Wie der junge Markus bei Herrn Kracht in die Lehre ging

Freitag, 31. Januar 2014

Kurz bevor Lanz bei RTL anfing, wurde dort eine heute fast legendäre Talkshow eingestellt, die dem heutigen Sendeformat Lanz nicht unähnlich war. Wie Lanzens Format war sie nicht rein politisch gebunden, widmete sich auch gesellschaftlichen Themen und lebte von regelmäßigen Eklats. Der damalige Moderator hat sichtlich auf Lanz abgefärbt. Sein ganzer Stil ist von diesem Großmeister der Provo-Moderation geprägt. Er hat Lanz beruflich sozialisiert und war übertrieben gesagt so eine Art Mentor für ihn. Die Rede ist von Olaf Kracht und seiner Sendung, die sich Explosiv - Der heiße Stuhl nannte.

Tatsächlich erinnert Lanz' Frage- und Moderationsstil erstaunlich an jenen Herrn Kracht. Auch dann, wenn er nicht gerade unliebsame Politiker penetriert. Das strikte Dazwischenreden ist auch dann der Fall, wenn er nicht "auf Touren kommt". Zwischenfragen, bevor der Sprechende fertig ist mit seinen Ausführungen, musste nicht nur Wagenknecht erdulden. Bei ihr war es nur besonders virtuos.

Um genauer zu sein, war das, was Olaf Kracht zwischen 1989 und 1994 leistete, gar nicht Moderation. Denn moderat, zwischen Gesprächsteilnehmern vermittelnd, trat er nicht auf. Sein Ziel war es, die Diskussion immer wieder auf die Spitze zu treiben, Streit zu entfachen und "es laut werden zu lassen". Der Erkenntnisgewinn war dabei eher zweitranging. Primär ging es darum, dass sich die Teilnehmer fetzten und dass das Publikum an den Bildschirmen in eine emotionale Achterbahnfahrt aus Wut, Spott und Überlegenheitsgefühl gerät. Hierzu musste der Leiter der Sendung auch Mittel anwenden, die eben nicht als klassische Moderation anzusehen sind. Michael Klemm weist in einer Arbeit über Der heiße Stuhl und Einspruch! darauf hin, dass die Strategie der Moderatoren darauf abziele, das "Image des Gastes anzugreifen (...) Indem er über dessen Arbeit spottet (...) und sie abwertet (...), dessen Glaubwürdigkeit und Integrität anzweifelt."

Klemm sieht diese "positive Selbstdarstellung des Moderators" als wesentlichen Bestandteil dieses Formats an, das man als Confrontainment bezeichnen könnte. Kracht hat in seiner Sendung unterschwellig und "stets in ironischem Ton" angedeutet, dass bestimmte Gäste in ihrem Lebenswandel unsolide seien. Das erreichte er mit provokanten Zwischenrufen und Unterbrechungen - und damit, den Gesprächspartner gar nicht richtig argumentieren zu lassen. Kracht sah sich als Provokateur, der die Diskussion als eine Art advocatus diaboli führe und so den Streit nähre.

Man hätte sich das Gespräch zwischen Lanz, Jörges und Wagenknecht auch in die Szenerie von Der heiße Stuhl vorstellen können. Lanz als Kracht, Wagenknecht als Person auf dem Stuhl und Jörges als der Pulk wahllos brüllender Aggressivlinge. Was die Rolle Lanzens betrifft, scheint das aber kein Zufall zu sein.

Spekulieren wir doch mal darüber, wie gierig der junge Lanz ins Fernsehen wollte und wie er sich bei den Trendsettern jener Dekade abschaute, wie man polarisiert und wie man "neu und modern talkt". Das musste man können, wollte man für das private TV interessant sein. Dieser unflätige und freche Moderationstypus, der ins Wort fiel und seine Gäste lächerlich machte, der spekulative Behauptungen aufstellte und die Zornesröte in den Gesichtern der Gesprächsteilnehmer als höchste Auszeichnung für sich in Anspruch nahm und der seine vollendete Perversion in Der heiße Stuhl gefunden hatte, beeinflusste Lanz ganz offenbar sehr stark.

Wer im Privatfernsehen und vor allem bei RTL in jenen Jahren Fuß fassen wollte, der musste frech und arrogant sein, durfte nicht an all den überkommenen Anstandsregeln im zwischenmenschlichen Dialog kranken. Förderlicher war da ein ausgeprägter Narzissmus, den man mit unverschämter Überheblichkeit paaren können sollte. Das waren die Neunziger! Da war man wer, wenn man sich nur so benahm, als ob man wer war. Das ging besonders gut, wenn man seine Mitmenschen behandelte, als seien sie nichts. Mit dieser Attitüde betrieb man Fernsehen. Man kalkulierte den Tabubruch. Hier waren schon all die gescripteten "Tabubrüche" angelegt, die heute das Programm bei RTL bestimmen. Der homo nonagesimus glaubte jedenfalls in jenen Jahren einen ganz neuen Stil entworfen zu haben. Andere entlarvten den einfach nur als selbstgefälliges Rowdytum.

Lanz steckt so gesehen immer noch in dieser Krawallo-Kultur der Neunzigerjahre fest, für die RTL von jeher eine Art rot-gelb-blaues Konservenglas war. Er pflegt einen aus der Mode gekommenen Stil, der dem Zeitgeist entstammt, in dem er noch ein Twen war. Er ist ein Confrontainer alter Schule. Natürlich nicht mehr ganz so direkt und durchschaubar wie die Meister der Gilde damals. Aber dieses Ideal blitzt bei ihm immer wieder durch. Dass er zum Beispiel nicht mal auf die Idee kam, Jörges infantiles Geschrei zu deeskalieren, hängt auch mit diesem ganz besonderen Verständnis von "Moderation" zusammen. Denn als er sich abschaute, wie man bei RTL Talk macht, da waren alle Gesprächsteilnehmer als Rüpel eingeplant. Und Rüpel weisen sich nicht gegenseitig in die Schranken. Sie geben dem Affen Zucker und setzen immer noch einen drauf.

Wie gesagt, als Lanz bei RTL landete, war Krachts Format schon wieder aus dem Programm verschwunden. Aber dieser Stil aus ruppigen Zynismus, provokanter Arroganz und yuppiesken Zügen schlug immer mal wieder durch. Allerdings polarisierte diese Form von Talk niemals mehr in dem Maße. Bis neulich eben, als das Confrontainment kurzzeitig ein Revival erlebte und die Öffentlichkeit so tat, als habe es derartige Entgleisungen noch nie gegeben. Hat sie Olaf Kracht vergessen? So lange ist das nun auch nicht her.

Als Markus Lanz beim ZDF landete, da geriet auch Der heiße Stuhl und sein Vermächtnis, diese Moderation auf Grundlage der Provokation und Eskalation, in den Öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Ein Lapsus oder ein schlechter Tag, wie das ZDF oder einige Freunde Lanzens Verhalten entschuldigten, war das nicht. Eher ein Bekenntnis zu dem Talkstil, den er sich seinerzeit abgeschaut hat und der bei RTL als seriös galt. Der Mann steckt noch immer in den ach so coolen und fetzigen Neunzigern fest, in denen man über alles laut und krachend talken wollte.


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Guter Arbeitsloser, böser Arbeitsloser

Donnerstag, 30. Januar 2014

Der Plan der Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), Menschen früher die Rente zu ermöglichen, ist zu begrüßen. Wie dieser Plan aber zwischen Kurzzeit- und Langzeitarbeitslosen unterscheidet, macht deutlich, wie tief die soziale Segregation in den Köpfen vorangeschritten ist.

Ich glaubte, ich höre nicht richtig. Andrea Nahles will die Rente mit 63 umsetzen, ganz so wie sie in den Koalitionsgesprächen thematisiert wurde. Wer 45 Beitragsjahre aufzuweisen hat, soll früher in Altersrente gehen dürfen. Keine schlechte Nachricht. Fast ein bisschen sozialdemokratisch. Ein Punkt störte mich aber trotzdem.

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Merkel droht den Ukrainern und steht dabei nicht mal auf

Mittwoch, 29. Januar 2014

In ihrer Regierungserklärung äußerte sich die Kanzlerin auch zur Lage in der Ukraine. Sie unterstütze die Opposition dort und zolle ihr großen Respekt. Sie tut das, weil sich die ukrainische Opposition "für die gleichen Werte [einsetze], die auch uns in der Europäischen Union leiten".

Welche Werte meint diese Frau denn? Die, die sie in Griechenland mit ihrer Austeritätspolitik erstickt? Oder dann doch eher jene, die sie in den Hartz IV-Reformen erblickt und für die sie bei alle europäischen Nachbarn als Notwendigkeit wirbt? Meint sie den Wettbewerb auf Lohndumping-Basis, der deutschen Unternehmen ordentlichen Exportüberschuss garantiert und den europäischen Nachbarn extreme Probleme bereitet? Oder die Polizeiattacken auf Systemgegner? Spricht sie von den europäischen Werten, die Frontex verteidigt oder dann doch eher die Europäischen Streitkräfte? Meint sie das feine Wertesystem, das sich zwischen unsinnigen EU-Richtlinien und elitärer Steuerbegünstigung erstreckt? Oder die privatisierten Gemeinwesen, die nur noch so heißen, weil sie ein ganz gemeines Wesen gegenüber denen an den Tag legen, die auf sie angewiesen sind?

Ausgerechnet diese Frau spricht von den Werten der Europäischen Union. Wie ein notorischer Fremdgeher, der für die Segnungen der ehelichen Treue wirbt. Wenn die ukrainische Opposition deckungsgleich mit den europäischen Werteempfinden dieser Kanzlerin ist, dann sagt das doch einiges über die Leute aus, die jetzt einen Regierungswechsel in der Ukraine wollen.

An die Ukrainer, die die Geschehnisse in ihrem Land nicht einschätzen können und die beiden Seiten skeptisch gegenüberstehen, ist das eine glatte Drohung. Sie lächelt den Ukrainern eine EU vor, die sie als Hauptprotagonistin zu einem gänzlich marktkonformen Abnickparlament degradiert hat. Erpresserische Sparanweisungen kommen dann später, die Unterordnung der Regierung Klitschko unter Brüssel wird man allerdings als den ersten Schritt verlangen. Dann fordert sie Reformen und meint damit: Öffnung für deutsche Unternehmen, Zollfreiheit, Steuervergünstigungen und flexible Löhne, was wiederum heißt: Billiges Personal für deutsche Investoren.

Die Expansion der Wertegemeinschaft Europa, wie sie Berlin definiert, wird rhetorisch vorbereitet. Wenn das keine Drohung ist! Sie kann sich ja alles erlauben, diese von der Presse als Inkarnation des Willens zur Macht gefeierte Frau. Sie muss bei ihren Reden nicht mal mehr stehen. Nimmt Platz und droht drauflos.


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Wie einstmals Cánovas und Sagasta

Die erste europäische Postdemokratie und ihre Folgen.

Wer sich mit der neueren spanischen Geschichte etwas auskennt, mit der Zeit des Restaurationssystems um es genauer zu sagen, der hat vielleicht den Begriff "Pardo-Pakt" oder "Pacto del Pardo" schon mal gehört. Er ist die Überschrift zu einer parteiübergreifenden Scheindemokratie, die ab 1885 das restaurative Spanien prägte.

Als König Alfonso XII. im genannten Jahr starb, war sein Sohn noch nicht mal geboren. Seine Witwe Maria Christina übernahm bis zu dessen Amtsfähigkeit die Regentschaft. Um die Monarchie in dieser schweren Zeit zu sichern, kamen die Liberalen und die Konservativen, die beiden großen Parteien dieser Epoche, zu einer Vereinbarung. Sie beschlossen, ihren Parteienstreit und jeglichen Wahlkampf einzustellen. Der Pakt, der im königlichen Palast El Pardo geschmiedet wurde, sah vor, die Wahlergebnisse so zu fälschen, dass es bei jeder Wahl einen Regierungswechsel zwischen den beiden "Vertragspartnern" gibt. Die Liste der Regierungspräsidenten dieser Zeit liest sich dann auch monoton einfach: Cánovas, Sagasta, Cánovas, Sagasta, Cánovas ...

