Do hi muasst dei Kreizal macha!

Mittwoch, 14. Mai 2014

Ich wähle bei der Europawahl »Die Linke«. Der »Wahl-O-Mat« hat mir das empfohlen. Praktisch dieses Ding. Ich wüsste sonst nicht, was ich ohne dieses Feature wählen würde. 72 Prozent Übereinstimmung überzeugten mich dann doch. Gut, dass es ihn gibt.

Neulich haben sich zwei Kolleginnen über die Europawahl unterhalten. Nichts von Qualität. Aber aufschlussreich. Im Grunde hatten beide keine Ahnung. Aber dafür einen Link zum »Wahl-O-Mat«. Denn eine von beiden hat da wohl schon mal geprüft, wen sie wählen soll. Danach würde sie sich jetzt richten, meinte sie. Ich dachte unwillkürlich an meine Großmutter, die aus Erzählungen ihrer Mutter zu wissen glaubte, dass bei der letzten »freien« Reichstagswahl irgendwelche Leute in der Wahlkabine standen, auf den Wahlbogen tippten und sagten: »Do hi muasst dei Kreizal einemacha.« Vermutlich ist das eine Legende und man brauchte in jenem Jahr gar keine Aufpasser. Schon gar nicht in der bayerischen Provinz. Aber dieses Familiennarrativ kam mir als Assoziation in den Sinn. Ich stellte mir den »Wahl-O-Mat« anthropomorph vor, wie er vor dieser Tante steht, ihr auf die Stirn tippt und sagt: »Do schau, do musst dei Kreizal hisetzn.«

»Die App nimmt mir ne Menge Arbeit ab«, sagte sagte die Kollegin zur Kollegin. Neben Preisvergleichen und Gastronomiebewertungen ist nun also auch die politische Wahl zu einer Angelegenheit von Anwendungssoftware und Apps geworden. Die »schnelle Übersichtsmentalität« hat auch das Abwägen und Durchdenken vor den Urnengang ersetzt. Kurz und knapp gehalten, für Leute, die keine Laune haben, sich politisch zu informieren. So wie sie auch keine Lust dazu haben, von Deichmann zu Reno zu Siemes zu kariolen, um nur ja die günstigste Stiefelette zu erstehen. Sie tippen es stattdessen in ein Vergleichsportal oder eine Vergleichsapp ein und wissen unverzüglich, wohin die Shoppingtour zu gehen hat.

So wie man dem Verbraucher Zeit erspart und Vergleichskompetenzen abnimmt, so nimmt der »Wahl-O-Mat« den Wählern die Kompetenz ab, die eigenen Vorstellungen mit den Programmen und Gesichtern der politischen Parteien abzugleichen. Die reine Billigmentalität lässt den Kunden dann vielleicht zum Reno fahren - andere Faktoren, die einen Kauf begünstigen, Fachberatung zum Beispiel oder so banale Dinge wie das Ambiente eines Ladens, kommen gar nicht mehr zum Zug. Ähnlich bei der »Beratung« durch den »Wahl-O-Mat«. Denn eine hohe Übereinstimmung mit der Vergänglichkeit eines parteilichen Wahlprogrammes muss ja nicht gleich Gewissheit an der Urne bedeuten. Auch wenn die höchste Übereinkunft mit den Positionen der Grünen gegeben ist, könnten andere Faktoren wie das blasse Personal oder einfach nur zeitgeistliche Präferenzen, die Wahl von »Die Linke« zur Folge haben. Der »Wahl-O-Mat« berücksichtigt derlei aber nicht, er reduziert das Votum zur reinen Programmatik.

Der »Wahl-O-Mat« ist besonders bei jungen Wählern beliebt. Er nimmt ihnen, wie erwähnt, anstrengende Denkarbeit ab und verlagert die Wahlentscheidung in die Zeit kurz vor der Wahl. So muss er nicht die gesamte Legislaturperiode beobachten und sondieren, wohin das nächste Kreuzchen hinzusetzen ist. Der politische Reifeprozess wird abgebunden und für unnötig befunden. Schließlich gibt es im Augenblick, da man diese Reife benötigte, ja Hilfsmittelchen, die Reife und Abwägen suggerieren. Die »Ver-Wahl-O-Mat-ung« der Wahlentscheidung entwirft Bürger, die sich nicht leidenschaftlich oder inhaltlich positionieren, sondern technokratisch ihr Votum prüfen und abfragen, um dann »gut beraten« den Wahlsonntag zu begehen. Er ist albern gesagt eine Krücke für politisch Lahme, denen plötzlich einfällt, sie wollten eigentlich mal Bergsteigen gehen.

Dieses »Votematch-Tool« gibt Wahloptionen »im Überblick« an, um den leidigen Prozess der Reflexion abzukürzen. Fragen wie »Will ich das?« oder »Wenn ich das wirklich will, ist das auch vernünftig und sinnvoll?« stellen sich da kaum noch. Alleine der Abgleich unterstreicht das Votum. Was sagt denn der »Wahl-O-Mat« über richtig oder falsch aus, wenn jemand meint, er sei für die Ausweisung von arbeitslosen Ausländern? Er sagt nur, dass die »Alternative für Deutschland« das auch so sieht. Ist das aber vernünftig? Dient das einer besseren Gesellschaft? Darüber schweigt er sich aus. Er legt einem nur die Wahl der AfD ans Herz. Einem politischen Bildungsauftrag im wahrsten Sinne des Wortes dient das alles aber nicht. Und welchen bildenden Wert das Spiel »Wer-ist-der-Linientreueste?« haben soll, lässt sich nur schwer entschlüsseln.

