber ich glaube wirklich, dass er nicht ganz auf dem Damm ist.

Daher sage ich nichts zu seiner Rede. Anzeige reicht. Die Schlauen unter euch werden nun sagen, dass er dann ja schuldunfähig wäre. Wieso also überhaupt anzeigen? Gut aufgepasst. Ich sag' es euch: Vielleicht erbarmt sich ein Staatsanwalt und nimmt sich der Sache an und ein Gericht empfiehlt ihm Therapie und Medikamente. Schaden kann es ja nicht. Vielleicht treiben sie ihm auch seine Hauskätzchenphantasien aus. Und die Vorstellung, dass er bald von Schwulen und Muslimen in einem KZ gefoltert wird. Er gehört angezeigt, damit er endlich Medizin kriegt und vielleicht seine Schwerpunkte verlagert und nicht mehr gegen Randgruppen hetzt, sondern gegen die Hauptinitiatoren des Niedergangs, die unser aller Leben verschlechtern wollen. Dann könnte er schon bei der nächsten Demo gegen das Freihandelsabkommen dabei sein und sagen: »Und übrigens bin ich der Meinung, dass das verfickte verfickte verfickte TTIP zerstört werden muss!« Danach setzt er sich hin und schreibt einen Katzenwirtschaftskrimi, in dem das Mohrli einen Komplott aufdeckt, in dem Gabriels Rolle als bezahlter Kostgänger der Wirtschaft enttarnt wird. Deswegen: Anzeigen!

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Bayern, des samma mia

Donnerstag, 22. Oktober 2015

Chauvinismus, Selbstverliebtheit und Unmoral, abgekürzt CSU. Das sind die Alleinstellungsmerkmale und »Tugenden« Bayerns, die man im Rest des Landes derzeit wieder besonders wahrnimmt. Aber der Freistaat ist nicht die CSU. Es gibt ein anderes Bayern. Mia san ned bloß mia - mia san a andas.

»Sie sind aus Bayern, oder?« Das höre ich oft. Mein Dialekt lässt sich nur schwer in den hochdeutschen Griff kriegen. Dazu artikuliere ich die Vokale zu offen, mische ich A und O zu gewandt. Das kriege ich nicht weg. Und so merkt man nach zwei Sätzen, dass ich die meiste Zeit meines Lebens in Oberbayern zubrachte. »Ja, ich bin aus Bayern. Merkt man das denn?«, kokettiere ich als Antwort meist. Und dann legen sie los. Bayern sei toll. Nette Leute und das Bier. Meist wird es dann politischer. Die einen sagen: Und fähige Leute in der Landesregierung. Die anderen meinen: Leider sind die Bayern - deutschlandweit betrachtet – schon chauvinistisch, selbstverliebt und unmoralisch. Im Regelfall nicke ich beim zweiteren Typus. Vom ersteren verabschiede ich mich meist ganz schnell. Beide Exemplare offenbaren aber einen großen gemeinsamen Nenner: Sie reduzieren das Bayerische, wie immer man das letztlich definieren mag, als das CSU-Bayern. Und das ärgert mich zunehmend.

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Die privilegierten Niedriglöhner und die Flüchtlingsarbeitskräfte

Mittwoch, 21. Oktober 2015

Man kann immer die eine Hälfte der Armen kaufen, um sie gegen die andere Hälfte der Armen in Stellung zu bringen. Das ist eine elitäre Binsenweisheit. Sie funktioniert eigentlich immer. Und man kann auf vielerlei Arten kaufen. Zum Beispiel so, wie es derzeit einschlägige Ökonomen und Wirtschaftspolitiker fordern. Flüchtlinge sollen nämlich schnell arbeiten dürfen. Aber nicht auf Mindestlohnniveau. Bei Asylbewerbern sollte eine weitere Ausnahmeregelung geben. Diese Forderung nach Aushebelung dieses neuen Sozialstandards ist aus Sicht der Arbeitgeberseite nicht spektakulär, nicht besonders überraschend. Man muss ihr nicht mal moralisch kommen. Die Arbeitgeber tun halt, was sie können, um weiterhin paradiesische Zustände in puncto Lohnkosten zu haben. Interessant sind aber zwei Aspekte.

Erstens an die Haus- und Hofökonomen gerichtet, von denen dieser Vorschlag ja stammt: Liebe Experten, ihr entkräftet euch ja selbst. Vor einigen Monaten habt ihr noch gesagt, dass der Mindestlohn unser aller Ruin sei. Arbeitsplätze würden wegfallen wie tote Fliegen von der Wand. Das würde sich schnell in der Arbeitslosenstatistik niederschlagen. Nichts geschah. Das weiß man schon etwas länger. Die Zahlen dokumentierten das. Es war Angstmacherei und ideologische (oder pekuniäre) Befangenheit, nicht Wissenschaft, die dieses Urteil forcierten. Jetzt stellt ihr euch aber hin und sagt, dass man für Flüchtlinge Ausnahmen brauche. Sie könnten alle gerne arbeiten, aber dann eben billiger. Ja, aber wo denn, wenn es in einem Mindestlohnland keine Stellen mehr gibt, weil sie einfach so wegfallen? Jetzt plötzlich kann der Arbeitsmarkt zwei Arbeitnehmerklassen vertragen: Die mit Standards und die Entrechteten. Auf diese Dialektik muss man mal kommen.

Der zweite Aspekt kommt nochmal auf den Eingangssatz zu sprechen. Was ist eigentlich los mit der Arbeitnehmerseite in diesem Land? Mir begegnen Leute, die es richtig finden, dass Asylbewerber arbeiten gehen sollen. Und nicht erst morgen, sondern gleich heute. Aber bitte nicht zu Mindestlohn. Denn das wäre viel zu teuer. Manchmal sind es Leute, die selbst auf diesen Niveau darben. Sie schaden sich selbst, obgleich sie sich natürlich einbilden, sie seien die Gewinner in der Konstellation zwischen normalen Arbeitnehmern und Flüchtlingsarbeitskraft. Aber exakt das sind sie ja nicht. Sollte man diese Pläne verwirklichen, so werden viele Arbeitsplätze, die heute noch ein Mindestlohnangestellter ausfüllt, von Menschen besetzt, die vielleicht für die Hälfte schuften.

Jeder Arbeitsplatz, der keine besondere Qualifikation, kein Know-How, keine Ortskenntnis, keine Wortgewandtheit oder dergleichen mehr benötigt, kann dann von jemanden übernommen werden, der keinen Anspruch auf Mindestlohn hat. Ein Unternehmen, das beispielsweise Arzneien verpackt, kann seine geringfügig Beschäftigten mit Mindestlohn gegen solche ohne austauschen. Erstere können im Monat knapp 53 Stunden arbeiten, dann sind die 450 Euro voll – letztere (bei einem Stundenlohn von fünf Euro) immerhin 90. Und das bei gleichem monatlichen Einkommen. Was für ein Wertgewinn für die Unternehmen! Und welcher Verlust für die, die nur ihre Arbeitskraft anbieten können!

Gleichwohl gibt es Stimmen im unteren Lohnsegment, die diese Lösung favorisieren. Sie bringen ihre ohnehin prekäre Existenz nur in Gefahr, weil ihnen diese Unterscheidung mit den Flüchtlingen schmeichelt. Jahrelange neoliberale Beschulung haben jegliche dialektische Auseinandersetzung mit dem Wert von Arbeit außer Kraft gesetzt. So steht man stolz da, fühlt sich privilegiert, weil man weiß, dass man Mindestlohnberechtigung erfährt und merkt bei all dieser Pseudobevorzugung nicht, dass man der Entwertung der eigenen Arbeit Vorschub leistet. Man kann immer die eine Hälfte der Armen bauchpinseln, um die andere Hälfte zu kontrollieren. Man kann immer die eine Hälfte kaufen, um die ganze arme Bande im Griff zu haben. Das ist es, was wir derzeit wieder mal erleben. Und weiterhin in einem erhöhten Maß erleben werden, wenn sie ihre Pläne verwirklichen. Ich bin daher übrigens der Meinung, dass TTIP zerstört werden muss.

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Zu Ohren gekommen

Dienstag, 20. Oktober 2015

Schneller abschieben! Hat neulich eine Nachrichtensprecherin gesagt. Sie meinte, die Regierung feile an einem neuen Asylgesetz. Nach dem würden Asylanträge schneller bearbeitet, um Asylbewerber dann auch wieder schneller abschieben zu können. Ergebnisoffen wird also gar nicht geprüft. Man will nur ein Verfahren entwickeln, dass die Abschiebung verschnellert. Also sagte sie etwas davon, dass man Flüchtlinge schneller abschieben wolle.

Die Sprache verroht. Das ist ein alter Hut. Derzeit tut sie es jedoch wieder stärker. Dieses »schneller abschieben« durchfuhr mich. Mit welcher Lakonie es fiel. Nichts dagegen zu sagen, wenn man Anträge prüft, aber dann Menschen abzuschieben. Und das auch noch schnell ... Klar, die Abschiebung ist ein juristischer Begriff in diesem Land. Man hat sich diese Floskel nicht umgangssprachlich erschaffen, sondern kann auf den Gesetzestext zurückgreifen. Dennoch wirkt es äußerst unmenschlich und kalt. Man schiebt im Deutschen die Schuld auf andere ab. Manchmal auch die Verantwortung. Als die Banken die Folgen ihrer faulen Geschäftspraxis auf die Steuerzahler abgeschoben haben, hat man sich geärgert. Jemand der Schuld oder Verantwortung abschiebt, der gilt ganz allgemein als eine fadenscheinige Person, als halbseidener Charakter, als ein schlechter Mitmensch. Aber in den Nachrichten kann man ganz ohne diesen verurteilenden Unterton erklären, dass man Menschen schneller abschieben könnte.

Wir wundern uns nicht mal mehr über die Praxis: Da werden Gesetzeslagen geändert, nicht um einen Umstand neu zu regeln, sondern um das Gesetz so anwenden zu können, dass es mit der Tendenz, die man hat, nicht zusammenstößt. Man schmiedet nichts mehr Ergebnisoffenes - man ersinnt eine Praxis, die zwangsläufig das Resultat zeitigt, das man haben wollte. Und statt darüber nachzudenken, was Gesetze wert sind, die man je nach Tagesgeschehen auslotet, nehmen wir lieber den Geist dieses Vorhabens in die Sprache auf und sprechen ungeniert davon, Frauen, Kinder und Männer wieder zurück ins Elend zu schicken. Abschieben eben.

Die Abschiebung ist ein häßliches Wort aus dem Aufenthaltsgesetz. Es ist doch komisch, dass man es in der Alltagssprache dennoch gebraucht. In anderen Fällen erfindet sich der Volksmund Bezeichnungen, die so nicht im Gesetz zu finden sind. Umgangssprachliche Abwandlungen sind zum Beispiel das »Knöllchen«, wo der Beamte von der »Zumessung der Geldbuße bei einer Ordnungswidrigkeit« spricht. Wer redet denn schon im Alltag so? Wer begeht Verkehrsordnungswidrigkeiten? Wird man nicht eher geblitzt? Selbst Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigungen haben einen bürgerlichen Namen: Ein-Euro-Jobs. Aber die Abschiebung bleibt umgangssprachlich, weil sie doch so schön beschreibt, was wir eigentlich wollen. Jemanden wegmachen, austilgen aus unserer Mitte, »Hinfort mit ihm!« und so weiter.

Rohe Sprache, die immer roher und verachtender wird. Wenn sich Menschen eben immer stärker als Wettbewerber sehen, dann wird auch der Ton rau. Und wenn der Wettbewerb immer intensiver wird, wenn ein Unterbietungswettbewerb uns alle zwingt, noch mehr als Wettbewerber aufzutreten, um wenigstens einen Hauch von Lebensqualität zu erhalten, dann verschärft sich das. Und exakt noch mehr Wettbewerb soll ja kommen. Auch daher bin ich der Meinung, dass TTIP zerstört werden muss.

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Der Kosmopolitismus, der keiner ist

Montag, 19. Oktober 2015

Die Liberalen meldeten sich letzte Woche aus ihrem Sitz im politischen Nirgendwo und warben für das Freihandelsabkommen. »Deine Pizza: italienisch. Dein Kaffee: brasilianisch. Dein Urlaub: türkisch. Und du bist gegen Freihandel?«, fragten sie in den sozialen Netzwerken. Auf den ersten Blick besticht das natürlich durch Logik. Die Welt rückt eben zusammen. Das Problem ist nur, dass dieses Freihandelsabkommen gar nichts mit klassischem Freihandel, also mit dem Fall von Zöllen zu tun hat. Wer also mit diesem ökonomischen Kosmopolitismus wirbt, der unterschlägt die Tatsache, dass wir es bei TTIP mit einer Angelegenheit zu tun haben, die gar nicht auf der Agenda stehen hat, was Freihandelsbestimmungen früher mal bezwecken wollten.

Bereits heute sind die Zölle zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten auf einem äußerst niedrigem Level. Agrarprodukte werden mit nicht mal drei Prozent belegt. Bei Industriegütern kommt man auf denselben Wert. Der ungewichtete Durchschnittszollsatz liegt bei etwa 3,5 Prozent. Nur bei Tabakwaren und Alkoholika sind die Sätze weitaus höher. Sie werden in den Vereinigten Staaten bei Einfuhr aus dem EU-Raum mit 82 Prozent verzollt. Mit Protektionismus hat das allerdings eher weniger zu tun. Es ist das Geschäft mit Süchten, das man sich nicht durch die Lappen gehen lassen will. Kriege und Anti-Terror-Abenteuer wollen ja auch bezahlt werden.

Der Freihandel ist keine neue Idee. Die Briten predigten ihn schon im 18. Jahrhundert. Sie wollten freie Zugänge zur Welt und bauten um diese Bestrebung ein ideologisches Konstrukt, das besagte, dass nur ein solcher Handel ohne Barrieren den Menschen Wohlstand und Glück bringe. Daher bemühten sie sich um den Abbau von Zollbeschränkungen. Volkswirtschaften, die in ihr gefertigte Waren schützten, indem sie die Einfuhr von Produkten mit Schutzzöllen belegten, wurden als rückständig geächtet. Eine solche Maßnahme wurde für unvernünftig erklärt, der Binnenmarkt spielte in dieser Doktrin keine Rolle. Wesentlich betrachtet ist diese Anschauung heute unser ökonomisches Fundament. Die Europäische Union hat erst vor einiger Zeit ein Handelsabkommen mit afrikanischen Staaten abgeschlossen. Darin verpflichten sich die Länder des Nachbarkontinents, fortan keine Schutzzölle zum Schutze ihres Binnenmarktes mehr zu erheben. Jetzt sind Waren aus der EU (weiterhin) billiger zu haben und inländische Produkte nicht mehr wettbewerbsfähig. So unvernünftig wäre Protektionismus also nicht immer.

Der Freihandel wollte also den Protektionismus aufbrechen. Aber der ist im Falle der Märkte, die jetzt zum TTIP-Raum verschmelzen sollen, gar nicht mehr gegeben. Die Zollbarrieren sind niedrig. Man könnte sie wahrscheinlich in einem kleinen Abkommen aus der Welt schaffen, wenn man es wirklich wollte. Bei TTIP geht es letztlich überhaupt nicht um Zölle. Es geht um Handelshemmnisse anderer Art. Dazu gehören die Angleichung von Normen und Standards, Eingriffe in Belange der öffentlichen Hand und die Verrechtlichung von Konzerninteressen, die sich in einer Paralleljustiz erschöpfen soll. Kurz und gut, es geht um Investorenschutz und Zölle sind da nur Nebensache. Wenn überhaupt.

Man nennt solche »Nebeneffekte« von Freihandelsabkommen nicht-tarifäre Handelshemmnisse, weil sie die Zölle (engl. tariffs) nicht berühren. Sie greifen aber massiv in sozio-kulturelle Entwicklungen ein und haben einen »kulturimperialistischen« Anspruch. So können Wirtschaftsgeflechte (mit ihren Sozial- und Marktstandards, mit Qualitätskontrollen, ihren ökologischen Ansätzen usw.) als nicht-tarifäre Hemmnisse aufgefasst und damit für reformbedürftig erachtet werden.

Der Begriff »Freihandelsabkommen« täuscht, weil er mit Konnotationen spielt, die dem traditionellen Freihandel zugeordnet werden. Die FDP hat dieses Missverständnis gleich wieder aufgegriffen und mit einer vereinfachten Parole untermalt. Man machte auf kosmopolitisch, auf global und weltoffen. Denn wie kann man in einer solchen Welt, die immer enger zusammenrückt, noch für Einfuhrbeschränkungen sein?, fragt sie doppeldeutig. Der Betrachter der Parole soll sich wie jemand von Gestern vorkommen. Wie ein oller Zöllner, der die moderne Welt nicht begreifen will. Er kann doch nicht die Welt genießen, aber sich gleichzeitig von ihr verschließen. Mit Fakten hat der FDP-Ansatz nichts zu tun. Es ist der Versuch, TTIP emotional aufzuladen, es zu einer anti-rassistischen und anti-chauvinistischen Chance aufzuwerten. Dass die Türkei und Brasilien, die in der Parole genannt werden, gar nicht zum TTIP-Raum gehören werden, sondern eher Nachteile davon erfahren, schieben wir mal beiseite. Brasilien hat bislang übrigens keinerlei Abkommen dieser Art abgeschlossen. Investorenschutz sei nämlich teuer und lande immer vor Gericht.

»Spiegel Online« hat ja dann die Anti-TTIP-Veranstaltung in Berlin flugs zu einer nationalistischen Sache erklärt. Das ist nichts anderes wie der Versuch der FDP, die Gegnerschaft zu TTIP mit nationalistischem Isolationismus zu diffamieren. Alle Kritiker sind deshalb eben auch antiamerikanisch. Zugegeben, einen Antiamerikanismus gibt es wirklich in dieser Frage. An einem der nächsten Montage mehr dazu. Und trotzdem ist es nicht haltbar, dieses Abkommen zu einem Akt von Völkerverbundenheit zu ernennen. Kosmopolitismus ist eine feine Sache. Aber nicht, wenn dabei die Demokratie ausgehebelt wird. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass TTIP zerstört werden muss.

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Petry geil!

Donnerstag, 15. Oktober 2015

Liebesbeziehungen zerbrechen. Partnerschaften gehen auseinander. Ehen haben Halbwertszeit. Wir wissen das im Grunde alle. Der Stockkonservatismus verdrängt es gerne und predigt Idyllen von Vater, Mutter, Kind. Und dann können sie es einem nicht mal vorleben. Wenn das der Führer wüsste!

Irgendwie haben die Konservativen mehr oder weniger immer schon ein Faible für ein intaktes Familienleben gehabt. Sie leben es scheinbar nicht nur, sondern gehen damit hausieren und machen es zu einer Sache mit Vorbildcharakter. All die linken Spinner und Alternativen hätten nicht begriffen, wie die Keimzelle der Gesellschaft aufgestellt sein müsse, damit man nicht nur ein glückliches Leben führt, sondern gleichzeitig auch noch ein anständiges Gemeinwesen realisiert. Beides bedingt einander. Mit der glücklichen Familie steht und fällt alles. Daher charakterisiert man sich auf konservativer Seite zum Familientier und gibt gleich noch als programmatischen Imperativ mit auf dem Weg, dass es jeder so handhaben soll: Vater, Mutter, Kind. Für gleichgeschlechtliche Paare endet hier schon die Existenzberechtigung. Alles, was anders lebt, kann nicht gut für unsere Gesellschaft sein. Und es gibt tatsächlich genug Menschen, die sich von dieser Logik bestechen lassen. Meine Großmutter zum Beispiel lehnte Gerhard Schröder nur ab, weil er mehrfach verheiratet war. Für sie war eine stabile Beziehung und Familie vor allem eine Art politisches Gütesiegel.

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Das Geld der Reichen und nur der Reichen

Mittwoch, 14. Oktober 2015

Mensch, der Grönemeyer. Der hat richtig sein Fett weg bekommen. Der alte Populist. Das konnte man letzte Woche lesen. Allerlei Medien nahmen seinen Auftritt bei Jauch unter die Lupe. Billig sei der gewesen, »verlogen«, »typisch Künstler«, der arg vereinfachend und somit populistisch fordere, dass man die Reichen zur Kasse bittet, um die Kosten für die Flüchtlingskrise leichter stemmen zu können. Geld von denen zu nehmen, die es haben, das nennt man hierzulande billig. Dabei ist das ja das Problem: Die Behebung von Elend ist gar nicht billig zu haben. Sie ist im Gegenteil ziemlich teuer. Und dann waren da ja noch die Vorwürfe gegen den griechischen Ex-Finanzminister, dem man Verlogenheit nachsagte, weil er die Vermögen der Reichen nicht angetastet hat, obgleich man das von linken Regierungen doch erwarten sollte. Die griechische Administration mit demselben Argument zu diskreditieren, mit dem Grönemeyer in dieser Talkshow saß und das man ihm nun um die Ohren haut, war aber natürlich nicht billig.

Varoufakis gab kurz nach seinem Rücktritt dem »Zeit-Magazin« ein Interview, das die deutsche Öffentlichkeit eher nicht zur Kenntnis genommen hat. Er rechtfertigte sich darin und diktierte ins Protokoll, dass er gerne Griechenlands Superreiche belangt hätte. Aber die hatten ihr Geld schon lange, ja schon vor der Krise, auf Konten im europäischen Ausland. Er hätte die Hilfe seiner europäischen Kollegen benötigt, um an diese Gelder zu kommen – aber leider kam da wenig Feedback. Er zeigte in dem Interview nicht mit dem Finger auf die Finanzminister des Kontinents und unterstellte ihnen nicht, dass sie gar nicht an den Speckgürtel der Millionäre und Milliardäre wollten. Doch als Leser musste man unwillkürlich glauben, dass es genau so gewesen ist. Aber verlogen sind natürlich diejenigen, die Gelder dort abholen wollen, wo sie in aller Üppigkeit ruhen.

Dass Reichtum geschröpft werden soll, um etwaige Engpässe zu überbrücken, gilt seit Jahren als Populismus. Wer so argumentiert, der diskreditiert sich von selbst. Konzerne oder reiche Einzelpersonen sind unantastbar geworden. Man nennt eine solche Ansicht »billig« und tut so, als haben alle Normalverdiener zusammen gefälligst selbst zu sehen, wie sie sich gesellschaftlich finanzierbar halten und über die Runden kommen. Es ist, als würde man den Normalverdienern empfehlen, sie sollten sich zieren, wenn ein Reicher mit seinem Geld um die Ecke kommt. »Lass stecken, ich kriege das selbst hin.« Es sei denn, er gibt freiwillig, macht auf Giving Pledge, dann kann man schon mal was annehmen. Aber genau das ist natürlich Quark, denn Reichtum zu besteuern ist keine Großzügigkeit, sondern fiskalpolitische Vernunft.

Wann genau hätte denn eine solche Forderung Konjunktur? Wann wäre sie mal kein »billiger Populismus«? Seien wir doch ehrlich: Für eine Forderung nach einer Reichensteuer gibt es nie Raum. Leere Sozialkassen waren jedenfalls nie ein Grund, Steuererhöhungen für Reiche zu einer legitimen Forderung zu erheben. Eine humanitäre Katastrophe wie die derzeitige Krise ist es auch nicht, wie diverse Medien jetzt beweisen, die gegen Grönemeyers Auftritt Stellung beziehen. Man kann davon ausgehen, dass es nichts gibt, was eine solche Forderung tolerabel macht. Wachsende Armut, Verelendung, sieche Bildungsangebote, eine öffentliche Hand, die Freizeitangebote schließt, Menschen, die in Zelten überwintern – egal was, es gibt einfach keinen guten Grund, der in der Öffentlichkeit ein Klima erzeugen würde, wonach Reichtum durchaus »ausbeutbar« sein sollte. Nein, dass bestimmte Eliten Konten haben, auf denen das Geld nutzlos herumliegt, ist viel wichtiger – ein elitäres Grundrecht gewissermaßen. Es kann passieren was will, jedes denkbare Fiasko - egal. Das Geld der Reichen ist auf alle Zeiten unantastbar. Wer es doch mal antastet, nimmt moralische Schuld auf sich und wird geächtet.

Wir müssen einsehen, dass es keine Notsituationen gibt, die diese Maßnahme je rechtfertigen würde. Die Eliten sind weit genug entfernt, als dass sie jemals glauben könnten, ihr Geld ist nur vom Gemeinwesen geliehen, bis es sich das zurückholt. Man hat zu lange nichts mehr dort abgeholt, als dass man sich dort oben noch erinnern könnte wie das ist, wenn man einem etwas von dem nimmt, was man monatlich überwiesen bekommt und als Vermögen geparkt hat. Dass die fetten Jahre je vorbei sein könnten, ist für sie nicht nur undenkbar - man nimmt es als Forderung und Absicht auch wie eine Frechheit wahr, die man sich nicht gefallen lassen muss. Und etwaige Lohnschreiber finden sich immer, um einen dieser Frechdachse, die populistisch »die Neiddebatte« anfachen, in die moralischen Schranken zu weisen und zu vershitstormen.

Man muss ja zugeben: Es klingt wahrhaftig so einfach. Reichtum besteuern in Krisen, in Zeiten leerer Kassen und teurer Anstrengungen. So einfach. Nehmen um geben zu können. So einfach. Verteilen eben. Einfach. Vielleicht viel zu einfach? Kann sein. Man muss ja auch über die Modalitäten sprechen. Wo fängt Reichtum an? Geht es um Vermögen oder Einkommen? Wie hoch sollen Prozentsätze sein? Sind Reiche nur Personen oder auch Unternehmen? Aber ja und nochmals ja, genau so einfach wäre es tatsächlich. Man hat in den letzten Jahrzehnten nur einen Popanz aufgebaut, der uns eingetrichtert hat, dass leere Staatskassen ein hochkomplexer Vorgang seien, den man nicht einfach regulieren könnte. Simplify our life. Es wird Zeit. Auch wenn man uns beständig klarmachen will, dass es nie an der Zeit sein wird, Reichtum in die Verantwortung zu nehmen.

Reiche, die sakrosankt sind und daher leere Sozialkassen, Abbau und Armut? Es wird nicht besser werden, bei der Zukunft, die sie für uns planen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass TTIP zerstört werden muss.

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... wenn man trotzdem lacht

Dienstag, 13. Oktober 2015

»Mit einer guten Verpackung wickelt man nicht nur die Ware ein sondern auch den Käufer.«

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Im Übrigen bin ich der Meinung, dass TTIP zerstört werden muss

Montag, 12. Oktober 2015

Dem alten Cato ging es dauernd im Kopf herum. Er konnte nicht aufhören daran zu denken: Solange es Karthago noch gab, konnte sich Rom nicht sicher sein, dachte er. Sogar beim Gelage dachte er noch daran. Und als er sich die Stümpfe, die mal seine Zähne gewesen waren, mit einem Stück Rinde schliff. Immerzu dachte er, dass es mit Karthago ein Ende nehmen muss. Aber seine Zeitgenossen waren milder als er. Und so entschloss er sich, es ihnen immer wieder unter die Nase zu reiben. Bei jeder seiner Reden im Senat, auch und gerade dann, wenn es gar nicht inhaltlich um Karthago, das Mittelmeer oder Nordafrika ging, endete er mit: »Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.« Übersetzt: »Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.« Heute treiben uns andere Dinge um. Aber der Reihe nach - oder halt, ich möchte nochmal beginnen. Also alles auf Anfang.

Die Kanzlerin und ihr Vize wollen die Flüchtlingskrise in den Griff kriegen. Das ist schön. Sie sagen, dass wir es schaffen können. Hübsche Worte. Aber es fehlt an allem: Geld, Vorstellungen und auch an Maßnahmen, wie man Flucht künftig weniger zwangsläufig machen will. Gleichzeitig sind beide aber große Anhänger des Freihandelsabkommens mit den Vereinigten Staaten. Beides passt nicht zusammen. Denn die Freihandelszone zwischen den beiden Riesen wird Verlierer verursachen. Nicht nur innerhalb des Abkommens, sondern auch außerhalb. Das hat sogar das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung irgendwie spitz gekriegt und daraufhin eine Studie veranlasst. Das ist jetzt ein Jahr her. »Es kann nicht sein, dass wir die dortigen Märkte schwächen, um dann wiederum Aufbau- und Entwicklungshilfe zu leisten«, merkte Bundesentwicklungsminister Müller damals an. Dumm nur, dass man die Studie dann bei den tendenziellen TTIP-Freunden des ifo-Instituts in Auftrag gab. Die haben dann folglich die Bedenken, dass es da Paradoxien geben könnte, vollumfänglich zerstreut. Alles im Lot. Es gibt kaum Verlierer in Entwicklungs- und Schwellenländern.

Ein Jahr zuvor hat dasselbe ifo-Institut noch weniger fröhlich entkräftet. Nicht, dass man damals gegen das Abkommen war. So weit ging die Objektivität dann nicht. Aber man kam zu dem Schluss, dass die beiden Giganten, sofern sie einen geschlossenen Markt darstellten, zwangsläufig andere Länder und Weltregionen noch weiter abdrängen würden. Es würden weniger Exporte in die TTIP-Zone strömen und diesen Handelspartnern notwendige Devisen kosten. Das Pro-Kopf-Einkommen würde in afrikanischen Ländern zwischen zwei und sieben Prozent sinken. Die Lebensbedingungen sich abermals verschlechtern. Und das alles bei einem TTIP-Szenario, das nicht mal von starken Impulsen innerhalb der Freihandelszone ausgeht. Die Bertelsmann Stiftung schrieb damals, dass »der Rest der Welt Nachteile [hat]« - auch sie ist jedoch nicht gegen das Abkommen. Und nicht nur schwache Handelspartner würden ausgeschlossen. Auch Australien und Kanada (trotz CETA) wären davon betroffen.

TTIP wirkt in alle Bereiche hinein. In alle Gegenden der Erde. Sogar bis ins das Herz von Afrika. Es bringt weder Wohlstand für die Menschen innerhalb der Zone noch Verbesserungen für die außerhalb. Das Abkommen wird die Fluchtbereitschaft intensivieren und weitere Anreize dafür schaffen. Wer heute also sagt, dass wir die Krise in den Griff bekommen, der muss kurzfristige Maßnahmen ergreifen (Wohnraum, Versorgung etc.) und gleichzeitig langfristige Ansätze finden (Prävention, Ursachenforschung etc.) - bei letzteren kommt TTIP ins Spiel. Wer möchte, dass Flüchtlinge nicht mehr in dieser Zahl nach Europa kommen, der sollte nicht über Auffanglager und Stacheldraht reden, sondern darüber, was man tun kann, um die Lebensbedingungen der Menschen vor Ort zu verbessern. Das Freihandelsabkommen bewirkt das Gegenteil davon. Es ist wie der Tropfen Wasser, den man in heißes Öl träufelt.

Die Verhandlungen um TTIP wären daher sofort einzustellen! Als flüchtlingspolitische Maßnahme! Wer das eine verspricht und das andere tut, der hält die Öffentlichkeit zum Narren. Feuerwehrmänner, die Brände legen und dann heldenhaft löschen, sind keine Helden. Das sollte besonders Sigmar Gabriel wissen. Wer helfen will, der muss jetzt die Verhandlungen abbrechen.

Wir kommen einfach an diesem Freihandelsabkommen nicht mehr vorbei. Es wird unser aller Leben in allen Bereichen erfassen. Daher werde ich nicht nur die Texte der kommenden Montage, an denen ich über TTIP schreiben möchte, mit dem Satz »Im Übrigen bin ich der Meinung, dass TTIP zerstört werden muss« beenden. Ich werde jeden meiner Texte so ausklingen lassen. Egal um was es vorher auch ging. Ich kann nicht mehr anders. Denn selbst wenn ich von vollen Straßenbahnen und Zahnseide berichte, lauert irgendwo darin eine Konsequenz aus dem Abkommen. So dachte der alte Cato auch. Egal was war in Rom, Karthago war immer präsent im Kern. So war er, der alte Generalist. So sei es also: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass TTIP zerstört werden muss.

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So schüttelt Rudi Cerne Ihnen nie die Hand

Freitag, 9. Oktober 2015

Wenn man irgendeinem kleinen Betrüger das Handwerk legt, dessen Machenschaften aufdeckt und damit die Allgemeinheit vor weiteren Schwindel bewahrt, dann sagt man gemeinhin dazu »Zivilcourage«. Vielleicht landet man in der Folge sogar beim ZDF und wird von Rudi Cerne belobigt. Und wenn man so richtig imponiert hat mit seiner Zivilcourage, schüttelt einem der jeweils aktuelle Bundesinnenminister die Hand und überreicht einen Preis und ein hübsches Sümmchen. Zivilcourage soll sich ja schließlich auszahlen. Außerdem muss man so ein soziales Verhalten auch deswegen belohnen, weil es viel zu selten (und angeblich immer seltener) vorkommt. Auf der Agenda der Gesetzeshüter steht daher, solche Menschen hervorzuheben und zu küren, die den Mut hatten, sich von ihrer eigenen Courage leiten zu lassen. Ermutigung muss schon sein.

Ein anders Wort für Zivilcourage heißt heute »Whistleblowing«. Kaum nimmt dasselbe Verhalten einen Anglizismus als Umschreibung an, schon scheint es vorbei zu sein mit Ermutigung, Belobigung und Preisverleihung. Bundesjustizminister Heiko Maas schummelt zwischen den Seiten der geplanten neuen Vorratsdatenspeicherung einen Anti-Whistleblowing-Passus hinein. Plötzlich soll die Aufdeckung krimineller Machenschaften also kein Gegenstand allgemeiner Zustimmung mehr sein, sondern strafrechtliche Relevanz haben.

Zugegeben: So plötzlich ist das auch nicht. Denn es ist ja nicht wirklich neu, dass man diese Art von Zivilcourage außer Kraft setzen will und kriminalisiert. Dass man so tut, als sei sie gar keine Zivilcourage, sondern irgendwas Gegenteiliges. Niedertracht und Verrat. Und obendrauf auch noch Betrug – also das, was der Whistleblower aufdecken will, ist er von einen Moment auf denen anderen selbst. Aber was ist denn bitte der Unterschied, wenn ich bei einem Spaziergang sehe, dass da irgendein Kerl eine alte Frau abzieht, mein Gewissen rebelliert und ich ihn abhalte und schnell die Polizei einschalte und dem, was Whistleblower gemeinhin tun? Es ist dasselbe Prinzip. Nur weil er in einem Dienstverhältnis steht, kann doch sein Gewissen dennoch aufbegehren und einfordern, dass miese Machenschaften alle erfahren müssen. Ohne couragierte Leute bei Spaziergängen gäbe es noch mehr Betrug – und ohne Hinweisgeber würde man viele Handlungen aus Wirtschaft und Behörden nicht kennen. Dass jemand der Presse weitergibt, dass sein Dienstherr Daten abgreift und damit schachert, irgendwelche Stoffe wissentlich falsch entsorgt oder verarbeitet, skandalöse Arbeitsverhältnisse pflegt und so weiter, darüber müssen wir doch froh sein als Gesellschaft. So froh wie über jeden, der mithilft, Betrug im Kleinen aufzudecken und auf Bauernfänger aufmerksam macht. Ob das eben klassische Whistleblower sind, investigative Journalisten oder ganz normale Bürger, die entschlossen handeln ist doch eigentlich gleich.

Wie gesagt, neu ist es nicht, dass man solche Leute immer dann »Verräter« nennt, wenn sie nicht im Kleinen agieren, sondern das Große streifen. Dass man aber das Wegschauen wieder mal gesetzlich fördert, wirft das passende Licht auf die Vertreter und Eliten dieses Gemeinwesens, die so oft das eine sagen und das andere tun. Denn wo sie jemanden Zuspruch widmen, wenn er kleine Verbrecher zur Strecke bringt, da rufen sie laut nach Sanktionen für die, die Wirtschaftsverbrechen aufzudecken drohen. Was Maas da wohl vorschwebt ist ein Staatswesen, in dem kleine Betrüger und Drückerkolonnen wohl gemeldet werden sollen, aber diejenigen, die im ganz großen Stil und in der Wirtschaft kriminell agieren, die erhalten gesetzlichen Schutz und sollen vor illoyalen Mitarbeitern abgeschottet werden. Das Ende aller Zivilcourage ist das Ziel immer dort, wo ein Arbeitsvertrag zwischen den Parteien steht. Wirtschaftskriminalität soll es wohl leichter haben in Zukunft.

Assange und Snowden haben die Menschen doch verunsichert und die Planungssicherheit aufs Spiel gesetzt. Das stört die Geschäfte. Aber eben nicht nur diese beiden Koryphäen gelingt das, sondern auch all den kleineren Hinweisgebern, die auf Ungereimtheiten hinweisen. Und daher gehören sie domestiziert, an ihre Arbeitgeber gebunden – damit auch morgen noch Abgaswerte ins Genehme gekürzt werden können, ohne dass irgendeine Ratte die hübsche Illusion eines rundum perfekten Lebens stört und Profite in Gefahr bringt.

Anders gesagt: Wenn Sie morgen beobachten, dass ein Vertreter eines Versicherungsunternehmens bei der Oma gegenüber die Klingel putzt und diese mit unlauteren Mitteln zur Unterschrift presst, dann sollten Sie Zivilcourage zeigen. Es sei denn, Sie sind selbst Angestellter desselben Unternehmens - und sei es nur als Hausmeister. Dann schauen Sie besser weg. Lassen Sie die Alte unterzeichnen. Selber schuld. Reden Sie sich ein, dass die Frau ja einen freien Willen hat, von dem sie dummerweise keinen Gebrauch machen wollte. Nicken Sie dem Kollegen zu und seien Sie froh, dass in Ihrem Unternehmen Loyalität ein hohes Gut ist. Das ist billiger für Sie und Ihre Familie. Nicht jedes Verbrechen ist schließlich ein Verbrechen. Und glauben Sie bloß nicht, dass Sie beim Cerne in der Sendung landen, wenn Sie hier den Helden mimen.

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Ein verkaufsoffener Sonntag als Tag der deutschen Einheit

Donnerstag, 8. Oktober 2015

Das Einheitsfest, das in Frankfurt stattfand, war ein staatstragendes Volksfest für Gewinnertypen. Die DDR als ein Teil der Einheit hatte nur Geltung als Unrechtsstaat. Es war überhaupt so ein denkwürdiges Wochenende zwischen antieskapistischem Schutzwall und sonntäglichen Shopping.

Ach, was war Frankfurt selig. Besonders am Sonntag, am Tag nach dem Tag der deutschen Einheit. Denn die Geschäfte machten auf. Das war ihre Wiedergutmachung für einen verlorenen Samstag des Konsums. Da hatten all die Mitarbeiter im Handel mal die Chance auf ein völlig freies Wochenende – und dann war es wieder nichts. Ironie der Geschichte, dass man dieses Motiv für die viel zu schnelle Einheit bemühte. Besonders die Union ging ja damals mit dem Konsum, vulgo »D-Mark« genannt, hausieren und sicherten so ihrem Kanzler im Umfragetief die Wiederwahl. Plötzlich ging es dann im Osten nicht mehr um die Liberalisierung des real existierenden Sozialismus, sondern um die schnelle Verwirklichung von Konsumwelten, wie sie der Westen kannte. Passend dazu also eine Reminiszenz darauf am Wochenende: Nach dem Tag der Einheit ein Sonntag des Konsumismus. Damit wir ja nicht vergessen, dass die Verführung in den Schaufenstern das Fundament dieser Einheit nach westlichem Muster war.

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Wann verteilen Sie Grundgesetze auf Bayerisch, Pfälzisch und Hessisch, Herr Gabriel?

Mittwoch, 7. Oktober 2015

Erst kürzlich stritt ich mich mit einem Kollegen über die Todesstrafe. Er war grundsätzlich nicht dagegen. Ich grundgesetzlich schon. Freilich auch weil ich sie aus weniger juristischen Gründen für falsch erachte. Rache halte ich für keinen besonders guten Ratgeber. Vor Jahren gab es wiederum Diskussionen mit einer Bekannten. Es ging über die damals übliche Praxis, Wohnungen von Leistungsbeziehern einfach mal so von Jobcenter-Mitarbeitern inspizieren zu lassen. Wer Geld vom Staat erhalte, so argumentierte sie, der müsse halt wissen, dass das Leben kein Zuckerschlecken sei. Ich fragte sie, wieso die im Grundgesetz garantierte Unverletzlichkeit der Wohnung für die Armen nicht Bestand haben sollte. Die Behörden selbst fragten sich das damals natürlich auch nicht und drangen unter Drohungen in Schlafzimmer und Bäder ein und zählten Zahnbürsten und das Kaffeeservice.

Noch so Fälle: Ein ehemaliger Nachbar sah es als notwendig an, dass man den Sozialstaat kippen müsse: Kein Geld mehr für Faulenzer. Aber sollte die Bundesrepublik nicht ein sozialer Staat sein? So steht es doch im Grundgesetz. Letztens saß eine pikierte Dame neben mir im Zug und äußerte, sie würde die Mutter mit dem plärrenden Kind aus selbigen werfen, wenn es nach ihr ginge. Ging es aber nicht. Ich kenne übrigens auch etwaige Sexisten. Sie hätten gerne mehr Geschlechterspezifika und Stereotype im Leben. Die geschlechtliche Gleichheit aus dem Grundgesetz halten sie für Quark. Wieder andere wollen mehr Trennung von Religionsgruppen oder sogar eine Besserstellung von Religionen, die man als heimisch attestiert. Neulich wollte erst ein Politiker - als berühmteste Figur dieser Ansicht - nur christliche Flüchtlinge aufnehmen. Es ging ihm also nicht um Not und Verfolgung, sondern um Zugehörigkeiten. Völlig ungrundgesetzlich.

Dann gibt es welche, die zahlen keine Steuern, lassen ihr Geld ins Ausland flüchten. Schreiben bei der Doktorarbeit ab oder passen Abgaswerte an Abgasnormen an. Wieder andere zünden Flüchtlingsheime an oder jagen Ausländer durch ihr idyllisches Dorf. Und es gibt solche, die Schmiergelder nehmen oder einfach bloß ihr bisschen Macht, dass sie hinter einem Behördenschreibtisch verliehen bekamen, gnadenlos an Bürger austoben, die sie wie Bittsteller behandeln. Ganz andere lügen bei der Berichterstattung oder wiegeln die Gesellschaft auf. Und dann sind da noch die, die Arbeitskräfte ausbeuten, kaum Lohn zahlen und es den Sozialkassen überlassen, den Erhalt ihrer Arbeitskräfte mittels Aufstockung zu finanzieren, keine Lohnfortzahlungen leisten und sich nichts um den Kündigungsschutz scheren.