Diese zwischenparteiliche Vereinbarung, sich gar nicht erst mit verschiedenen politischen Positionen und Ansichten aufzuhalten, sondern sich aus Gründen einer übergeordneten Sache zu einigen, kennen wir heute gewissermaßen auch. Oder anders gesagt: Das Spanien des Pardo-Paktes war vielleicht die erste Postdemokratie, die dieser Kontinent je gesehen hat.

Natürlich war das Spanien vor diesem Pakt keine Musterdemokratie, an die wir den Maßstab der Gegenwart legen könnten. Es gab ja bloß ein Zensuswahlrecht, das nur wenige Wahlberechtigte zuließ. Später etablierte man dann ein Männerwahlrecht und vergrößerte so die Zahl derer, die wählen durften. Dieser kleine Wählerwillen wurde aber gleichwohl verfälscht. Wobei klar ist, dass man die Manipulation des Wahlergebnisses von damals nicht mit der heutigen Leichtfertigkeit verwechseln darf, mit der man das Votum "austrickst". Und um die Monarchie geht es heute auch nicht mehr. Heute handelt es sich um das gekrönte Haupt einer ökonomischen Lehre, die wir Neoliberalismus nennen. Lang lebe der König - der König lebt zu lang!

Cánovas' Konservative und Sagastas Liberale vereinbarten also, dass dieses bisschen Demokratie, das innerhalb dieser Ära namens Zweite Restauration zugestanden wurde, auch noch zugunsten einer übergeordneten Sache von außerordentlicher Wichtigkeit geopfert wurde. Und das ohne, dass man den Menschen ihre kleine demokratische Freude vermieste und ihnen das Wahlrecht entzog. Sie durften ja wählen, auch wenn sie keine Wahl hatten.

Gabriel ist kein Sagasta und Merkel keine Cánovas - die Geschichte ist zu komplex, als dass sie auch nur Episoden zuließe, die sich ähnlich sind. Aber diese Idee einer demokratischen Struktur, die erhalten bleiben und die trotzdem nicht als Störenfried vorgeordneter Interessen fungieren soll, die ist dem heutigen Konzept von Demokratie schon ähnlich. Zeiten, da eine Kanzlerin ohne rot zu werden etwas von der marktkonformen Demokratie erzählen kann, sind soziologisch betrachtet verwandt mit der Regentschaftszeit Maria Christinas. Man kann sich als moderner Mensch vorstellen, wie Cánovas einigen Hofberichterstattern in den Notizblock diktierte, dass der Konstitutionalismus eine Art von monarchiekonformer Demokratie sein muss.

Der Pardo-Pakt hielt bis Anfang der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Liberale und Konservative wechselten sich in der Regierung ab und unterdrückten allerlei moderne Entwicklungen innerhalb der spanischen Gesellschaft, konservierten miteinander ein System, das schon lange am Ende war. Dann glitt man in die Diktatur Primo de Riveras ab. Das Spanien des Pardo-Paktes hat stumpf gemacht, die spanische Bevölkerung entpolitisiert und den Boden bereitet für Romantizismen von der einen starken Hand, die das Durcheinander des Staates regelt. Ein kurzes Zwischenspiel genannt Zweite Republik führte in Bürgerkrieg und abermals in die Diktatur.

Der Pakt, der die politische Streitkultur aufhob und eine Anpassung der beiden etablierten Parteien aneinander fast vorschrieb, hat den Widerstand gegen diktatorische Tendenzen nicht nur faktisch aufgehoben, sondern sogar noch begünstigt. Ich schrieb vor einiger Zeit, dass Postdemokratie immer auch Prädiktatur sei. Was nach dem Pakt von Pardo kam, bestätigt dies. So weit sind wir in unserer postdemokratischen Wirklichkeit noch nicht vorangeschritten. Hoffen wir das Beste.


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... wenn man trotzdem lacht

Dienstag, 28. Januar 2014

"Wir machen immer einen Fehler: Wir investieren Gefühle, statt sie zu verschenken."
- Werner Schneyder -

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Buhen, bis der Typ von der Bühne wackelt

Montag, 27. Januar 2014

Für eine Demokratisierung des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Tom W. Wolf schrieb via Facebook, dass er eine "Online-Petition namens "Raus mit Markus Lanz aus meiner Rundfunkgebühr" [für] nachvollziehbar" halte. Gleichzeitig sei sie aber "auch völlig albern". Wolf liegt richtig und gleichzeitig auch nicht. Recht hat er, weil Petitionen sich immer wieder als Löffel in der Schwertscheide erweisen. Unrecht hat er, weil der Zuschauer ansonsten keinerlei Möglichkeiten hat, die Ablösung einer untragbar gewordenen Person, die ihre Rechnungen von öffentlichen Geldern bezahlt, einzufordern. Diese Petition ist die schlichte Hilflosigkeit eines Publikums, das nicht einwirken kann auf ein Programm, dass es bezahlen muss.

Früher hätte man sein TV-Gerät ja theoretisch abmelden können. Heute geht das nicht mehr, weil nicht mehr jeder Besitzer eines Fernsehapparates Gebühren bezahlt, sondern jeder Haushalt. Ob er ein Gerät besitzt, ist heute gar nicht mehr wichtig. Wie gesagt, theoretisch gab es bis vor einem Jahr also noch die Option, sich dem ganzen Zirkus zu entziehen. Dann hätte man diesen Gernegroß namens Lanz nicht mehr finanziert. Heute muss man ihn finanzieren, ob man will oder nicht.

Wenn aber alle in der ersten Reihe sitzen müssen, dann müssen auch alle die Möglichkeit haben, aktiver bei der Gestaltung und bei Entscheidungen rund um das öffentlich-rechtliche Fernsehen einzugreifen. Wer zahlt, soll zwar nicht unbedingt anschaffen - das wäre vermessen und auch nicht objektiv. Aber wenigstens daran teilhaben sollte man dürfen. Diese Wohnungspauschale benötigt dringend eine weitere Reform, die den TV-Zuschauern die Möglichkeit einräumt, ihren Unmut nicht einfach nur als Leserbrief kundzutun, sondern ihn auch als Anstoß interner Debatten anzubringen.

Es wäre nur demokratisch, wenn man Personal, das von öffentlichen Geldern bezahlt wird, auch unter Kontrolle der Öffentlichkeit stellt. Mancher wird nun sagen, dass das ja passiert. Man muss unliebsames Programm ja nicht einschalten, kann dafür sorgen, dass die Quoten mies sind, dann löst sich das Problem von alleine. Tom W. Wolf empfiehlt das dann auch. "Sind die Quoten im Keller, geht der Moderator in die Wüste", glaubt er. Wieder liegt er richtig und auch nicht. Natürlich ginge das Format Lanz ins Nirwana - aber dieser Lanz ohne Format wäre dann immer noch ein von der Öffentlichkeit finanzierter Angestellter.

Die Quote ist ein denkbar ungeeignetes Mittel. Genug Leute schalten ja Sendungen auch ein, weil sie sie nicht mögen. Vielleicht dreht der Lanz ja wieder am Rad. Das will man sehen, man will ja darüber sprechen und schreiben können. Wenn man solche Gestalten nicht mehr einschaltet, weiß man ja faktisch gar nicht, ob man mit seinem "Protest mit der Fernbedienung" richtig liegt. Und wieviel gute Formate, die ein Weiterleben verdient hätten, sind durch die Quote gemeuchelt worden! Außerdem schrieb ich ziemlich genau vor einem Jahr, dass es Quoten nicht geben sollte in einem System der Rundfunkgebühr. Die wäre weitaus mehr als die Gewährleistung von Werbepausenfreiheit. Sie könnte und sollte vom Schielen auf Quoten befreien. Jetzt die Quote zur Lösung des Problems zu küren, heißt ja auch, das System der Quotenmessung weiter zu stützen.

Es müssen schon tiefgreifendere Möglichkeiten geschaffen werden, um dieses System, das jeden in die Pflicht nimmt, auch für jeden gestaltbar zu machen. Wenigstens im kleinen Rahmen. Ob da ein Zuschauerrat sinnvoll ist oder ein extra lediglich für den Öffentlich-rechtlichen Rundfunk eingerichteter Petitionsbetrieb, müsste man durchdenken. Man könnte diesem Zuschauerrat auch wöchentlich zehn Minuten Sendezeit zu einer humanen Zeit erteilen, sodass er ganz transparent über seine Arbeit berichten und für ihn unpassende Entwicklungen den Programmverantwortlichen öffentlich an den Kopf werfen kann. Sinnvoll wäre sicher auch das Anschreiben von Gebührenzahlern nach Zufallsprinzip, um zu ermitteln, was die Leute beschäftigt, was sie stört und was sie gar für untragbar halten.

Insofern ist diese Petition ein nutzloser Schritt in die richtige Richtung. Vielleicht sollte man es weniger personalisieren und nicht auf den konkreten Fall des Markus Lanz reduzieren, sondern fordern, dass das bezahlende Publikum einen Anspruch darauf hat, das Geschehen auf der Bühne zu beeinflussen. Im Theater kann man buhen und den grottenschlechten Akteur zur Verzweiflung bringen - bis er aufgibt und vor der tosenden Menge flüchtet. Die Leute haben ja auch Eintritt bezahlt. Wenn da so ein Laie eine aufgeblasene Diva gibt, dann haben sie jedes Recht dazu, sauer und laut zu werden. Das gehört irgendwie auch dazu, dass man dort mit dem Geschehen mitgeht, sich nicht auf seinen Sitzplatz isolieren lässt.

Wer in der ersten Reihe sitzt, so wie es die öffentlich-rechtlichen Sender gerne ausdrücken, der muss auch Tomaten Richtung Stümper werfen dürfen. Der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag braucht einen Passus, der dem Publikum das Buhen ermöglicht.


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Der Drogenkoch und das Laissez-Faire

Freitag, 24. Januar 2014

Kürzlich berichtete der Stern über einen Restaurantbesitzer in den USA, der seinen Laden verkauft habe, um mit dem Erlös seiner an Krebs erkrankten Mitarbeiterin helfen zu können. Der Stern nannte das "eine Geschichte, die die Herzen wärmt". Ich nenne das eine traurige Geschichte. Es zeigt nur, dass man in den Vereinigten Staaten als Krebspatient entweder Geld haben oder Blue Meth kochen können muss, um seine Überlebenschancen zu wahren.

In der gefeierten und fabelhaften US-Serie Breaking Bad geht es um Walter White, einen Chemielehrer, der an Krebs erkrankt ist. Weil er sich die Behandlung nicht leisten kann und er seine Familie nicht mittellos zurücklassen will, setzt er seine Fachkenntnisse ein, um synthetisiertes Methamphetamin zu kochen - besser bekannt unter dem Namen Crystal Meth. Von da ab geht es mit voller Geschwindigkeit in die Unterwelt. Aus anfänglichem Skrupel wird Leidenschaft. Es ist faszinierend, diesem normalen Typen zuzusehen, wie er zu einem kriminellen Mythos wird, der aber nicht einfach nur ein harter Kerl ist, sondern ein teils weinerlicher Lappen und besorgter Ehemann und Vater. Mehr will ich hier über den Inhalt der Serie nicht erzählen. Es wäre schade um die Spannung.

Es wurde viel geschrieben, was Breaking Bad alles sei. Eine Geschichte über den Drogenmarkt und die amerikanischen Methoden der Drogenbekämpfung, ein Abbild der Wirtschaftskrise, Gangsterepos und Familiensaga, eine Erzählung darüber, wie der Krebs das Familienleben bestimmt und ein Bericht über das amerikanische Gesundheitswesen. Und das alles stimmt mehr oder weniger auch. Mich persönlich beschäftigte eines ganz besonders im Umgang mit dieser Serie - und zwar die Frage: Gibt es in einem Staat, der seine Bürger bei Krankheit oder in Not krepieren lässt, überhaupt das Verbrechen?

Ich tue mich jedenfalls schwer damit, den Meth-Koch in einem derart sozial kalten Klima als einen Gangster zu sehen, auch wenn er offenbar etwas wirklich Schlechtes tut, Unheil über die Süchtigen und deren Angehörige bringt. Ist ein solcher Gangster nicht auch ein Getriebener? Und ist es nicht kriminell, wenn eine Krankenkasse eine notwendige Krebs-Therapie ablehnt und der Staat, in dem solche Ablehnungsbescheide per Post eintrudeln, das auch noch duldet? Nach Definition von Hobsbawn ist Walter White eher kein richtiger Sozialrebell. Viele Indikatoren sprechen dagegen. Ab einem gewissen Punkt geht es Walter White zudem auch nicht mehr um die Bezahlung seiner Rechnungen, sondern um Reichtum - in einer Szene sagt er, er könne jetzt nicht aufhören mit der Drogenherstellung, denn er sei im Imperien-Business. Gleichwohl kann man in ihm einen Sozialrebellen sehen. Einen, der Meth kocht, weil ihn die Gesellschaft sonst sterben lässt.

Hier kommt dieses allgemeine Lob auf den freien Markt und das Laissez-Faire auf den Punkt. Die Frage, die mich bei Breaking Bad beschäftigte, ob es denn Verbrechen gibt in einer solchen Gesellschaft, erinnerte mich an all die Reden der Marktradikalen, die für eine absolute Freiheit im Wirtschaftsleben plädieren. Als neulich der Bundespräsident ganz ähnlich klang, sah ich kurz das streng blickende Antlitz des Walter White vor mir. Denn er ist eine Parabel auf diese Politik. Breaking Bad zeigt, dass die wirtschaftliche Freiheit, wie sie als Theorie durch die Gazetten und Fernsehanstalten spukt, eine ungerechte Sache ist, solange man denen, die den Kürzeren ziehen, nicht die Möglichkeit gibt, sich auch jegliche Freiheit zu nehmen. Und sei es eben die Produktion von Drogen - oder ganz ordinär: Mord und Totschlag. Das Laissez-Faire funktioniert nicht, wenn man denen, die keinen anderen Ausweg mehr haben, allerlei Beschränkungen auferlegt.

Gleichzeitig funktioniert aber Gesellschaft nicht, wenn man keine Beschränkungen dieser Art festschreibt. Und genau hier setzt ja die Kritik derer an, die diese Lehre von der "absoluten Freiheit und nichts als der Freiheit" verurteilen. Der Sozialstaat, der von der Wirtschaft gerne als Beschränkung der eigenen Freiheit wahrgenommen wird, ist ja nicht einfach nur dem Eigennutz der Arbeiter und Angestellten geschuldet. Er soll verhindern, dass Menschen zu Drogenköchen, Mördern, Betrügern oder politischen Radikalen werden.

Es offenbart die Denkweise des Neoliberalismus, dass er die Befreiung der Unternehmer aus sozialer Verantwortung postuliert, es aber wichtig findet, dass die Polizei bessere Wohngegenden und Unternehmen schützt. Meinten die Apologeten dieser Heilslehre wirklich absolute Freiheit, würden sie es genießen in einer Gesellschaft zu leben, in der die Chance besteht, dass man sie ganz legal überfällt. Insofern tue ich mich also schwer damit, in Walter White einen einfachen Kriminellen zu sehen. Er sucht nur nach einem Ausweg, der auf legalem Weg nicht zu finden war. Diese Misere ist nicht seine Schuld. Kriminell waren erst die anderen, bevor er es wurde; kriminell waren die, die ihn hätten krepieren lassen.

Klar, man kann sein Restaurant verkaufen und von dem Geld die Not lindern. Und was macht der, der kein Restaurant hat? Breaking Bad ist für mich vor allem das Spiegelbild einer Gesellschaft, in der es von Verbrechern nur so wimmelt. Solchen, die im Untergrund tätig sind und solchen, die öffentlich und legitim als wertvolle Menschen der Gesellschaft fungieren. Dass man den Unterschied zwischen diesen beiden Typen immer schwieriger erkennen kann, ist das Verdienst dieser ökonomischen Lehre, die im Namen einer Freiheit spricht, die nur einseitig ist.

Walter White beruhigte sein Gewissen auch immer wieder damit, dass er das alles nur für seine Familie mache. In einer Szene voller Selbstmitleid wirft er das seiner Frau, die wenig bis gar kein Verständnis hat, vor. Nur für die Familie und er merkt gar nicht, dass diese Familie schon gar nicht mehr intakt ist, nicht mehr existiert, schon zerstoben und ohne Zusammenhalt ist. Da kam er mir vor wie ein Sozialdemokrat, der jammert, dass er nur für die sozialdemokratische Sache für die Große Koalition war und der gar nicht merkt, dass es eine sozialdemokratische Sache schon lange nicht mehr gibt.

Aber diese Parallele dauerte nur etwa zwei oder drei Minuten, dann dreht sich White um und verlässt seine Familie, weil er merkt, dass er als Familienmitglied unhaltbar geworden ist. Genau an dieser Stelle endet diese Parabel. Denn diese Einsicht hätte ein Sozi nie und nimmer. Er bleibt stehen und behauptet weiter, was schon lange nicht mehr ist.


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Nur die Normalität einer Konsumgesellschaft

Donnerstag, 23. Januar 2014

Was in den Medien im Falle des ADAC jetzt Manipulation genannt wird, ist in vielen Branchen gängige Geschäftspraxis. Wer glaubt denn ernstlich, dass allerlei Empfehlungen auf Seite Eins aus Überzeugung beworben werden?

Die Abstimmung des "Lieblingsautos der Deutschen" wurde über mehrere Jahre manipuliert. Das empört die Öffentlichkeit und viele ADAC-Mitglieder. Sie glauben nun ein falsches Bild von der Realität aus Deutschlands Autohäusern vermittelt bekommen zu haben. Von der massenpsychologischen Warte aus könnte man feststellen, dass dieses falsche Bild auch das Kaufverhalten manches Kunden beeinflusst hat. Denn viele VW-Golf-Käufer können doch nicht irren. Also kaufe ich mir auch einen!

Hier greift die unterbewusste Veranlagung, dass die Mehrheit aufgrund ihrer Mehrheit nicht falsch liegen kann. Francis Galton sprach schon 1906 von diesem Prinzip als die "Weisheit der Vielen". Bei Amazon oder Bonprix nennen sie denselben Schmu einfach Topseller. Da bekommt man auch quasi auf Mehrheitsbasis ein beliebtes Produkt eingeblendet. Von diesem Rang ist es dann auch schwer zu verdrängen - die Einblendung potenziert die Absatzzahlen. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so dramatisch, war es vermutlich in all den Jahren, da der ADAC sich das deutsche Lieblingsauto ersonnen hat.

Vergleichbar ist es bei diversen Büchern des Monats wie man sie zum Beispiel im Weltbild-Katalog findet. Oder auf diesen exklusiven Kaufflächen in Thalia-Geschäften, die bestimmte Bücher zum Blickfang erheben. All das sind keine Empfehlungen, die auf Grundlage von qualitativer Überzeugung entstehen. Nicht mal, weil sie beliebt bei der lesenden Kundschaft waren. Es sind finanzierte Label, die das Produkt adeln sollen. Der Verlag bezahlt die hervorgehobene Präsentation seines Buches. "Buch des Monats" ist nicht das Ergebnis einiger Literaturkritiker, sondern das Resultat einer Banküberweisung. Und bei Thalia landet man aus denselben Gründen ganz vorne im Eingangsbereich als Eyecatcher. Dass dort Mitarbeiter demokratisch abstimmen, wem sie eine solche Lage ermöglichen wollen, ist eine romantische Vorstellung, die man den Kunden gerne lässt.

Als kleiner Verlag ist man faktisch gar nicht in der Lage dazu, jemals ein Buch des Monats im Programm zu haben. Bücher des Monats produziert man nicht - man erkauft sie sich. Marktmacht nennt man das wohl, wenn Große sich Vorteile erkaufen können, die dann den Kleinen zum Nachteil gereichen. Wenn man mit Quantität Qualität vorgaukeln kann. Oder wenn man mit Geld den Eindruck ehrenwerter Referenzen erzeugt. Es ist nur eine Binsenweisheit, wenn man erwähnt, dass die Marktführer der jeweiligen Branchen nicht unbedingt die Besten sind. Sie haben meist nur das nötige Geld dazu, um sich hübsche Empfehlungsschreiben ausstellen zu lassen.

Willkommen in der Welt des Konsums und der Werbung, liebe empörte ADAC-Mitglieder! Eure heile Welt zerbröselt gerade, weil ihr naiv genug gewesen seid anzunehmen, dass Verkaufslisten etwas sind, was in dieser Gesellschaft der Krämer und Händler neutral geführt werden. Ganz so wie die Kunden großer Buchhandlungsketten glauben, dass der Händler objektive Ratschläge erteilt. Manipulierte und gepuschte Zahlen, wie sie nun beim Automobil-Club vorkamen, sind nicht der Ausnahmefall oder eine verunglückte Statistik, sondern die langweilige und durchaus auch ungerechte Normalität einer Konsumgesellschaft, in der es nur um Absatz und nichts weiter geht.

Und genau deswegen, weil der Absatz eben alles ist, kann man eine so weitreichende Entscheidung wie die Kaufentscheidung nicht einfach unbeeinflusst geschehen lassen. Sie braucht Aufsicht und eine leitende Hand. Wenn man hierzu den Eindruck eines Knallerprodukts oder eines Massenartikels erzeugen muss, dann tut man das eben. Man hätte schon ahnen können, dass ein Ranking dieses automobilen Lobbyverbandes nicht einfach nur Information ist, sondern immer auch Werbung in sich trägt.


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Die europäische Einbahnstraße

Mittwoch, 22. Januar 2014

Das politische Establishment Deutschlands ist normalerweise strikt auf Europa getrimmt. Es lobt die Idee der Europäischen Union. Kein Wunder, die deutsche Wirtschaft, für die es spricht, profitiert davon. Der Euro war ein Geschenk. Verbunden mit der Osterweiterung sowieso. Deutsche Unternehmen agieren jetzt zollfrei und ohne nennenswerte Hürden auf dem Kontinent. Der Export wurde gesteigert. Eine solche Idee müssen die Parlamentarier der Wirtschaftrepublik ja gut finden. Aber immer wieder sehen sie das Erreichte bedroht. Wenn diese störrische Union nicht so handelt, wie es die deutsche Wirtschaft gerne hätte. In solchen Momenten nennen sie die europäische Idee plötzlich anfällig und pervertiert. Dann werden sie dünnhäutig und wähnen sich unverstanden von einem Kontinent, der nur neidisch ist auf ihr schönes und erfolgreiches Land.

Spuren die anderen in der EU nicht, macht sich die Europäische Union mal für fünf Minuten von Zugriff Berlins unabhängig, dann schäumt die politische Klasse dieses Landes vor Wut. Zuletzt mal wieder, als eine EU-Kommission meinte, dass Zuwanderer aus EU-Ländern auch Anspruch auf Sozialleistungen haben. Da waren die bösen Töne, die man einige Wochen vorher noch über Europa schallen ließ, noch gar nicht richtig verklungen. Damals meinten einige EU-Mitgliedsstaaten und Madame Lagarde, dass der Exportüberschuss Deutschlands ein gravierendes Problem darstelle. Und selbst wenn die EU mal für sechs Monate zurückrudert und das IBAN-Verfahren verschiebt, mucken einige aus dem hiesigen Politikbetrieb auf und schreien voller Unverständnis, dass sie das nicht einsehen wollen.

Dieses Europa ist seit geraumer Zeit so gut zu diesem Land. Offiziell und inoffiziell. Bei zweiterem handelt es sich um so krumme Dinger wie die Rettung Griechenlands. Mit Segen der EU musste Griechenland unter Zwang zustimmen, dass Besitz und Unternehmen der öffentlichen Hand privatisiert werden dürfen. Das waren ganz besondere Schnäppchen auch und vor allem für deutsche Unternehmen. Die Deutsche Telekom hält nun für einen Spottpreis 40 Prozent der Helenic Telecoms, die vor allem Mobilfunknetze in Rumänien, Bulgarien und Albanien unterhält. Ein Bombengeschäft für das Unternehmen aus Bonn. Aber wenn Rumänen und Bulgaren die Freizügigkeit vollwertiger EU-Bürger genießen wollen, dann findet man das schrecklich unfair. Man kann Rumänen und Bulgaren Handyverträge aufschwatzen, aber sie zu uns kommen lassen, da macht man nicht mit, da wird man patzig und findet die EU doof.

Peter Mertens nennt in Wie können sie es wagen? übrigens weitere griechische Unternehmen, die auch von deutschen Großbetrieben begehrt wurden oder noch werden. Zum Beispiel der internationale Flughafen von Athen, ein Viertel des Hafens von Piräus, "ein Viertel des Hafens von Thessaloniki, ein Drittel der Hellenischen Postbank, 40 Prozent der Wasserwerke Thessalonikis, die Hälfte der Gasversorgers DEPA und ein Drittel des Gasversorgers DESFA. 99,8 Prozent des Waffenfabrikanten Hellenic Defense Systems standen zum Verkauf und die Nationallotterie sollte ebenso wie die Pferderennbahnen und die Bahngesellschaft Trainose zu 100 Prozent verkauft werden."

Wehe, da kommen Skrupel auf in der Europäischen Union. Wehe, dieser Selbstbedienungsladen ist keine Einbahnstraße mehr, dann wird man aber böse in Deutschland. Dann stellt man alles in Frage.

Für die politischen Eliten hierzulande ist klar, dass es Europa nur als "deutsche Kolonie" geben soll. Als einen Markt, in dem die deutsche Wirtschaft sich ungeniert bedienen darf, der den deutschen Wohlstand am Laufen hält. Vom Konzept gleichberechtigter Partner, die auf Augenhöhe agieren, hat sich die hiesige politische Führung schon lange verabschiedet. Stattdessen versteckt man diese Mentalität von Raubzüglern hinter beschwörenden Formeln wie Wir sind der Motor Europas! oder Wir halten Europa zusammen! Dass Deutschland Europa dringender brauchen könnte, als Europa Deutschland, schließen solche Formeln aus. Wer braucht schon eine Union, die Sparpläne verteilt, die immer die treffen, die eh schon nichts haben? Wer braucht eine Union, die Gemeingut in Privatisierung überführt und damit das Allgemeinwohl gefährdet? Aber Mitglieder, die barrierefreie Absatzmärkte und billige Arbeitskräfte brauchen, die brauchen eine solche Union dringend.

Pluralistisch hat Europa nicht zu sein, wenn es nach den Schergen geht, die die deutsche Politik in Brüssel vordiktieren. Und progressive Ansätze erstickt man mit aller Macht. Und wie stark diese Macht ist, hat man eben erst gesehen. Aus Berlin geiferte man sogleich voller Hass, dass man Armutstouristen - ein Wort, das fast aus einer faschistischen Wortschmiede zu stammen scheint - nicht alimentieren wolle und schon rudert Europa zurück, sagt, es wäre ganz anders gemeint gewesen und natürlich liege es im Ermessen der einzelnen Staaten, wie sie mit Zuwanderern umgehen wollen. Vielleicht wird in Europa nicht Deutsch gesprochen, wie Kauder es einst gern gehabt hätte. Aber man hat gelernt, es wenigstens zu verstehen.


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Aus fremder Feder

Dienstag, 21. Januar 2014

"Unter der Herrschaft eines repressiven Ganzen läßt Freiheit sich in ein mächtiges Herrschaftsinstrument verwandeln. Der Spielraum, in dem das Individuum seine Auswahl treffen kann, ist für die Bestimmung des Grades menschlicher Freiheit nicht entscheidend, sondern was gewählt werden kann und was vom Individuum gewählt wird. Das Kriterium für freie Auswahl kann niemals ein absolutes sein, aber es ist auch nicht völlig relativ. Die freie Wahl der Herren schafft die Herren oder die Sklaven nicht ab."
- Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch -

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Das hohle Geschwätz eines redlichen Intellektuellen

Montag, 20. Januar 2014

Gauck wünscht sich mehr intellektuelle Redlichkeit. Gut. So will ich mich darin versuchen, lasse einige seiner Blüten links liegen, die er im Walter-Eucken-Institut fallen ließ, und stürze mich auf diesen einzigen Satz, der als zentrale Botschaft seiner Rede gelten kann: "Freiheit in der Gesellschaft und Freiheit in der Wirtschaft gehören zusammen."

So, nun mal ganz redlich. Durchleuchten wir dieses Konstrukt aus dem Mund des Bundespräsidenten mal intellektuell. Stellen wir zunächst mal einige kritische Fragen, die sich zwangsläufig aufdrängen: Ist eine Gesellschaft unfrei, wenn sie der Wirtschaft Maßgaben abverlangt, die zum materiellen und geistigen Wohl aller beitragen sollen? Ist sie es, nur weil sich ihre Wirtschaft an Regeln zu halten hat, die das Zusammenleben aller Menschen verbessern soll? Ist die Gesellschaftsfreiheit nur möglich, wenn Wirtschaftsfreiheit heißt, so wenig Steuern wie nur möglich bezahlen zu müssen?

Ich stelle mir mal vor, dass ich Teil der Wirtschaft bin. Also der Teil der Wirtschaft, den Gauck meint, wenn er von Wirtschaft spricht. Unternehmer also. Ich stelle mir vor, ich hätte einige Mitarbeiter, die irgendwas für mich fertigen oder verpacken oder zubereiten. Demnach leben wir in einer Wirtschaft, in der ich als Unternehmer Freiheiten habe, die annähernd uneingeschränkt sind. Ich kann feuern. Ich kann wiedereinstellen. Ich kann mich so um Lohnfortzahlung oder Urlaubsansprüche drücken. Ich kann für geringen Lohn arbeiten lassen. Ich müsste nicht auf lästige Schutzgesetze Rücksicht nehmen. Ich wäre frei.

Merkt ihr was? Es heißt nur noch: Ich, ich, ich. Die unternehmerische Freiheit, die Gauck als "Freiheit in der Wirtschaft" bezeichnet, zeitigt egomanische Anwandlungen. Komisch, denn die Angestellten wären ja auch Teil derselben Wirtschaft. Wenn die sich aber die Freiheit nehmen, einen Mindestlohn haben zu wollen, sieht man das als Anschlag auf diese "Freiheit in der Wirtschaft" an. Es gibt also nur die eine Freiheit - die andere Freiheit nennt sich dann Zwang. Aber uns allen will der Mann aus Bellevue erklären, dass sich viele Deutsche vor der Freiheit fürchten. Die Unternehmer, die die Freiheit des Mindestlohns fürchten, meint er aber ganz sicher nicht.

Diese egomanische Tour dient dem, der sich selbst der Nächste ist. Die Angestellten leiden darunter. Ihre Freiheit ist beschnitten, weil sie keinerlei Sicherheiten mehr haben. Sie sind prekarisiert. Habe ich morgen noch ein Einkommen? Lohnt eine Autofinanzierung? Sollen wir endlich eine Familie gründen? Ist ein Umzug angebracht? Das sind fast existenzielle Fragen, die diese einseitige Freiheit des Marktes, den Menschen in den Mund legt. Es sind überdies Fragen, die die "Freiheit in der Gesellschaft" mehr als fragwürdig erscheinen lassen.

Seitdem die relative Wirtschaftsfreiheit Wirklichkeit geworden ist, litt die Gesellschaftsfreiheit außerordentlich. Die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse sorgte einerseits dafür. Gleichzeitig sorgt die Law-and-Order-Politik dieser ökonomischen Schule ebenso für Einschränkungen in der gesellschaftlichen Freiheit. Haben sich die Demonstranten von Occupy, die Gauck übrigens verhöhnte, nicht ein Stück "Freiheit der Gesellschaft" genommen? Und geschah die brutale Behandlung dieser Demonstranten nicht in einem Klima von Unternehmen, die immer stärker in die "Freiheit der Wirtschaft" entlassen werden? Wieso kann in einem Land, in dem die Deutsche Bank frei agiert, der Bürger seine Meinung nicht frei auf die Straße bringen, ohne mit dem Knüppel zu bekommen? War Stuttgart 21 nicht ein Aufeinandertreffen freier Unternehmen, die den Bahnhof wollten und freier Gesellschaftsschichten, die ihn nicht wollten? Und wer gewann?

Mehrere Fragen bleiben. Am besten, ich liste sie auf. Sonst wird es uferlos. Nochmals drei Fragen zwecks intellektueller Redlichkeit in dieser Angelegenheit: a) Diente die Liberalisierung der Rentenpolitik den Menschen? b) Ist die Privatisierung des Trinkwassers in vielen Kommunen ein Indikator für die Verstärkung gesellschaftlicher Freiheit? c) Hat der Wettbewerb im Gesundheitswesen einen freieren Typus von Patienten geschaffen?

Drei kurze Antworten: a) Die Menschen haben nun die Freiheit, eine private Rente zu finanzieren, die sie sich nicht leisten können, weil sich die Wirtschaft (und ihr politischer Arm) die Freiheit nahm, das Umlageverfahren zu diffamieren und auszuhöhlen. b) Die Menschen haben nun die Freiheit, teures Wasser zu trinken und müssen darum fürchten, dass diese wertvolle Ressource zum Luxusgut wird. c) Die Menschen haben nun die Freiheit, sich den Arzt oder das Krankenhaus zu suchen, das sie nicht als Patienten zweiter Klasse ansieht.

Die Privatisierung der Telekommunikation gilt gerne als Beispiel von neuer gesellschaftlicher Freiheit. Aber Mobiltelefone sind keine Errungenschaft der Telekom. Sie wären so oder so gekommen. Was Wirtschaftsfreiheit für die Gesellschaftsfreiheit bedeutet, sieht man, wenn man am Bahnhof steht und auf seinen Zug wartet, der hoffnungslos verspätet ist und man keinerlei Informationen erhält, wie man jetzt von A nach B kommen kann. Man hat der Bahn damals mehr Wirtschaftsfreiheit gewährt. Der Gesellschaft hat es wenig eingebracht. Ähnlich bei der Post.

Die "Freiheit in der Gesellschaft" hat mit der "Freiheit in der Wirtschaft" - und andersherum - gar nichts zu tun. Gauck macht aus zwei Dingen, die nicht aus einem Guss sind, sondern sich ganz im Gegenteil meistens kontrastieren, einfach einen wohlklingenden Spruch ohne Fundament. Das ist weder intellektuell noch redlich. Es ist hohles Geschwätz. Und es ist das abermalige Outing eines als integer geltenden Mannes: Er ist letztlich doch nicht mehr als ein Papagei der herrschenden Ökonomie.

So einen Satz wie "Darum ist es wichtig dafür zu sorgen, dass Wettbewerb nicht einigen wenigen Mächtigen nutzt, sondern vielen Menschen Chancen bietet", kommentiere ich erst gar nicht. Ich frage nur redlich: Warum nur vielen Menschen und nicht möglichst allen? Wahrscheinlich, weil dieser Präsident, wie der Neoliberalismus generell, lange aufgegeben hat, die Menschen als gleich anzusehen. Und warum soll überhaupt der Wettbewerb für etwas sorgen, was ihm gar nicht im Naturell liegt? Es ist geradezu unredlich, den höchsten Mann im Lande rhetorisch so lückenlos bloßzustellen. Deshalb: Schluss jetzt.

Ach so ... nur eines noch. Über eine Sache denke ich gerade noch nach. Wie kann ein Mann, der ganz ohne Wettbewerb Bundespräsident, der von vier Fünfteln des politischen Establishments zum Konsenskandidaten erkoren wurde, Sätze sagen wie "Ungerechtigkeit gedeiht gerade dort, wo Wettbewerb eingeschränkt wird"? Ich glaube, er wollte Selbstgerechtigkeit statt Ungerechtigkeit sagen. Dann gäbe der Satz zumindest im Bezug auf Gaucks präsidiale Situation sogar einen Sinn.


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So dumm wie wir war keiner vor uns

Samstag, 18. Januar 2014

Das große Glück des Berufsanfängerjahrgangs 1993 war es, dass McKinsey noch keine Studien über die Zufriedenheit der Arbeitgeber mit den Lehrlingen abgehalten hat. Sonst hätte alle Welt erfahren, wie unzufrieden unsere Lehrherrn und Arbeitgeber mit uns waren.

Warum ist eine solche Studie eigentlich erwähnenswert? Waren nicht immer alle Alten mit den Jungen unzufrieden, seitdem der Mensch überhaupt denken kann? Die ollen Griechen jammerten ob der Jugend, die nachkam. Sie glaubten, ihre Kinder und Enkel würden alles in den Sand setzen. Heute heilen wir Krebs. Manchmal jedenfalls. So viel zum Thema "in den Sand setzen".

Als ich meine Lehre zum Schlosser begann, jammerten unsere Ausbilder viel über uns. Was die damals alles von der Schule schon wussten, als sie in den Beruf gingen - und wie wenig wir. Früher haben wir ohne elektronische Hilfe Wurzel gezogen und ihr habt das kaum mit dem Taschenrechner drauf, klagten sie. Hat uns wenig beeindruckt. Dazu schimpften sie uns natürlich faul und unmotiviert. Die gleichen Worte gebrauchen jene Arbeitgeber, die McKinsey so freimütig Antwort gaben, heute auch. So offen sind sie nur, damit sie der Schlussfolgerung der Studie Hand und Fuß verleihen. Nämlich: Schulen sollten weniger bilden, dafür schon mal damit anfangen, etwas auszubilden. Unternehmen an die Schulen und so. Man kennt das.

Unsere Ausbilder damals waren sich einig: Wir sind der faulste und undisziplinierteste Haufen, den sie je vor sich hatten. Ich war diese Aussage gewohnt. Meine gesamte Schulkarriere baute auf diesen Satz. Jeder Lehrer seit der Hauptschule sagte uns: Noch nie hatte ich so eine freche und schwierige und dazu dumme Klasse. Als ich meinen letzten Klassenlehrer Jahre nach der Schule beim Einkaufen traf, klagte er über die Dummheit seiner aktuellen Klasse. Man müsse die Schulabschlüsse vereinfachen, damit sie überhaupt eine Chance haben, einen zu erhalten. Tja, dasselbe, nämlich dass wir blöder sind als alle zuvor, hast du uns damals schon vorgeworfen, antwortete ich ihm. Ach, ihr seid dagegen ja gar nichts gewesen, knirschte er mit den Zähnen. Da waren wir plötzlich rehabilitiert. Mitten in einem Supermarkt und Jahre nach der Schullaufbahn.

Klar, unsere Ausbilder lagen, wenigstens, was die Motivation betraf, gar nicht so falsch. Einer, der mit mir lernte, zog sich gerne mal während der Arbeitszeit in eine Gitterbox zurück, um dort zu pennen. Der andere erschien einfach nicht in seiner Versetzungsabteilung. Fast alle schliefen Montag noch ihren Suff aus. Und alle arbeiteten wir schön gemächlich. Warum diese Eile? Ich verzog mich regelmäßig mit einem Buch ins Klo. War spannender als der ganze Metallscheiß. So sind junge Leute halt. Immer gewesen. Werden sie immer sein. Ich finde das charmant so. Gefällt mir gut. Ernst wird es nachher noch früh genug.

Am Ende haben wir alle unsere Lehre bestanden und irgendwelche Jobs bekommen - danach schlechter bezahlte Jobs - und wieder danach waren einige arbeitslos. Spätestens da hat uns zu unserem Abschluss keiner mehr gratuliert.

Wenn die Arbeitgeber jetzt so tun, als sei die Misere am Arbeitsmarkt eine Sache dämlicher Jugendlicher, dann erwidere ich: Bullshit! Nee, daran liegt es nicht. Was hat unserem Jahrgang 1993 die abgeschlossene Lehre gebracht? Am Ende lebten die meisten von uns trotzdem in Unrast, Unsicherheit und prekären Verhältnissen. Das ist aber eine andere Angelegenheit, so weit will ich heute gar nicht gehen.

Arbeitnehmer unzufrieden mit Berufsanfängern! ist doch keine Schlagzeile. Das war nie anders. Der übliche Generationenpessimismus, der jetzt natürlich ein nettes Werkzeug namens Beratungsunternehmen bekommen hat, das Studien nur so kackt. Eine Schlagzeile, die ähnlich Neues birgt wäre Wir kommen nie mehr so jung zusammen! oder Heute beginnt der Rest des Lebens! Wissen wir ja alle. Ist nicht der Rede wert. So wie man nicht extra sagen muss, dass McKinsey ein Verein von Drecksäcken ist. Weiß ja auch jeder. Deswegen liest man es so selten in der Zeitung.


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Telefonate, die man im Schatten des Atompilzes führt

Freitag, 17. Januar 2014

Arbeit. Es geht immer nur darum. Die Hälfte aller Artikel, die so ein Magazin in die Welt setzt, hat mit Arbeit zu tun. Mit der Arbeitsmarktsituation oder mit Empfehlungen, wie man am Arbeitsplatz erfolgreich ist. Was bedeuten politische Entscheidungen für ihren Job? Und wenn ja, wie kann ich trotzdem Erfolg haben? Ja, selbst die Unterhaltung taucht in die Arbeit ab. Kaum ein Programm, in dem nicht Bewerbungen oder Stellengesuche zentrales Thema sind.

In manchen Sendungen retten Sterneköche den schlechten Arbeitsplatz von Leuten, die gerne Koch wären. Woanders wird Bewerbungsehrgeiz postuliert und erklärt, dass der, der wolle, auch könne und der, der besonders wolle, auch jegliche Chance bekomme. Dann gibt es Formate, in denen sich Arbeitgeber schön rausputzen, ihre Belegschaft bespitzeln oder wahlweise einstellen und in die Kamera erklären, dass sie Leistungsträger sind und bleiben wollen. Man sieht Leute beim Praktikum oder in der Probezeit, in der Routine des Arbeitsablaufs oder in Hochbetrieb. Immer nur Arbeit. Ohne sie scheint es keine Unterhaltung zu geben. Der homo laboris braucht sein Quäntchen Arbeit auch dann, wenn er nicht arbeitet. Er ist immer mit Arbeit, besser gesagt mit Erwerbsarbeit, beschäftigt. Wenn nicht körperlich und in Aktivzeiten, so doch wenigstens geistig und zur Kontemplation.

Das erinnert mich an eine Geschichte, die Charles Bukowski mal in einem Interview erzählt hat. Eigentlich wollte er dieses Erlebnis in sein Buch Der Mann mit der Ledertasche packen - sie war ihm aber entfallen und erst wieder bei einem Interview 1975 in den Sinn geraten.

Sie geht ungefähr so: Als er bei der Post beschäftigt war, bekamen alle dort Angestellten eine Broschüre ausgehändigt. Das muss irgendwann in den Sechzigern gewesen sein. Titel der Broschüre war: "Wie verhalte ich mich bei einem atomaren Angriff?" Nach Schilderungen, was alles passiert, wenn ein Atomschlag geschieht und der beschriebenen Aussicht, dass dann nicht mehr viel los sei, folgte einen dienstlichen Ratschlag. Für Postangestellte gäbe es für die Zeit nach einem Atomangriff eine spezielle Telefonnummer, die man wählen könne, um sich zum Dienst zurückzumelden. Ich bin radioaktiv verstrahlt, Boss, aber noch gut in Schuss! Die Post dürfte ja nach so einem Ereignis ja ziemlich im Arsch sein, aber wer dort anruft, steht auf der Liste derer, die beim Aufbau einer neuen Post helfen dürfen. Sogar mit Gehaltsnachzahlungen, glaubte Bukowski sich zu erinnern.

Bukowski sagt im selben Interview, dass er in seinen Geschichten manchmal etwas dazuerfindet, um die Realität spannender zu machen. Aber diese Sache, die war echt. Er musste sie gar nicht dramatisieren. Genau so war es. Die Öffentlichkeit habe diese Broschüre nie zu sehen bekommen.

Diese Geschichte ist so eine Art wahre Parabel auf diesen Arbeitswahn. Das Land ist radioaktiv verseucht, aber es gibt Hoffnung, denn man kann eine Arbeit durch bloßen Anruf erhalten. Dass das die Idioten an der Spitze eines Unternehmens gut finden, ist normal. Die sitzen ja wahrscheinlich in isolierten Schutzräumen und werten nur ihre Profitmaximierungsquoten aus. Dass es aber bestimmt genügend Postangestellte gab, die beruhigt einschliefen, weil sie nun wussten, ihre Arbeit ist selbst in der größten Katastrophe noch sicher, das zeigt nur, wie verinnerlicht der Mythos von der Arbeit ist. Man brauchte den Overkill nicht fürchten, denn es geht einfach weiter. Solch tröstliche Meldungen hört man heute nur selten.

Gut, vor einem Atomschlag haben wir heute keine Angst mehr. Wir haben gelernt, mit der Gefahr zu leben. Wir wollen heute nur gewährleistet wissen, dass nach einem Reaktorunglück noch die gesamte Unterhaltung auf Arbeit und Erwerb getrimmt ist. Casting-Shows für Bewerber oder Kamerateams, die Angestellte bei wer weiß was begleiten - das wollen die Leute. Und zwischendrin Berichte vom Arbeitsmarkt, Analysen und Diagnosen und Erbauungstexte. Nur wenn wir schon am Freitagabend Monday, Monday, so good to me ... trällern können, nennen wir das Glück.

Eine Welt ohne Arbeit gibt es nicht. Das leuchtet ein. Von nichts kommt ja nichts. Spießerspruch, der nicht ganz falsch ist, auch wenn man ihn oft falsch anbringt. Aber Nischen ohne Arbeit sollten doch wohl möglich sein. Die muss es sogar geben. Um Abwechslung zu haben und um abzuschalten. Aber der zeitgenössische Mensch schaltet nicht ab. Er kommt vom Arbeitsmarkt, pflanzt sich auf seine Couch und zappt in den Arbeitsmarkt hinein, bevor er vom Arbeitsmarkt liest und Seminaren über den Arbeitsmarkt in der Volkshochschule lauscht. Er ist dauernd mit dem Sachgebiet Erwerbsarbeit beschäftigt. Selbst dann, wenn er sie schon hinter sich gebracht hat und bis zum nächsten Morgen einfach vergessen könnte.

Die großen und auch teils noch die modernen Klassiker erzählen von den vielen Facetten der Liebe, von Abenteuern und Erlebnissen, von Krieg und Frieden, von Sex und Leidenschaft, von den Erfahrungen des Menschen im Alltag. Zu letzterem gehört auch die Arbeit und die kommt darin auch vor. Auch. Nicht nur. In der alten Unterhaltung flüchtete der Mensch aus seinem Trott. Max Frisch schuf einen homo faber, also einen schaffenden Menschen, der wider seinem Namen aber nicht arbeitet, sondern aus dem Mief seines Erwerbslebens flieht. Die Arbeit kommt auch da vor. Als Teilbereich des Lebens. In der neuen Unterhaltung ist sie das Leben. Der homo faber schafft fernab des Jobs. Sich Freiräume. Sich Freiheit. Wenigstens für eine Weile.

Davon hört und spürt man heute nichts mehr. Hundertprozentiger Einsatz. Immer. Überall. Wer locker läßt, der verliert. Wer nie locker läßt, verliert auch. Damit uns das aber nicht zu bewusst wird, zappen wir uns ins TV-Programm, da wird schon irgendein Arschloch auf uns warten und uns Berichte von einem ganz tollen Assessment-Center liefern. Komm, Kumpel, rappel' dich auf und sieh, wie es auch gehen kann, wenn man sich noch mehr engagiert. Und manche arme Sau glaubt es sogar.

Es gibt kein anderes Leben im Arbeitsleben. Und Arbeitsleben ist ständig. Wenn wir heute eine Reportage über die lettische Küche gucken, dann wollen wir immer auch wissen, wie die Leute ihre Speisen finanzieren, wo sie nach der Arbeit einkaufen, ob sie Arbeit haben und was sie so arbeiten. Und wenn wir dann schon dabei sind, dann bitte gleich noch einen Bericht über die lettische Konjunktur, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und den Durchschnittslohn. Über Küche alleine kann man nicht mehr sprechen. Über nichts kann man sprechen, ohne gleich das Erwerbsleben einzubeziehen. Wir lauschen den Klängen eines Barden und fragen uns, ob er davon leben kann. Wir loben die grandiose Currywurst und unterhalten uns nicht über ihre Zubereitung, sondern darüber, ob sich so ein Imbiss überhaupt rechnet. Und was hat der Mann hinter der Theke eigentlich früher gearbeitet und warum tut er das heute nicht mehr? Verlor er den Job aufgrund schlechter Konjunkturlage? Warum war sie schlecht? Und warum ist die Wurst so gut, obwohl es manchmal schlechte Konjunktur gibt? Ohne solche Fragen kommen wir nicht mehr aus.

Selbst die Ethik ist davon befallen. Jetzt liest man, dass Rumänen und Bulgaren durchaus willkommen sind in Deutschland. Nee, nicht weil man plötzlich ein liebes Mitmenschenherz gefunden hat. Weil es billige und notwendige Arbeitskräfte sind. Sie tun unserem Arbeitsmarkt gut. Arbeit ist das omnipräsente Argument.

Wir werden alle am Abend vor der Glotze hocken und unsere Müdigkeit mit dieser totalen Erwerbsverarbeitung des Daseins einlullen, wenn die Bombe runterkommt. Und ich habe nicht mal eine Telefonnummer, die ich wählen könnte. Dann ist es doch gleich besser, ich bin sofort tot. Immer noch besser als gar keine Arbeit.


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Ständeordnung oder Integration?

Donnerstag, 16. Januar 2014

Natürlich ist es wahr, dass es die öffentlichen Kassen der europäischen Industrieländer stark belastet, wenn man Zuwanderern volle Sozialleistungen gewährt. Trotzdem ist das besser, als einen exklusiven Anspruch nur für Bürger erster Klasse zu definieren.

Seehofer kam mir in den letzten Tagen wie "Bill The Butcher" vor. Jener Bösewicht aus Scorseses Epos "Gangs of New York", der als Kopf der American Natives gegen die Zuwanderungsströme aus Europa agitiert. In einer Filmszene steht er am New Yorker Hafen, beobachtet wie die Emigranten aus den Schiffen steigen und sagt zu einem Lokalpolitiker, er sehe keine neuen Bürger, sondern lediglich Strauchdiebe und Räuber. Das ist kurios, denn ist Chef einer Bande ist, die selbst vor Straftaten nicht zurückschreckt.

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Von Edmund Burke zu Joachim Gauck

Mittwoch, 15. Januar 2014

Eine besonders kurze Geschichte der politisch konservativen Freiheit.

Edmund Burke, der gegen die "Gleichmacherei" der Französischen Revolutionäre anschrieb, gilt heute als der Vater des politischen Konservatismus. Joachim Gauck, der sich die Aura eines Liberalen zugelegt hat, ist sein Urenkel. Ein kurzer Blick auf die Quintessenz von Burkes Werk verdeutlicht das. Auch er predigte Freiheit und meinte etwas ganz anderes damit.

I. Edmund Burke (1729 - 1797)

Gesellschaft war für Burke eine organisch gewachsene Ordnung, die nicht auf Vernunftprinzipien beruhe, sondern auf "the spirit of the gentleman" und "the spirit of religion". Wahre Freiheit ist die Freiheit zu tun, was sich zu tun gehört. Oder mit den Worten Burkes: "Wahre Freiheit ist die Freiheit, sich unter die Regeln zu fügen." Freiheit ist überdies, sich in Traditionen und Institutionen einzufügen. Der Bruch mit ihnen ist nicht freiheitliche Handlung, denn sie sind organisch gewachsen und daher nicht einfach zu amputieren.

Burke sah in den unteren Ständen keine richtigen Menschen. Er nannte sie "instrumentum vocale", Werkzeuge mit einer Stimme, die nicht viel wertvoller seien als das "instrumentum mutum", das stumme Werkzeug, also etwa ein Pflug oder ein Eimer. Seine "strukturierte Ordnung", beschreibt er so: "Das Tier ist für den Pflug und den Wagen, die es bewegt, das beseelende Prinzip; der Landarbeiter führt das Tier seiner Arbeit zu; und der denkende Bauer fungiert als leitendes Prinzip für den einfachen Landarbeiter. Diese Ordnungskette wo auch immer unterbrechen zu wollen wäre absurd."

Jeder hat seinen Platz. Und jeder sollte diesen Platz kennen. Das ist die natürliche Ordnung der Dinge, in der sich Freiheit entfalten können sollte. In der Französischen Revolution sah er einen Affront gegen dieses natürliche Konzept. Das müsse aber in einer Katastrophe enden - und mit Freiheit hat es nichts mehr zu tun. "Wenn die Masse nicht unter den disziplinarischen Vorgaben der Weisen, Befähigten und Reichen steht, so kann man schwerlich davon sprechen, dass sie in einer zivilisierten Gesellschaft lebt." Ganz offensichtlich ängstigte sich Burke vor der Demokratie. Über die Pariser Sansculotten schrieb er überdies: "Diese Art von Menschen hat nicht unter der Unterdrückung des Staates zu leiden, sondern der Staat würde in Niedergang geraten, wenn es solchen Leuten ob einzeln oder gemeinsam gestattet wäre, zu lenken oder zu verwalten."

II. Konservatismus und Freiheit

"Die Konservativen haben immer nur um Freiheit für die höheren sozialen Schichten und um Freiheitsbeschneidungen für die unteren sozialen Schichten gefochten", schreibt Corey Robin in seinem Buch The Reactionary Mind. Daher findet der Freiheitsbegriff bei Konservativen immer nur im engen Rahmen statt. In einer gottgewollten Ordnung, einem gewachsenen Organismus oder ähnlichen Denkkonstrukten und stets basierend auf Traditionen, die daraus sprossen.

Georg Kreisler singt in Meine Freiheit, deine Freiheit, dass Freiheit "was anderes als Zügellosigkeit" sei. "Freiheit heißt auch Fleiß, Männlichkeit und Schweiß." Man müsste im Sinne Burkes ergänzen, dass Freiheit auch bedeute, seinen Platz in der Welt zu kennen. Und davon handelt Kreislers Liedtext dann auch. Er hat einen sehr intelligenten Text über die politisch konservative Freiheit geschrieben. Über einen pervertierten Begriff, der bei Orwell mit der Losung "Freiheit ist Sklaverei" beschrieben wurde.

Der politische Konservatismus führte die Freiheit immer im Mund. Er hat davor gewarnt, dass die Freiheit in Gefahr sei, wenn der Sozialismus komme. Heute sieht er sie in Gefahr, wenn linke Wirtschaftspolitik gemacht wird. Freiheit meint aber immer eine eingeschränkte - eine die nicht einfach  Freiheit ist oder die sich einfach die Freiheit nimmt, dies oder das zu tun, sondern die sich an Maßgaben auszurichten hat. Es ist eine Freiheit, um die man bitten muss und auf die man auch verzichten sollte, wenn der Bitte nicht stattgegeben wird.

Man sollte Konservative, die viel von Freiheit sprechen, nicht mit Liberalen verwechseln. Auch dann nicht, wenn sie es auf Geheiß des obersten Amtes im Lande tun. Und damit wären wir, indem wir Generationen von Konservativen und ihrer Freiheitsrhetorik galant übersprungen haben, bei Burkes Urenkel.

III. Joachim Gauck (1940 - heute)

Die" [Ordnungskette] unterbrechen zu wollen wäre absurd", schrieb Burke. Gauck erklärt Demonstrationen regelmäßig für absurd. Die Demos gegen die Agenda 2010, auch Montags-Demos genannt, griff er scharf an. Später spottete er über die Lächerlichkeit der Occupy-Demonstrationen. Für ihn sind das Zusammenrottungen von Menschen, die vergessen haben, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist. Menschen, die die Ordnungskette durchbrechen wollen und das leitende Prinzip der Hierarchie, diesen Grundpfeiler der Freiheit, missachten.

Die Freiheit, die sich Edward Snowden nahm, nannte Gauck einen "puren Verrat". Nachvollziehbar für jemanden, für den Freiheit bedeutet, nur das zu tun, was zu tun sich geziemt. Snowden hat den Platz, der ihm zugeteilt wurde, verantwortungslos verlassen und die konservative Freiheit völlig falsch verstanden. Dafür gehört er natürlich bestraft. Die organische Ordnung, die die Gesellschaft ist, hat eben Geheimdienste und deren Praxen entstehen lassen. Sie sind quasi mit dem Organismus gewachsen. Burke spricht davon, dass man Fehlentwicklungen korrigieren sollte. Allerdings organisch, was so viel heißt wie: Die Herrscher sollten einsehen, dass etwas zu ändern sei. Es liegt also nicht im Ermessen einzelner Personen (Zitat Burke: "... diese Art von Menschen ..."), die Freiheit mit Zügellosigkeit verwechseln.

Gaucks kompletter Freiheitsbegriff ist keinem liberalem Konzept entsprungen, sondern Ausdruck eines bigotten Konservatismus. Freiheit verbindet er stets mit Regelwerk und "an sich halten". Nimmt sich jemand eine Freiheit heraus, rümpft er verächtlich die Nase und bewertet es als fehlgeleitete Freiheit. Er klingt wie der singende Kreisler: "Freiheit ist was anderes als Zügellosigkeit!" Und wahrlich ist seine Freiheit ganz viel "Fleiß, Männlichkeit und Schweiß". Wenn man Gaucks Ansichten zum Kriegseinsatz deutscher Soldaten im Ausland im Hinterkopf hat, dann ahnt man ganz besonders, welche Männlichkeit in seiner Interpretation von Freiheit steckt. Er würde als Pastor freilich weniger von organischer Ordnung sprechen. Für ihn ist sie eher gottgewollt.

"Wahre Freiheit ist die Freiheit, sich unter die Regeln zu fügen." Dieses Zitat von Burke ist ebenfalls die Losung des Joachim Gauck. Auch er predigt einen liberal aufgemotzten Untertanengeist. Er ist ein würdiger Nachfolger vieler konservativer "Freiheitshelden". Oswald Spengler und Ayn Rand bedienten sich bei Burke. Und George W. Bush soll ihn verehren. Gauck geht noch weiter: Er predigt ihn.


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#Aufschrei der Dummheit

Dienstag, 14. Januar 2014


Das was sich Ende letzten Jahres im Online-Anhang der ZDF-Sendung Wetten, dass..? ereignete, als der Moderator nämlich eine Saalwette vorstellte, bei der er dazu aufforderte, dass möglichst wenige Menschen als Jim Knopf und Lukas auftreten sollten, hatte mit Protestkultur nichts mehr zu tun. Man kreidete Markus Lanz an, dass er sich rassistischer Tradition hingegeben habe, weil er Weiße dazu aufforderte, sich als Schwarze anzumalen. So wie in den Vereinigten Staaten, als die Rassentrennung noch viel strikter praktiziert wurde als heute. Als im ersten Tonfilm der Geschichte ein Weißer einen schwarzer Jazz Singer mimen musste, um das Sittengefühl jener Tage nicht zu verletzen. Um diesem "rassistischen Treiben" eines auszuwischen, formierte sich mal wieder ein #Aufschrei.

Diese Übertreibung von zwar seltsamen Vorkommnissen zum Zwecke der Unterhaltung eines Massenpublikums geriet aber zum Glück zum Rohrkrepierer. Eine zwecklose Debatte weniger, die langfristig geführt worden wäre, wurde durch Kritik von vielen Seiten vereitelt. Dennoch zeitigt eine solche Kultur des Klickprotests Folgen. Gerade dann, wenn man sie inflationär herauskramt, wenn man aus jeder Belanglosigkeit und jeder Geschmacklosigkeit ein Sujet macht, an dem man sich protestlerisch aufgeilt. Mit so einer Empörungs-Klick-mich-Welle vergällt man die richtige, die notwendige Kritik an Rassismus und seine Folgen. Man schafft so kein Bewusstsein, sondern sediert bis in die Bewusstlosigkeit hinein. Beim nächsten Aufruf, der beispielsweise klar rassistisch unterlegte Verwaltungsakte in Jobcentern anklagt, winkt dann mancher ab und sagt: Ach, schon wieder diese wichtigtuerischen Spinner, die Mücken für Elefanten halten. 

Und seien wir doch mal ehrlich, ein Publikum, das den Rassismus des sarrazinischen Genetik-Hokuspokus nicht für verurteilenswert gehalten hat, wird mit dem Anmalen von Gesichtern zwecks Afro-Look keinerlei Probleme haben. Es ist im Vergleich hierzu ja auch nur Kindergarten.

Dieser Aktionismus, der es gut meint, und der damit das Gegenteil von gut ist, wirkt kontraproduktiv. Er höhlt aus, relativiert und übertreibt, bis er unglaubwürdig wird und wirklich notwendige Aktionen ausbremst. Sascha Lobo schreibt dieser Tage, er habe sich getäuscht. Das Internet sei nicht das, wofür er es gehalten habe. Es sei nicht Wegbereiter für Demokratie und Befreiung, sondern zerstöre die Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft. Er bezieht das vor allem auf die Geschehnisse um die Geheimdienste, die in den letzten Monaten bekannt wurden. Vielleicht muss man jedoch weitergehen, muss einsehen, dass das Internet die Summe aller Charakter und Typen ist, die vor ihm sitzen und "es bedienen". Das erklärt warum es nicht Befreiung ist, sondern einfach nur lauer Durchschnitt, ein Abziehbild der Offline-Verhältnisse. Ob es nun die dumpfen Parolen von Neonazis sind, die bei Facebook toleriert werden oder das Aufschreien bei Nichtigkeiten: Das Internet bereitet nicht den Weg für mehr Demokratie. Es pervertiert sie eher.


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Das neue Gesinde des Hauses Deutschland

Montag, 13. Januar 2014

Die spätviktiorianische Popkultur, in der wer leben.

Wenn man eine Sozialgeschichte des viktorianischen Bürgertums und seines Gesindes liest, erfährt man von arbeitenden Menschen, die keinen Dank oder gar eine angemessene Bezahlung erhalten haben. Sie mussten ihren Dienst unsichtbar erledigen und es kam nicht selten vor, dass die Herrschaften nicht mal wussten, wie ihr Personal eigentlich heißt. Man wollte es auch nicht wissen, um möglichst Distanz zwischen sich und diese Unterprivilegierten zu bekommen. Viele stolze Männer und Frauen zerbrachen und litten. Denn hätten sie aufgemuckt, wären sie auf alle Zeit gesellschaftlich geächtet gewesen. Wir sind dabei, diese Sozialgeschichte neu zu schreiben, indem wir diese Gesellschaft zu einem Haushalt machen, in dem es von domestic workers, wie dieser Stand im Englischen viel trefflicher heißt, nur so wimmelt.

Letztens erzählte mir ein Kurier, dass er nicht nur beschissen bezahlt werde, bei seinem Boss um allerlei gesetzlich garantierte Sozialstandards ringen müsse, sondern von den Leuten, die er beliefere, gar nicht als vollwertiger Mensch betrachtet würde. Sie sehen ihn nicht an, machen ihm nicht den Weg frei, obwohl er schwer beladen taumelt, sagen nicht Bitte und nicht Danke, grüßen nicht und geben ihm stattdessen ein Gefühl dafür, dass er jetzt gerade ein Störenfried ist. Ein anderer Lieferant teilte mir ähnliche Erfahrungen mit. Als der Lieferanteneingang von jener Dame zugeparkt war, die beliefert werden sollte, und er sie fragte, ob sie geschwind ihren Wagen zur Seite fahren könne, sagte sie nur pikiert: Sie sind doch Dienstleister. Nehmen Sie doch den Hintereingang.

Mir fiel ein Buch ein, das ich vor vielen Jahren mal gelesen hatte. Den Titel habe ich vergessen. Darin ging es um die Arbeitsverhältnisse der "dienstleistenden Unterschicht" auf der Insel der viktorianischen Jahre. Wenn man überhaupt von Dienstleistern sprechen kann, denn es ging um allerlei entwürdigende Stellungen im und ums Haus. Um handymen und cleaner, um boot boys und gardener. Um Dienerinnen und Diener, Mägde und Knechte, Küchenmamsells und Haushälterinnen, Dienstboten und Stallburschen. Um das ganze Gesinde, das eine bürgerliche oder adlige Familie so unter ihren Fittichen hielt. Darin wurde beschrieben, wie diese Leute arbeiteten, lebten, schliefen, aßen und sozial wahrgenommen wurden. Zwar waren sie keine Sklaven, erhielten Geld für ihre Arbeit, waren aber nicht angesehen. Sie bekamen natürlich nur wenig Geld, gerade so viel, dass sie einige Groschen hatten; Kost und Logis wurde ja zudem verrechnet. Sie hausten in engen Kammern oder schliefen in der Küche auf einer Bank, in die die Herrschaften so gut wie nie kamen. Manches Herrenhaus hatte noch nicht mal einen eigenen Schlafraum für die Belegschaft, die aber im Haushalt leben musste.

Gut, so schlimm steht es um das Gesinde 2.0 in der Prüderie dieses neoliberalen Viktorianismus dann doch nicht. Keiner pennt in der Küche bei seinem Chef. Interessant, weil vergleichbar, ist eher, dass die damalige Oberschicht dieses Gesinde zwar brauchte, um nicht selbst Hand anlegen zu müssen. Es aber auch gleichzeitig als störenden Faktor im eigenen Haus, als Belästigung des eigenen Familienlebens wahrnahm. Daher entfremdete man das Gesinde von normalen Umgangsformen, sprach es nicht mit ihren Namen an und lehrte es, den Herrschaften immer schön brav aus dem Wege gehen. Bill Bryson schreibt in seiner ausgezeichneten Kurzgeschichte der alltäglichen Dinge, dass es Herrschaften gab, die ihrem Gesinde feste Vornamen gaben und diese auch auf deren Nachfolger übertrugen. So konnten dann sechs Köchinnen über vier Jahrzehnte lang allesamt Maggie gerufen werden und der Ablauf wurde nicht unnötigerweise gestört.

So in etwa geht man heute mit dem Hausgesinde der Deutschland AG, mit den Niedriglöhnern, die dienstleisten und beliefern, die anfahren und kochen, die bedienen und servieren, die putzen und richten, die kurz gesagt: sich an Tätigkeiten abschuften, die "bessere Menschen" nicht tun wollen, auch wieder um. Mit all den Dienstboten von Hermes bis GLS oder mit allen Küchenmädchen bei McDonalds bis Subway. Auch sie dürfen nicht aufmucken. Sonst ist man schnell pikiert und glaubt, da weiß einer nicht, wohin er gesellschaftlich gehört. Aufmüpfige domestic workers werden zwar nicht wie damals sozial geächtet, erhalten keinen Eintrag ins Arbeitsbuch; sie werden einfach nur durch Erteilung von (Langzeit-)Arbeitslosigkeit geächtet. Bis sie weich genug sind, wieder ihren Dienst anzutreten. Stolz als Ausdruck sich selbst zugestehender Würde, ist diesem heutigen Gesinde auch nicht möglich.

Gerade bei diesen Jobs, die die moderne Konsumwelt zum Massensymptom gemacht hat, bei Liefer- und Bringdiensten, kehrt sich das gesamte neoliberale Menschenbild hervor. Es ist ein spätviktorianischer Drang, die Welt wieder in Herren und Gesinde zu teilen, wobei die Kaste der Herren größer wurde, jeder bezahlende Kunde kurzzeitig eine Herrschaft auf Zeit sein darf. Eine Popkultur der hierarchischen Prüderie ist im Begriff, den Snobismus der Vergangenheit neu zu reaktivieren. Fortschritt ist dabei nur, dass der Laufbursche auch Herr sein kann, wenn er die Dienste eines Paketzustellers in Anspruch nimmt.

Wobei ist das wirklich so neu? Bryson schreibt unter anderem auch, dass gewöhnliche Arbeiter Diener hatten. "Manchmal hatten Diener Diener." Das war nach Bryson so, weil die Menschen damals im "Zeitalter der Diener" lebten. Und das, so glaube ich manchmal, bricht wieder an. Solche Jobs hat es freilich immer gegeben, aber die Geringschätzung mit der man ihnen begegnet, war nie zuvor so krass. Ich weiß letztlich, wovon ich rede - ich habe ja eine Weile Pizza geliefert. Das wenige Geld war schwer verdient, weil man an beinahe jeder Haustüre erfahren hat, dass man für den letzten Dreck gehalten wird.


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Als mir die Kanzlerin an die Hose ging

Samstag, 11. Januar 2014

Kollateralschäden einer Falschmeldung, die gar keine war.

Ich hatte Feierabend und wollte nur schnell heim. An der ersten roten Ampel kramte ich mein Handy hervor, klinkte mich kurz bei N24 ein und las: "Merkel gestürzt!" Ich konnte kaum darauf reagieren, denn die Ampel wurde schon wieder grün, ich musste weiterfahren. Also warf ich das Ding auf den Beifahrersitz und machte mir so meine Gedanken.

Wer hat sie denn gestürzt? Gabriel und seine Sozialdemokraten? Sind sie doch noch über ihren Schatten gesprungen und haben erkannt, dass ihre Entscheidung für eine Koalition mit der Merkel-Administration falsch war? Oder war es ein parteiinterner Putsch, das Ende aller Zickerei und ist nun von der Leyen neue Geschäftsführerin? Ich konnte mir beides nur schlecht vorstellen. Und dass das Militär nach ägyptischer Maßgabe "das Volk befreit", glaubte ich schon gleich gar nicht. Und warum zum Teufel berichtet das Radio nichts darüber? Ich fummelte herum, landete bei Klassik und Country und blieb kurz bei einem Sender hängen, auf dem Dusty How I Can Be Sure trällerte. Unter anderen Vorzeichen wäre ich dort geblieben. Aber so? In Zeiten der Rebellion trachtete es mir nach Infos.

An der nächsten Ampel kein Empfang. An der übernächsten war es grün. Die darauf auch. Als es wieder mal rot wurde, war der Akku leer. Scheiße!

Nee, ich musste heim, wollte ich schnell mehr erfahren. Ich wurde ganz fickrig. Gab Gas. Wurde prompt auf der Heidelberger Straße stadtauswärts geblitzt und überfuhr fast zwei Fußgänger. Gut, dachte ich mir. Nach dem Sturz eines Herrschers gibt es oft Amnestien. Vielleicht erlassen sie mir ja mein Ticket. Man muss manchmal einfach realistisch bleiben. Besonders nach einem Umsturz. Jedenfalls rutschte ich auf dem Fahrersitz hin und her.

Ich parkte, riss die Autotüre auf, knallte sie gegen die Beifahrertüre meines Nachbarn, sprang über die Hecke, riss mir die Hose auf, lief zum Aufzug, der ewig nicht kam und rannte dann zuletzt doch die Treppe hoch. Wer mich gesehen hat, musste einfach annehmen, dass ich drauf und dran war, einen Schiss in die Kloschüssel hinüberzuretten. Ich schaltete einen Nachrichtenkanal ein, wartete auf die ersten Bilder vom Putsch, hörte aber nur was von einem Rutsch. Die Kanzlerin, so sagte so ein abgewichster Typ, ist gestürzt. Dass sie gestürzt wurde, bestätigte er nicht. Sie gehe jetzt immer dann an Krücken, wenn sie nicht im Bett liegt.

Leute, benutzt Verben! Nur sie beschreiben, was sich tut auf der Welt. Kanzlerin gestürzt! kann so vieles sein. Wurde oder ist - das ist doch die Frage.

Für so eine Marginalie habe ich Schaden in Kauf genommen, mir die Hose zerfetzt und eine Fotografie von mir beim Verkehr (ein so genanntes Aktfoto?) machen lassen. Kollateralschäden einer Falschmeldung, die keine war. Erst hat sie den Sozialstaat weiter deklassiert, dann Europa zu einer aus Brüssel gesteuerten deutschen Zone erniedrigt - und nun hat die Frau auch noch meine Hose ruiniert. Sie verursacht nur Schäden. Spätestens jetzt nehme ich das alles persönlich.


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Wie der kleine Tramp zur roten Fahne kam

Freitag, 10. Januar 2014

Es gibt da eine Szene in Chaplins Moderne Zeiten, die mir in den letzten Wochen immer wieder in den Sinn kam, als ich diesen Hype um diesen Chodorkowski ohne Worte beobachtete. Ich spielte sie mir im Kopf vor, bemühte später YouTube und befand: Ja, diese Szene kommt einer Parabel gleich.

Sie geht ungefähr so: Der kleine Tramp war mal wieder arbeitslos geworden und flanierte mit seinem Stöckchen die Straße entlang. Ein beladener Lastwagen biegt um die Ecke und fährt unmittelbar an ihm vorbei. Da die Last des Fahrzeugs über die Ladefläche hinausragt, ist diese mit einer roten Fahne gekennzeichnet. Die löst sich jedoch und fällt zu Boden - Charlie direkt vor die Füße. Der klaubt das Ding, das an einem Stock befestigt ist, vom Boden auf. Fahnenschwenkend läuft er hinter dem Lastwagen her. Will auf sich aufmerksam machen, die Fahne dem Besitzer zurückgeben. Einige Augenblicke später biegt ein Pulk von Demonstranten um die Ecke. Sie laufen diesem mit roten Tuch wedelnden Bannerträger nach. Charlie bemerkt nichts davon, er starrt immer noch dem Lastwagen nach. Wedelt noch. Kurz darauf erfasst die Polizei die Demonstranten. Sie hat in Charlie den Anführer einer kommunistischen Kundgebung identifiziert.

Diese Szene erscheint mir, je öfter ich mir sie ansehe, maßgeschneidert auf diesen Ex-Oligarchen, der wegen Steuerbetrug und Geldwäsche hinter Gittern saß. Aber nicht nur auf ihn. Ich glaube, viele Messiasse und Anführer, Erlösergestalten und Hoffnungsträger sind einfach nur zum richtigen Zeitpunkt an Ort und Stelle, um eine zufällig vor die Füße gefallene Flagge aufzuheben. Und dann stürmen sie los, schreien "Hallo, hallo, Sie haben was verloren!" und merken nicht, dass sie plötzlich eine Gefolgschaft in ihrem Rücken haben, die dieses Gewedel mit der Fahne als etwas interpretiert, was es gar nicht ist. Die Gefolgsleute haben ja nicht gesehen, wie der Bannerträger zu dem Utensil gekommen ist. Sie denken sich, er war immer schon da, hat nur auf Anhang gewartet. Sie sehen ja nur den einen Ausschnitt, der sich ihnen nach Abbiegen um die Ecke offenbart. Sie kennen den Typen, der ihnen voranläuft, nicht als trotteligen Finder einer Fahne, sondern als engagierten Tambourmajor für eine Sache, die sie sich einfach hinzudenken und von der dieser zufällige Typ an der Spitze des Pulks gar nichts weiß.

Woher soll ich wissen, welcher Schwertransporter an diesen Milliardär vorbeigefahren ist? Hat er die Fahne selbst aufgehoben oder hat ein Passant, der sie aufhob, sie ihm in die Hand gedrückt? Aber klar scheint mir, dass irgendein Laster eine Fahne verloren haben muss. Jungfrauen kommen sprichwörtlich zu Kindern, Heilsgestalten zu Fahnen.

Chaplin wollte mehr sagen als Seht her, die Fahne fiel dem Typen vor die Füße - das ist doch urkomisch! Ich glaube, auch er erblickte in solchen lustigen Zufällen eine Konstante, wie Heilande entstehen. Wahrscheinlich war noch jeder große Mann und jede große Frau nur durch einen Zufall an das Fähnchen gelangt, um es vorneweg zu schwenken. Plötzlich standen sie vor dem Lappen, hoben es auf, fragten nach wem es gehört und gerieten in eine Position, in der man Anhänger erhält. In der Chaplinade doppelt sich diese Heldentum durch Zufall sogar nochmals. Charlie sitzt also als Kommunistenführer im Gefängnis und gerät dort, wie auch immer - halten wir es kurz - in einen Kokainrausch, in dem er ungewollt einen Ausbruch seiner Mitinsassen vereitelt. Für diesen staatsbürgerlichen Akt hinter Knastmauern wird er vorzeitig entlassen.

Ich glaube, wir müssen die Geschichte der Menschheit als eine Akt begreifen, in der es oft zufällig Fahnen regnet, die zufällige Finder haben. Wenn ich recht überlege, kenne ich da noch eine Szene aus dem Kino, die nicht nur diese Zufälligkeit zeigt, sondern auch zu Chodorkowski passt. In Zemeckis' Forrest Gump nämlich. Forrest fängt aus Kummer und Frust zu laufen an, läuft quer durch die USA. Zeitungen berichten und plötzlich gilt er als Inkarnation des Kontemplativen, hat er eine Schar von Anhängern im Schlepptau, ja man könnte sagen: Mitläufer. Seine Absicht war das nie. Nach Monaten des Laufens bleibt er plötzlich stehen, dreht sich zu seinen Mitläufern um. Einer sagt: Er will uns etwas sagen. Und Gump sagt sinngemäß: Ich bin fertig, das wars. Er durchschreitet das Spalier seiner Anhänger und geht nach Hause.

Für mich ist das eine ganz ähnliche Szene wie die in Moderne Zeiten. Wenn auch nicht für jedermann und auf den ersten Blick. Chaplin hat ja auch nicht viel mit Sprache gearbeitet. Er mochte den Tonfilm ohnehin nicht so besonders, hielt ihn für einen Spleen, der bald wieder vom Markt verschwinden würde. Der stumme Chaplin war dann auch viel philosophischer als es der spätere, der vertonte. Jedenfalls, als Chodorkowski meinte, er würde sich politisch raushalten, auch auf juristische Schritte verzichten, da dachte ich spontan auch an Forrest Gump, wie er sich umdreht und sagt: Ich gehe heim. Nach Jahren im Gefängnis eine normale Aussage, finde ich.

Und die Mitläufer? Ach, die sind nur kurzzeitig enttäuscht. Bewahren sich ihren Messias im Herzen, bauschen "seine Lehre" weiter auf, verbrämen ihn zu einen guten Menschen, der besser als nur gut war und twittern und liken ihm den Arsch dermaßen voll, dass ihm das Lob oben wieder rauskommt. Und dann finden sie wieder einen, der zufällig eine Fahne gefunden hat, der Hallo, ihre Fahne! Hallo, ihre Fahne! Anhalten! schwenkt. Und wenn der Typ besonders gewieft ist, dann sagt er später, dass er die Fahne aus Überzeugung festgehalten, dass er sie erdacht und gebastelt habe, um Kopf einer notwendigen Bewegung zu werden. Dann sagt er nichts von Das wars, ich will heim!, sondern spricht von Vorsehung.

Das aber hat der ehemalige Oligarch nicht getan. Das macht ihn fast schon wieder sympathisch. Er hatte vermutlich einfach nur die Schnauze voll. So wie ich von denen, die ihn in den Himmel heben und nicht merken, dass sie nur die Mitläufer eines ehrlichen Finders sind, dessen Motiv lediglich war, das verlorene Gut dem Besitzer zurückzugeben.


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Die zur Gegnerschaft stilisierte Rechtsunsicherheit

Donnerstag, 9. Januar 2014

Im Überwachungsstaat gehört nicht viel dazu, um als kritischer Geist wider die Kontrollsucht eingestuft zu werden. Das hat man gesehen, als Justizminister Heiko Maas (SPD) ankündigte, die Vorratsdatenspeicherung auf Eis zu legen.

Schon im Dezember letzten Jahres äußerte sich der EU-Generalanwalt Pedro Cruz Villalón zur Vorratsdatenspeicherung. Die Medien machten daraus Schlagzeilen, die aufhorchen ließen. Kurz nachdem ich während einer Autofahrt im Radio gehört hatte, dass der Mann die Vorratsdatenspeicherung für rechtswidrig hält, erhielt ich via App eine Eilmeldung von Spiegel Online mit demselben Wortlaut. Erst Stunden später, als ich wieder daheim war, befasste ich mich intensiver mit der Meldung. Und siehe da, der Generalanwalt fand nur, dass das Vorhaben in der jetzigen Form rechtlich zweifelhaft sei. Ein grundsätzliches Problem mit dem massenhaften Sammeln von Daten aller Art hatte er jedoch gar nicht.

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Ein Grundrecht auf billiges Personal gibt es nicht

Mittwoch, 8. Januar 2014

Die Frankfurter Allgemeine hat sich mal einen neuen Grund gegen den Mindestlohn einfallen lassen. Weil nämlich viele Selbständige nicht mal annähernd einen umgerechneten Stundenlohn von 8,50 Euro hätten, ist er irgendwie nicht gerecht. Und wovon sollen Unternehmer, die selbst so wenig in der Stunde haben, ihren Mitarbeitern Mindestlohn bezahlen? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) unterfüttert diese Erkenntnis mit Zahlen und belegt, dass "ein großer Teil der Selbständigen [...] von der Hand in den Mund [lebt]".

Klar, an den Zahlen ist schwer zu zweifeln. Der Verfasser dieses Textes hat, wenn er es auf die investierte Arbeitszeit und das Einnahmevolumen umrechnet, nicht annähernd 8,50 Euro in der Stunde. Aber das ist kein Argument gegen einen Mindestlohn - es ist eines dafür.

Man muss den Eindruck bekommen, dass die Frankfurter Allgemeine ein sehr statisches Verständnis von Volkswirtschaft hat. Sie sieht die verschiedenen Mitspieler scheinbar als isolierte Größen an, die nichts miteinander zu tun haben. Dass die Einnahme oder der Lohn des einen, auch immer zugleich die Einnahme oder der Lohn des anderen ist, kommt ihr gar nicht in den Sinn. Dass ein gesteigertes Lohnniveau durch Mindestlohn also der gesamten Wirtschaft, auch den vielen kümmerlich verdienenden Unternehmern, eine Niveausteigerung einbringt, sucht man als These vergeblich.

Dabei läßt sich natürlich streiten, ob 8,50 Euro/Stunde hoch genug angesetzt ist, um das Niveau nach oben zu bringen. Aber grundsätzlich sind Kunden, die mehr in der Tasche haben, um die Leistung Selbständiger in Anspruch zu nehmen, keine trübe Aussicht. Es ist nicht ungerecht, wie es die F.A.Z. suggeriert. Nur so als Beispiel: Bleibt den Menschen mehr, gehen sie auch mal essen, fördern jenen Wirtschaftszweig, der ganz besonders unter dem Lohndumping der letzten Jahre litt und noch immer leidet: die Gastronomie nämlich.

Der Mindestlohn ist also fürwahr keine Einbahnstraße. Die Argumentation und dieses sich ewige Winden der konservativen Medien hingegen schon.

Ein Grundrecht des Unternehmers auf billige Arbeitskraft auch dann, wenn sich dieser Unternehmer eine personelle Expansion gar nicht leisten kann, gibt es zudem sowieso nicht. Die konservative Presse tut aber so, als sei genau das der Fall. Kein Wunder, hat doch die neoliberale Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre stets zum Ziel gehabt, auch erfolglosen Unternehmern Personal zum Selbstkostenpreis oder auf Allgemeinkosten zuzuschanzen. Sozial ist ja schließlich, wer Arbeit schafft. Und wenn einer billige Arbeitskraft braucht, um seine Selbständigkeit aufrechtzuerhalten, dann stand ihm die Politik nicht im Wege. Ganz im Gegenteil.

Der Mindestlohn korrigiert diese Entwicklung wenigstens ansatzweise. Er nimmt dem arroganten Anspruch auf billige Arbeitskraft in jedem finanziellen Falle die Grundlage. In Zeiten des Aufstockens und der geringfügigen Massenbeschäftigung war dieser Umstand ganz normal. Aber er ist nicht normal - er war eine Fehlentwicklung. Und die kann nur durch den Mindestlohn repariert werden. Wenn es dann Unternehmer gibt, die sich Personal nicht mehr leisten können, ist das nicht etwa eine Tragödie, sondern lediglich die Richtigstellung eines Missstandes. Wer Angestellte nicht angemessen bezahlen kann, der muss auch keine haben.


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