Wer die Wahl hat, der hat auch die Qual. Das weiß der Volksmund schon weitaus länger, als es politische Wahlen überhaupt gibt. Aber wer sagt bitteschön, dass die Entscheidung an der Urne keine Qual sein muss? Der »Wahl-O-Mat« tut das aber. Und mit ihm viele Medien, die über ihn berichten, als wäre er eine der tollsten Erfindungen seit der Glühbirne. Als es die plötzlich gab, verlernte der Mensch peu a peu, wie man Feuer macht. Und das Wahl-Helferlein hilft mit beim Verlernen eigenständiger Denkprozesse.


9 Kommentare:

Anonym 14. Mai 2014 um 06:44  

Ach, die Ansprüche würde ich gar nicht so hoch ansetzen. Wenn die Wähler ihre Entscheidung in toto von so etwas wie dem Wahl-O-Mat abhängig machten, das heißt, tatsächlich diejenige Partei wählen würden, deren (meinetwegen auch nur nominellen) Ziele ihren eigenen Interessen entsprechen würden, hätten wir eine sehr andere Zusammensetzung des Parlaments. Und ob da wirklich nur die Rechten säßen, bezweifele ich. Aus eigener Anschauung weiß ich, dass traditionell konservativ Wählende sich da pötzlich ziemlich weit links angesiedelt sahen.

algore85 14. Mai 2014 um 09:25  

Meine Grußmutter dachte sie wäre eingefleischte FDP Wählerin (BILD LIEGT ZUHAUSE RUM BEI IHR). Ich machte mit ihr den WAHL O MAT. Raus kam die LINKE. HIHI!

Siewurdengelesen 14. Mai 2014 um 09:35  

Der Wahl-O-Mat wird von mir nur müde belächelt.

Es hat für mich den Eindruck, dass aus diesem Ding heraus so ein wenig die 'Stimmungslage' abgegriffen wird, nur um dann in den Nachrichten genau diese wieder zu verkünden (bei Bedarf auch leicht korrigiert) und damit die Stimmung/Meinung zu bestätigen - Medienverarsche pur.

Das verhält sich ähnlich wie mit der Sonntagsumfrage oder anderen Suggestivfragen a la´ "Wie würden Sie entscheiden, wenn..."
Dies dient nur dazu, die Themen als solche zu erhalten und nicht, um darüber nachzudenken und aus diesem Prozess heraus Entscheidungen zu treffen.
Letztere sind auf politischer Ebene ohnehin oftmals bereits gefällt worden, bevor sie zur öffentlichen Sprache gelangen.

Lutz Hausstein 14. Mai 2014 um 09:45  

Zusätzlich zu dem schon Angeführten sehe ich noch ein weiteres Problem.

Der "Wahl-O-Mat" wird ja mit den Versprechen den jeweiligen Parteien gefüttert, welche diese vor der Wahl angeben. Nun hat aber reihum auch der letzte Vertreter einer jeden Partei schon mindestens einmal vorgebracht, dass zwischen Wahlversprechen und der Umsetzung dieser Versprechen fast immer eine riesige Lücke klafft.

Welchen Sinn hätte es also, die größtmögliche Übereinstimmung zwischen Wahlversprechen (entsprechend Wahl-O-Mat) und den eigenen Präferenzen zur Wahlentscheidung heranzuziehen, wenn sich diese Wahlversprechen anschließend regelmäßig wieder in Luft auflösen?

Der Wahl-O-Mat überprüft EVENTUELL die Übereinstimmung zwischen Wahlversprechen und Präferenzen des Wählers, gibt über die Umsetzung der präferierten Politik jedoch keinerlei Auskunft.

Ein weiteres Tool, welches ganz knapp an der Realität vorbeischrammt. Aber der erfahrene Kegler weiß: Knapp vorbei ist auch daneben.

Anonym 14. Mai 2014 um 11:07  

Ich schließe ich dem ersten Kommentar an und finde den Wal-O-Mat hier ebenfalls falsch bewertet.
Die meisten Wähler werden hier mit der Abfrage von Positionen konfrontiert, mit denen sie sich noch nicht näher befasst haben.
Ich selbst - als politisch wohl überdurchschnittlich Interessierter - muss daher bei einigen Fragen "neutral" stimmen. Wem geht es anders?
Der Wahl-O-Mat weitet einem dadurch den Horizont, dass bei einer Wahl an noch viel mehr Dinge gedacht und eine eigene Position entwickelt werden muss, als man es bisher tat.
Die Fragen, bei denen man aus Unsicherheit "neutral" antworten muss, sensibilisieren einen für die weißen Flecken, die man auf seiner eigenen politischen Landkarte hat.
Dies unterschlägt der Artikel hier.