Dicke Pfälzer geben Spendern Ehrenworte und stellen sie über das Grundgesetz und sind auch noch beleidigt, dass ihr eigenes kleines Gesetz weniger wiegt. Hessische Ex-Landesherren und aktuelle Aufsichtsratvorsitzende verquicken Politik und Eigeninteressen und kleben an der Macht auch dann noch fest, wenn sie faktisch abgewählt wurden. Bayerische Mandatsträger wollen Mauern bauen oder engagieren sich Mörder, die für sie Kunstwerke basteln und verticken sie dann teuer bei Ebay. Und so weiter, und so weiter, et cetera, et cetera. Und ich frage mich: Was ist eigentlich mit »unseren Spielregeln« in all diesen Fällen?

Wieso ich jetzt überhaupt so zusammenhangslos erzähle? Ach, weil Sigmar Gabriel jetzt das Grundgesetz in arabischer Sprache drucken ließ, damit »die, die zu uns kommen, auch unsere Spielregeln kennen«, wie er es nannte. Spielregeln? Nun ja, das Wort ist irreführend, denn es ist alles andere als ein Spiel, was wir in diesem Land spielen. Es ist bitterer Ernst. Aber darum geht es an dieser Stelle mal gar nicht.

Ich finde die Aktion grundsätzlich nicht dumm. Gesetzestexte, Formulare und so weiter sollten multilingual verfügbar sein. Das erleichtert Zugänge. Gabriel sollte auch die Sozialgesetzbücher und das Bürgerliche Gesetzbuch arabisieren. Aber um Himmels willen, was machen wir mit denen, die nicht mehr zu uns kommen können, weil sie schon hier sind und die sich trotzdem nicht an die Spielregeln halten? Und ich kenne nicht wenige! Ausweisen ist keine Alternative. Man kann nicht immer nur alles von einem wegschieben. Aber können wir zum Beispiel die Gesetze, die dieses Land ausmachen, nicht in hoher Auflage auch auf Deutsch und in Dialekten drucken und sie an alle Haushalte verteilen? Sodass auch Pfälzer, Hessen und Bayern den Inhalt begreifen!

Oder warum machen wir nicht einfach ein Gesetz, dass vorschreibt, dass jeder Haushalt die Landesgesetze im Haus haben muss? Inklusive gelegentlicher Inhaltsprüfung eines notariell beglaubigten Spielregelüberprüfers, der von Haustüre zu Haustüre schwadroniert, um das Wissen der Bürger und ihren Verfassungspatriotismus zu überprüfen. Und dann bitte gleich noch einen Bußgeldkatalog für Gesetzestextleseverweigerer einführen. Man weiß doch: Ohne Druck und Anreize kommt doch nichts rum. Dann wären alle mal wieder auf das Regelwerk sensibilisiert, das wir von allen erwarten, aber selbst so schlecht verinnerlicht haben. Und weil wir natürlich wollen, dass alle das neue Gesetz zum Gesetzestextverinnerlichen und zur Schaffung von Verfassungspatriotismus verstehen, lässt Gabriel es auch gleich noch in Arabisch drucken.

Die englische Version ist übrigens vermutlich schon in Planung. Gabriel ist ja weitsichtig. Denn wenn er TTIP durchgesetzt hat, sollen doch die Anwälte und all die Hinterzimmerkonferenzen, die dann tagen, gleich mal wissen, dass sie sich an unsere Regeln zu halten haben. Wer schließlich zu uns kommt und bei uns leben und geschäftig sein will, der muss sich uns auch anpassen. Wann genau verteilen Sie die englischen Grundgesetze, die Basic Lawes im großen Stil, Herr Gabriel?

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Aus fremder Feder

Dienstag, 6. Oktober 2015

»Wenn wir Vietnamesen umsiedeln, nennen wir sie Evakuierte. Wenn sie darum bitten, evakuiert zu werden, nennen wir sie Flüchtlinge.«
- Zitat aus Kubricks »Full Metal Jacket« -

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Salazar, Franco, Pinochet, Orbán und die Bazis

Montag, 5. Oktober 2015

Was für eine Zäsur! Luden die Christdemokraten aus Bayern doch tatsächlich den Orbán ein. Den Todesstrafenbefürworter Orbán. Den Gegner der Pressefreiheit Orbán. Den, der gegen Sinti und Roma hetzt und die Republik Ungarn in bloß noch Ungarn unbenannte. Diesen reaktionären und autoritären Charakter Orbán. Diesen kleinen Pfeilkreuzler. Ja, genau den luden sie ein und verpflichteten ihn als Ausputzer vor der Abwehr. Mit Ausputzer spielt heute keiner mehr. Aber alte Taktiken sind scheinbar wieder in. Und so ein Einschnitt ist es für Bayern nun auch wieder nicht, sich mit solchen politischen Kalibern zu treffen. Das hat man auch schon gehabt. Sogar mehrfach. Das gehörte stets zur guten bayerischen Außenpolitik dazu, wie das laut ausgerufene »Kruzifix!« beim Frühschoppen nach dem Gottesdienstbesuch, wenn einem ein Weißbier aufgetragen wird, dass eine viel zu breite Schaumkrone trägt.

Ach, da ist man gerne pragmatisch. Nicht mit linken Regierungen. Aber mit den rechten Hardlinern schon. Da sagt sich der Trachtler mit Parteibuch: »Ma muass ois so nehma wias is. Da Herrgott werd' se scho wos dabei dacht hom, wenn er an Voik so an Bazi an sei Spitzn gibt.« Hinnehmen und den Dialog suchen. Wandel durch Annäherung? Wohl nicht. Also Annäherung schon. Aber warum Wandel? Doch einen linken Regierungschef muss man durch Ignoranz und sture Härte umstimmen. Wandel durch Distanz eben. »Ma muass se de Bazis scho erziahng!«

Daher liest sich die bayerische Außenpolitik auch wie ein Who is Who der modernen Despotie. Alles was Rang und Namen und Totschläger hatte ist dabei. Mit jedem hatte man was zu bequatschen. Strauß war damals den griechischen Obristen sehr nahe. Er schätzte es, dass sie Stabilität in eine Gegend des europäischen Kontinents brachten, in der sonst der Kommunismus gewütet hätte. Er und seine Gamsbartgenossen unterhielten sich mit Salazar und Franco. 1977 reiste der spätere bayerische Ministerpräsident nach Chile, um den 125. Jahrestag des Beginns der deutschen Einwanderung zu begehen. Dort lernte er den Ökonomen Hayek kennen. Kritische Worte zu Pinochet gab es keine; Hayek war schon eher kritisch: Er beanstandete, dass es eine internationale Rufmordkampagne gegen diesen neuen chilenischen Vorbildstaat gab. Strauß lehnte sich an die Diktatur an. »Warum a ned?« Mit der Apartheid hatte er auch keine Probleme. Die Welt mag Südafrika gemieden haben, aber der Freistaat war immerhin ein Freistaat, damit er machen konnte, was er wollte - auch mit Rassisten.

1983 berichtete der »Spiegel«: »Franz Josef Strauß treibt weiter Außenpolitik auf eigene Faust. Anfang Juni hatte der bayrische Ministerpräsident Mobutu Sese Seko, den Staatschef von Zaire, empfangen, ohne die Regierung in Bonn davon in Kenntnis zu setzen.« Damals half die bayerische Landespolizei dem Diktator eine Antiterrorgruppe auszubilden. Damit ja kein Widerstandskämpfer gegen den Despoten auch nur eine Chance hatte. Eine andere Szene schilderte Günter Wallraff (der übrigens in Griechenland von jenen Obristen gefoltert wurde, die Strauß sympathisch fand). Er gab sich als Türke und Mitglied der Grauen Wölfe aus, einer rechtsextremen türkischen Partei, die selbst vom Verfassungsschutz als faschistisch eingeordnet wurde. Ohne mit der Wimper zu zucken gab ihm Strauß ein Autogramm - auch (oder gerade) weil er und seine Partei keinerlei Berührungsängste mit dieser rassistischen, antisemitischen und radikalen Gruppierung hatte.

Soweit zum Verhältnis zwischen bayerischer Landesregierung zu halbseidenen Administrationen. Aber es gibt auch noch das Verhältnis bayerische Landregierung zu Bundesregierung. Denn dieses zweite Verhältnis spielt im außenpolitischen Auftreten Münchens immer tief hinein. Da steckt Trotzreaktion drin. Als wolle man Berlin (oder seinerzeit Bonn) mal zeigen, wie man Politik wirklich macht. Gerade mit den harten Jungs, die man in der Bundeshauptstadt eher distanziert behandelt, während man natürlich trotzdem mit ihnen Geschäfte abwickelt. München schenkt sich da den Firlefanz und hat keine Berührungsängste. Weil man wer sein will im Bund. Minderwertigkeitskomplexe? Oh ja! Natürlich. Das und natürlich das Business. Aber dieser Komplex, in Deutschland aufgegangen zu sein, nur eine kleine Nummer zu sein, das dominiert das Verhalten aller Christsozialen noch immer. Das berühmte bayerische Selbstbewusstsein ist eine Flucht in Statussymbolik. Mia san mia, schreit man doch nur so laut, weil man weiß, dass mia a bloß wia olle andan san. Und das stinkt natürlich Leuten, die in Trachten schlüpfen und sich bei Parteitagen um die Ohren hauen, dass sie die auserwählten Männer und Frauen dieser Republik sind.

Jetzt eben Orbán. Eben auch, weil er nützlich sein kann. Und dass er einer dieser Figuren ist, mit denen sich Demokraten nicht an einen Tisch setzen sollten, macht die Sache nicht schwieriger. Nein, sie macht die Sache für München erst spannender. Denn damit kann man wieder beweisen, wie verantwortungsvoll man doch ist. Man setzt sich sogar mit solchen Leuten an einen Tisch. Berührungsängste gibt es da keine. Man ist ihnen ja auch irgendwo nahe. Von Ein-Parteien-Staat zu Ein-Mann-Despotie ist es doch ein kleiner Schritt. Man versteht sich. Weiß wie man sich als Solist so fühlt. Und außerdem all diese Typen, Mobutu, Pinochet oder halt Orbán - verarbeiteten sie nicht auch einen Minderwertigkeitskomplex mit ihrer Politik der Isolation, Ausgrenzung, der Furchteinflössung und Gewalt? Sind das nicht die klassischen Strategien, die sich Leute ausdenken, die sich unvollkommen fühlen? Das ist der gemeinsame Nenner. So von Neurotiker zu Neurotiker parliert es sich eben manchmal nicht so kompliziert. Mit Ungarnrettern reden Bayerntümler eben auf Augenhöhe. Die einen von Europa geschmäht, die anderen vom Rest Deutschlands. Da verstehen sich halt zwei.

Aber man sollte natürlich nicht alles pathologisieren. Das bayerische Landesregierungen so mit miesen Kerlen kuscheln, ist ja keine reine Psychose. Das wäre zu einfach. Es ist nur ein Erklärungsmuster. Ein anderes wäre, dass die CSU eben gerne rebellisch ist, aber natürlich nur im reaktionärsten Sinne des Wortes. Schließlich müssen sich diese Bayern in einer arg linken Republik arrangieren. Sie halten die guten Sitten am Leben. Regulieren die linke Regierung Merkels. Und Außenpolitik mit Despoten mag zwar einen pathologischen Hintergrund in Bayern haben, aber letztlich arrangiert man solche Treffen doch nur, weil man sich mit Leuten, die brachial vorgehen, einfach identifiziert. Die ganze Rhetorik der Staatspartei klingt so, wie Orbán sie in Ungarn ins Politische umsetzt.

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Welche Chancen? Welche Chancen!

Freitag, 2. Oktober 2015

Was hätte doch aus den beiden Deutschland erwachsen können! Welche Chancen! Und wie schrecklich vertändelt sie wurden. Statt eines besonnenen Verfassungspatriotismus' machten derber Nationalismus und konsumorientierte Lust auf die D-Mark den Prozess der Annäherung unter sich aus. Eingewickelt von einem Konservatismus, der die Alternativlosigkeit der Zerschlagung aller DDR postulierte, um damit in den Almanach deutscher Geschichte zu gelangen, flößte man dem Osten Wettbewerb, deregulierte Märkte und Ellenbogenmentalität ein. Die Treuhand schlachtete nicht nur Betriebe. Sie weidete zudem die Biographien der Ostdeutschen aus, degradierte ihr lebenslanges Schaffen zu einem sinnlosen Tun. Als habe es deren Schweiß ganz umsonst oder – schlimmer noch – überhaupt nicht gegeben. Demgemäß sind geschichtliche Rückblicke heute Schauen auf den Westen; der Osten lief nebenher leise mit. Bis er ganz verstummte.

Vor einigen Jahren fiel mir Grass' Tagebuch von 1990 in die Hände. »Unterwegs von Deutschland nach Deutschland« taufte er es damals. Welche Chancen! Er beschrieb darin einen Brandt, der zunächst noch von einer deutsch-deutschen Konföderation sprach, aber zu einer moralischen Absegnung einer populistischen Wiedervereinigung nach den Spielregeln des Westens getrieben wurde. Und einen Lafontaine als Kanzlerkandidaten, der den Zusammenschluss so nicht wollte, ihn aber proklamieren musste, wenn er überhaupt eine Chance haben wollte, die kommenden Wahlen zu gewinnen. Ohne den Mauerfall wäre er Kanzler geworden. Der Dicke wäre Randnotiz geblieben. Außerdem erzählt Grass von all den hoffnungsfrohen Stimmen aus der DDR, die von einer Reform und Überarbeitung des Sozialismus träumten, die dann ganz schnell als Romantiker diffamiert und an den Rand der »Bewegung« gedrängt wurden. Sie wurden von der D-Mark denunziert.

Wir Nachgeborene des geteilten Deutschlands, wir, die wir Kinder waren, als die Teilung beendet wurde, wissen heute kaum, dass der Anschluss der Deutschen Demokratischen Republik an die Bundesrepublik, gemeinhin als Wiedervereinigung bekannt, keine geschichtliche Alternativlosigkeit war. Dass es Chancen gab, die Vorzüge beider Systeme zu verbrüdern. Welche Chancen? Selbst die damals noch junge Angela Merkel soll das in jenen Tagen der Wende gehofft und gesagt haben. Das Zitat ist aber kaum mehr auffindbar. Entweder war es gut erfunden und eine der urbanen Legenden des Internets oder es ist nicht mehr genehm und wurde wegrationalisiert. Ein Vierteljahrhundert voller Verklärung und Vergessen haben den Blick für die Tatsachen und die damaligen Möglichkeiten verschleiert.

Was uns jedoch bleibt ist die Arroganz des Westens. Dieses großspurige und inquisitorische Selbstrecht des Siegers. Ist das gerecht? Waren die Facharbeiter der DDR zu blöd, um qualitativ hochwertig zu arbeiten? Hatten sie Aufstiegsmöglichkeiten in ihrer kleinen Republik ganz ohne Leistungszwang? Welche Chancen? Waren die Führungskader einfach alle nur dämlich? Das ist jedenfalls die Lesart des Mainstreams seit Jahren. Ostalgie bedeutet nicht nur Rotkäppchen-Sekt, »Sing, mei Sachse, sing« bei »Damals wars« oder sozialistische Offenheit in puncto Freikörperkultur. Ostalgie bedeutet heute auch immer: Es war nicht alles schlecht in der DDR - nein: es war sogar alles sehr sehr schlecht. Darin gefällt sich dieses Westdeutschland, in das Ostdeutschland integriert wurde und von dem die Westdeutschen behaupten, dass die Ostdeutschen es noch nicht sind – also integriert.

Ist diese Überheblichkeit also gerecht? Monika Maron, nicht gerade für ihre verklärende Ader bezüglich ostdeutscher Wirklichkeit berühmt, fragte sich in ihrem Essay »Ich war ein antifaschistisches Kind«, weshalb die Westdeutschen ihr »eigenes Wohlergehen nur noch als eine gerechte Folge ihrer ehrlichen Arbeit ansahen, nicht aber auch als einen geographischen Glücksfall. Läge Schwaben an der Oder, läge Leipzig am Rhein ... Dann hießen die Schlagzeilen in den Zeitungen heute vielleicht: Wieder hunderttausend Demonstranten in Stuttgart.« Wenn Leipzig diesen direkt Weg nach Rotterdam, einen Zugang zur Welt gehabt hätte: Was für Optionen hätten sich da ergeben. Welche Chancen!

War es alleine der Sozialismus, der chancenlos machte? Auch. Die Isolation, in die sich der real existierende Sozialismus verstrickte, in die er aber auch gedrängt wurde, gebar keine Chancengleichheit. Und machen wir uns nichts vor: Die Orthodoxie einer mal guten Absicht war gescheitert. Mangel ist kein guter Staatsbürger. Vieles war aber auch Zufall, war historisch gewachsene Prämisse, war geographisches Pech. Der Sozialismus wäre anders geraten, wenn er in Gegenden, in der die Geographie ein kapitalistisches Fundament geschaffen hat, zur Welt gekommen wäre. Aber im Entwicklungsland Russland und dann im vom Krieg zerstörten Ostdeutschland? Das konnte nicht erfolgreich sein. All das sind aber Faktoren, die heute keine Rolle mehr spielen, die im Orkus, in den emsige Geschichtsschreiber ihnen unliebsame Elemente ihres Themas hineinstopfen, verschwunden sind. Der Westen tut so, als habe auch der Osten seine Chance gehabt. »Ihr habt es vermasselt!«, spotten sie. Man sollte zurückfragen: Welche Chancen?

Dieselbe Frage stellt der Westen denen, die ihr erstes Leben im Osten hatten. Welche Chancen? Was habt ihr denn gehabt und gemacht? Klar, jeder hatte seinen Job, war in einer Gemeinschaft der Werktätigen aufgehoben, konnte noch als Rentner in die Kantine seines Ex-Arbeitgebers gehen, dort speisen und soziale Kontakte über das Arbeitsleben hinaus pflegen. Das war gut gegen Vereinsamung. Aber was waren denn das für Jobs?, fragen sie westlich arrogant. Unnötige. Künstlich erzeugte. Das sind die Antworten, die sie geben. Der pekuniäre Blick halt. Mit Geld und Indizes vermessen sie Welt und Gestaltungsrahmen, den sich Gesellschaften geben. Dass man mit allen Mitteln versuchte, den Menschen eine sichere Basis zu ermöglichen, wird verunglimpft und als Sozialromantik verlacht. Dabei wäre es lobenswert. Und genau dieser Versuch eines besseren Konzeptes wäre die Essenz des Ostens gewesen, die wir in den Westen hätten tröpfeln lassen sollen.

Der Vorwurf der Romantik ist ja nicht falsch. Wenn eine Ehe kracht, dann denken beide Seiten gerne an die besseren Tage zurück. Sie denken an romantische Stunden und fragen sich: Wohin ist das alles geraten? So ist es auch beim Sozialromantiker. Aber was ist daran falsch? Wohin kämen wir ohne Romantik? Die realpolitische Welt ist eine traurige und eine hoffnungslose Welt. Ohne Romantik gelangen wir dorthin, wo wir heute stehen. Gefühllos und kalt. Die Marktwirtschaft nimmt keine Rücksichten auf menschliche oder gesellschaftliche Befindlichkeiten, sie ist sich Selbstzweck. Das jedenfalls war in dieser DDR-Wirtschaft, die natürlich marode war, die selbstverständlich Makel kannte – man darf das nicht bestreiten! -, nicht der Fall. Ob sie marode war, weil sie den Anspruch erfüllen wollte, für die Menschen gemacht zu sein, oder weil sie ein isoliertes, ökonomisch unkluges und überdies vom Westen nicht als Partner akzeptiertes System war, lassen wir mal dahingestellt. Zumindest der Gedanke, dass es mehr gibt zwischen Aktienkursen und Profitaussichten hätte man mitnehmen können. Doch: Vergeudet! Abgelehnt! Welche Chancen!

Wir leben stattdessen in einem Land, in dem allerlei westliche Künstler meinen, sie hätten die Wende verursacht. War es nun der Lindenberg, der Biermann oder der Amerikaner mit seiner sprechenden Rennpappe? In einem so pathetischen Klima ist kein Platz für Gedankenspiele, was uns aus dem Osten hätte bereichern können. Wenn ein fickriger alter Mann mit Schlapphut in die Kameras nuschelt, dass sein Sonderzug nach Pankow der Anfang vom Ende der DDR war und ihm dabei auch noch Fans bestätigend zujubeln und die Presse das unkommentiert abdruckt, dann ist es keine Zeit dafür, über die Chancen zu sprechen, die uns entgangen sind. Welche Chancen!, wird deshalb nur als Ausruf ewiggestriger Kader abgetan, die man um eine Silbe bereichert, damit man sie historisch verbuchen kann: Kadaver.

Vielleicht brauchen wir noch mehr zeitlichen Abstand. Ein Vierteljahrhundert ist ja nicht sonderlich viel Distanz. Wir brauchen deutlich mehr. Und wir brauchen möglicherweise eine ordentlichere Krise dieses Siegersystems. Hätte es ein westliches und ein östliches Griechenland bis 1990 gegeben, wobei der Osten abgewirtschaftet hätte, was den Westen zu Spott anfachte: Die Griechen würden heute ihren Zuständen im ehemaligen Osten nachtrauern. Eine solche Krise hier und sie würden sagen, es sei nicht alles Gold was glänzt. Würden sie schwermütig an den Osten denken und flüstern »Welche Chancen!« und an Zeiten denken, da es mehr Gewissheit gab, mehr Planbarkeit eines kleinen Menschenlebens? Möglich, dass in hundert Jahren, gibt es da die Bundesrepublik noch, sich ganz anders über diesen Osten erinnert wird.

Ein schlechtes Beispiel gibt uns das Andenken an die Hitlerjahre. Erst verschwieg man, dann sah man ein, dass man Mitschuld trug. Man sagte voller pazifistischen Drang »Nie wieder Auschwitz!« und meinte damit, »Nie wieder Krieg!«, »Nie wieder Unterdrückung!« Daher Zurückhaltung und ausgewogene Außenpolitik. Irgendwann sagte aber ein Außenminister »Nie wieder Auschwitz!« und verdrehte die Losung und daher meinte er eigentlich: Bundeswehreinsatz im Ausland. Aus der Passivität wurde Offensive. Was man da als Leitmotiv aus der Hand gab: Welche Chancen! Und übrigens: Nicht alle waren damals Verbrecher. Stimmt ja auch. Aber wenn man die Berichte heute so sieht, glaubt man, Hitler habe gegen das ganze Volk und gegen das Militär gestanden. Wie kann man das erklären? So werden jene Jahre zur unerklärlichen Zeit, zum Unfall der Geschichte. Das ist die Haltung, die schon kurz nach dem Krieg aktuell war, damals, als noch alle schwiegen.

Das soll als Beispiel dienen: So wandelt sich der Blick einer Gesellschaft auf Ereignisse über Jahre. Und wer möchte denn behaupten, dass in hundert Jahren nicht festgestellt wird, dass dieses Ostdeutschland vielleicht viele Mängel hatte, aber auch ein hehres Motiv, das man dann leider mit Eintritt der DDR in die BRD aufgab. Und dann geben sie konsterniert zu bedenken: Welche Chancen!

Vielleicht mag es dann ein Rückbesinnung auf humanistische Ideale geben, etwas mehr Milde und Rücksicht. Das Prinzip Hoffnung. Solange werfen wir alle Menschen, gleich wie klug, gleich aus welcher Einkommensklasse, in den Wettbewerb, in dem weniger Begabte untergehen und weniger Potente darben. In dem aber auch Begabte ins Hintertreffen geraten, wenn sie eben nicht potent genug sind, um den Wettbewerb mit besser ausgestatteten bestreiten zu können. Solange gibt man uns verbrämende Schlagworte an die Hand, nennt das System chancengerecht und stellt fest: Wer will, der kann. Die meisten fragen sich aber nur »Welche Chancen?« und glauben, anders kann es nicht sein, weil sie es anders nicht mehr kennen.

Dieser Text ist in einer etwas anderen Version bereits am 2. Oktober 2013 erschienen.

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Lügenmesse! Lügenmesse!

Donnerstag, 1. Oktober 2015

Es scheint, als habe dieser Konzern eine hehre Ordnung oder Etikette beschmutzt. Machen wir uns doch nichts vor! Das ist Alltag und systemimmanent bedingte Notwendigkeit. Das lernt schon jeder Arbeitsloser.

Es war die Schlagzeile der letzten Woche. Volkswagen hat im großen Stil Abgaswerte gefaket und alle haben sie wohl kräftig mitgemischt. Viele regten sich auf, fühlten sich betrogen und beschissen. Mich ließ es eher kalt. Mensch, man weiß doch, wie das läuft. Nicht erst seitdem der Dachverband der Automobile Verkaufscharts gepusht hat. Nein, hier hat ein Unternehmen nur die Prinzipien eines Wettbewerbs eingehalten, den sie uns bei der neoliberalen Erziehung zum »homo oeconomicus« immer einimpften. Man pflegte uns nämlich zu sagen, dass man seine Ellenbogen auf jede erdenkliche Weise einsetzen sollte. Und sei es mit beschönigenden Eigenschaften und »kleinen Notlügen«. Zur Erlangung der Ziele sei das in Ordnung. Das lernen in diesem Land schon Arbeitslose bei diverse Schulungsmaßnahmen.

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