garfield 14. Mai 2014 um 11:27  

Oha, hier muss ich aber mal eine Lanze für den Wahl-O-Maten brechen. Du verlangst doch nicht allen Ernstes von dem Tool, dass zwei Wochen vor einer Wahl online geht, es solle eine braune Dumpfbacke in der restlichen Zeit zum Überdenken seiner Positionen bringen? Dazu ist das Tool nicht da. Die wahlmündigen Bürger haben sehr wohl zu den meisten zur Auswahl gestellten Positionen aus den diversen Parteiprogrammen eine eindeutige Haltung. Und hierzu soll das Tool die kompatibelste Partei finden - nicht mehr und nicht weniger kann das Tool leisten.
Du hast einen unschätzbaren Vorteil unterschlagen. Beispiel: Ich denke, wir alle wissen, wie die Berichterstattung der "Qualitätsmedien" über eine gewisse Partei ist, die im Parlament sitzt, aber partout nicht ins übliche Geheul einstimmen will. Die Meinung einer übergroßen Mehrheit über diese Partei und ihre Vertreter dürfte auf "Sekundärquellen" beruhen. Erstaunlicherweise hat aber auch eine Mehrheit in wichtigen politischen Fragen durchaus eine "gesunde" Haltung, die sich - oh Zufall - mit den Positionen dieser Partei deckt.
Der Kabarettist Volker Pispers hat das mal sehr pointiert beschrieben.
Und ich kann nicht mehr an zwei Händen abzählen, wie oft ich Beiträge in einem gewissen politischen Forum gelesen habe, wo Leute nach Durchspielen des Wahl-O-Maten ganz erstaunt waren, was ihnen dieser als Ergebnis präsentierte - in der Folge, dass viele davon verkündet hatten, auch diese Partei zu wählen.
Und für diesen Augenöffner hat der Wahl-O-mat allemal seine Berechtigung, finde ich. Denn er gibt die Positionen der "Originale" wider, ungefiltert von irgendeiner hämischen Deutung "interessierter" gerade NICHT befreundeter Kreise.
Wenn er damit einen Wähler mit Ellenbogenmentalität bestätigt, er solle FDP wählen, so what. Das passt doch auch. Für eine Umerziehung käme eine Wahl-O-Mat ohnehin zu spät. Und wie gesagt: das ist nicht seine Aufgabe.

IrlandsCall 14. Mai 2014 um 17:40  

Eine Wahl wird erst dann zu einer richtigen Wahl, wenn man auch die Möglichkeit hat alle Möglichkeiten abzulehnen. Dies ist hier nicht der Fall. Wenn man keine Wahlmöglichkeit mag, und nicht wählt wird einem die aufgezwungen, die andere wählen. Das ist keine Wahl, sondern Unsinn. Das wäre so, als wenn vier Saubsaugervertreter zu dir kommen und sagen: "Kaufe einen von uns." Du willst aber gar keinen kaufen. Weil du keinen kaufst kriegst du schliesslich den Staubsauger, den die meisten deiner Nachbarn gekauft haben.

Frau Lehmann 14. Mai 2014 um 20:23  

Es geht ja nicht nur darum (was schon schlimm genug ist und dennoch als Fortschritt verkauft wird)dass dem Wähler die Wahlkompetenz in gewisser Weise abgenommen wird, wodurch er zum unmündigen Idioten erklärt wird. Durch den Wahl-O-Mat werden auch die Programme der Parteien verkürzt und durch die Art der Fragestellung - Es gibt nur ein Dafür oder Dagegen - grob vereinfacht. Beispiel: Bist du für Europa oder dagegen? Da wird (selbstredend eben auch kaum noch in den ausführlicheren Programmen) nichts mehr differenziert und präzisiert.
So landete ich zwar auch (was völlig i.O. ist) bei der Linken als größte Übereinstimmung, aber sogar mit der CDU an letzter Stelle meiner ausgewählten "Kandidaten" ergab sich noch eine Übereinstimmung von über 40%. Das wiederum fand ich erschütternd. Ich kann mir das nur mit der Art der Formulierung der zur Entscheidung stehenden Thesen erklären. Sowohl die Linke als auch die CDU bejahen z.B. Europa. Es ist doch aber kaum anzunehmen, dass sich beide dasselbe Europa vorstellen und zu gestalten suchen. Aber genau solche Differenzierungen werden nicht vorgenommen.
Für mich ist der Wahl-O-Mat ein weiteres Indiz dafür, dass Politik und demokratische Strukturen verkommen sind und das Wahlvolk für blöd gehalten wird.

Sledgehammer 15. Mai 2014 um 11:52  

Dem orientierungslosen "Konsumisten" der Moderne scheint präterpropter jede Narretei innovatives wie probates Mittel für Einordnung, Taxierung oder Empfehlung zu sein; er benötigt dergleichen allem Anschein nach inzwischen existenziell und bemerkt nicht bzw. übersieht, wie er peu à peu ein totalitäres Prinzip internalisiert, ungewollt einem Totalitarismus zuarbeitet.

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP