Unsere Erdoğans müssen ja auch dauernd berichtigt werden

Mittwoch, 9. April 2014

Das türkische Verfassungsgericht hat nun also der türkischen Regierung widersprochen und die Twitter-Sperre aufgehoben. Das ist doch ein Beweis dafür, dass die Türkei gar nicht von einem Diktator regiert wird - und das wiederum belegt: Die Türkei ist nicht so viel anders als Deutschland. Beide leiden unter dem gleichen Typus von Politiker.

Zuletzt musste man geradezu den Eindruck erlangen, dass sich die Türkei unter Erdoğan in die Diktatur verabschiedet habe. Der deutsche Medienbetrieb ließ diesen Eindruck jedenfalls entstehen. Der erzählte, dass dieser Mann sämtliche demokratischen Strukturen und Prozesse aufgehoben habe. Und schon man sah ihn mit Hitlerbärtchen auf Plakaten und hierzulande fragte man sich, ob dieser Vergleich nicht etwas zu harsch sei. Dass die Türkei aber diktatorisch geführt würde, stand bei solchen »ästhetischen Fragen« gar nicht zur Debatte. Denn trotz allen war klar, dass Erdoğan sein Land in einen Zustand führe, in dem Demokratisches, das vom Volk ausgeht, drakonisch bestraft würde. Und als er die Netzwerke kappte, war sich dieser deutsche Irrwitz, bestehend aus sich gut ergänzenden Politikern und ihrer Journalisten, darüber einig: Jetzt baut er seine Diktatur aus.

Demokratisches wurde aber auch schon in Deutschland schwer misshandelt. Und übermäßig harten Polizeieinsatz kennen wir hier ebenfalls. Darüber wurde schon mehrfach geschrieben. Man muss das jetzt an dieser Stelle nicht nochmals aufwärmen. Aber was genau ist das für eine Diktatur, in der ein Verfassungsgericht richtigstellen und aufheben darf, was der Tyrann vorher noch beschlossen hat? Stellt man sich Diktaturen nicht ein wenig anders vor?

Nein, hier zeichnet sich ab, dass Erdoğan einer dieser Sorte von Machtmenschen ist, die wir auch in diesem Lande haben. Eine überdrehte Machtfigur, die ihre Gönner und Geschäftspartner in Stellung bringt und sich selbst für sakrosankt erklärt. Ein Politiker, der im Wahn seines politischen Höhenflugs vergessen hat, dass es neben ihn auch noch demokratische Elemente gibt, die den Staat gestalten können und sollen. Wir haben es hier mit einem von der Wirtschaft delegierten Machtokkupator und Autokraten zu tun, der den harten Mann spielt, um der Oligarchie seines Landes Sicherheit und Kontinuität zu Füßen zu legen.

Solche haben wir in Deutschland auch. Um ein Beispiel zu nennen: Erdoğan sagte zur oben genannten Entscheidung des Verfassungsgerichts, dass er sich zwar beugen werde, aber daran festhalte, dass die Sperre von Twitter eigentlich notwendig sei, um ausländischen Einfluss zu beschränken. Als das Bundesverfassungsgericht vor Jahren entschied, dass der Abschuss eines entführten Flugzeuges verfassungswidrig wäre, sagte der damalige Innenminister dieses Landes rotzig, dass er es trotzdem veranlassen würde, wenn es dazu käme. Das klang damals viel weniger einsichtig als bei Erdoğan jetzt. Ob wohl der türkische Ministerpräsident auch erwägt, die Rechte der Verfassungsrichter zu beschränken? Die hiesige Regierungspartei jedenfalls denkt darüber nach, denn die Verfassungsrichter haben für ihren Geschmack zu oft dazwischengefunkt und sich als unkalkulierbarer Faktor erwiesen.

Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder nennen wir die machtgeilen Gestalten, die fortwährend ihre Grenzen austesten und die Demokratie damit stutzen, überall dort, wo sie an der Spitze eines Landes stehen, einfach mal »Diktatoren«. Und dann sind damit auch die Merkels, Schäubles und Kauders gemeint. Oder wir lehnen uns mal nicht so weit aus dem Fenster und sagen uns: Das sind die üblichen Typen, die es im Zeitalter der Postdemokratie nach oben spült - keine Diktatoren, wie man sie klassisch kennt, sondern einfach nur Opportunisten und Karrieristen, die aus Selbstliebe wie auch aus Gründen der Gönnerzufriedenstellung, Entscheidungen treffen und durchboxen, die standhafte Demokraten völlig verschrecken. Gefährliche Aushöhler der Demokratie, neoliberale Agendamenschen und Narkoseärzte am Solidaritätsprinzip zwar - aber keine völlig losgelösten Alleinherrscher, bei denen sich die Macht einzig konzentriert und die daher fast unantastbar sind.

Man kann wohl sagen, dass die Türkei nicht an einem Diktator leidet, sondern sich wie alle zeitgenössischen Staaten mit Führungsgestalten herumschlägt, die das Gemeinwesen als Selbstbedienungsladen der Eliten betrachten. Wer die Situation in der Türkei aber »verdiktaturt«, der kaschiert Verhältnisse, die in Deutschland nicht viel anders sind. Die türkischen Verfassungsrichter zeigten an, dass es demokratische Abläufe noch gibt und sie sogar umgesetzt werden. Sie entlarven damit, dass Erdoğan kein Diktator ist. Und sie sagen indirekt damit auch: Packt euch mal an eurer eigenen Nase, ihr in Deutschland. Eure Erdoğans müssen ja auch dauernd kontrolliert und berichtigt werden.


7 Kommentare:

Anonym 9. April 2014 um 09:23  

ANMERKER MEINT:

Genau so ist es, Roberto. Deine Analyse wird solange richtig bleiben, wie es den "demokratischen" Machteliten dieser Welt gelingt, Demokratie umzudeuten, die eigentlich geliehene Macht umzudeuten in das, was sie für Demokratie halten.
Da werden Volksentscheide seit Jahrzehnten nicht in unser Grundgesetz aufgenommen, da werden mitbestimmende Volksbewegungen, wie bei Stuttgart 21 niedergeknüppelt oder von einem jesuitischen Geissler solange zurechtgebogen, bis das erwünschte Volk glaubt, es sei fair behandelt worden. Da wird die OccupyBewegung bewusst kriminalisiert und ihre Teilnehmer werden grundgesetzwidrig eingekesselt usw. usw. Da passt es auch gut ins "demokratische" Bild, dass ein wiedergewählter Urban in Ungarn von dem ehemaligen Innenminster Friedrichs für seinen grandiosen Wahlsieg beglückwünscht wird, im Namen der autoktratischen CSU. Alles nach dem Motto "Ich mach die Welt, wie sie mir gefällt". Da macht es dann auch nichts, wenn deutsche Politiker mit ukrainischen Faschisten zusammentreffen. Das Feindbild muss halt stimmen, wie in dem Fall der "böse Russe".
Ohne weiterhin graswurzeliges Dagegenhalten wird eine einigermaßen erträgliche Demokratie wohl nicht zu kriegen sein.

MEINT ANMERKER

Anonym 9. April 2014 um 12:28  

Im Prinzip Zustimmung.

Dennoch lassen sich hierzulande schwer Parallelen ziehen, wie Erdogan die Trennung von Staat und Religion rückgängig macht, einen Religionsstaat wieder einführt, und seine Gegner "bis in die Höhlen verfolgen" will:

www.freitag.de/autoren/asansoerpress35/erdogan-will-gegner-bis-in-hoehlen-verfolgen

Anonym 9. April 2014 um 13:26  

http://www.heise.de/tp/artikel/41/41467/1.html

Ach ja, Erdogan!

maguscarolus 9. April 2014 um 14:21  

Mit diesem Artikel ist mal wieder gezeigt, dass es Blog-Autoren gibt, die ohne üppige Alimentation die Arbeit machen, für die eigentlich unsere "Elite-Medien" und ihre gut bezahlten journalistischen Galionsfiguren da wären.

ad sinistram 9. April 2014 um 14:38  

Danke Maguscarolus. Das sehen aber andere gaaanz anders. :)

Braman 9. April 2014 um 14:52  

Selbstverständlich haben wir und auch die Türken eine Demokratie!
Es ist eben nur eine Definitionssache wer das Volk ist.
5% Volk und 95% Sklaven, das ist die gängige Definition der herrschenden Schicht, folglich wird von den oberen 0,1% vor gegeben, von anderen 0,1% beschlossen und von 4,8% ausgeführt.
Voll demokratisch.
Von den 95% der Sklaven regen sich wiederum 0,2% darüber auf, allerdings folgenlos. Also, was solls. weiter so!

MfG: M.B.

flavo 9. April 2014 um 14:56  

Aus dieser Warte, ja, kann es so sein. Es ist das elendige Problem der Hierarchie, dass in unterschiedlichen Spielarten die ganze Menscheheit geiselt. Wo nähme man nicht eine Hierarchie an? Na eben, kaum irgendwo. Und schon am wenigsten in der Politik. Aber halt, vermutlich noch weniger in der Wirtschaft. Während in der Politik wenigstens ein historisch gewachsener Schatten an Demokratieanspruch sich über alle Hierarchien wirft, auch wenn er wirkungslos bleibt, gibt es diesen in der Wirtschaft nicht. Hier sind wir noch offen archaisch. Der Chef weist an, der Bedienstete führt aus. Hier gibt es keine Autonomie. Hier will man sie auch nicht. Tauschte man den Konzern gegen einen Staat, so hätte man den Weltkrieg. Natürlich, altklug wie man geworden ist, hört man sofort, aber Moment mal, das ist ja der Bereich des Privaten, des Privatbesitzes und nicht der Öffentlichkeit. Gut, man sagt also, die 40 Stunden in der Woche, die Menschen als Bedienstete zu tun haben, haben genau keine Bedeutung für Inhalt und Gestalt der Öffentlichkeit. Natürlich verhält es sich nicht so, aber die Macht des Überlieferten stiftet heute tiefe Konservation. Daher ist man auch bis in weite Gerinsel der Gesellschaft konservativ. Man konserviert diese Anordnung. Im Einklang mit den neoliberalen Staatsverächtern fordert man am ehesten noch beim Staat mehr Demokratie und fürchtet, wie diese, den Autokraten. Kommt er jedoch, arrangieren sich diese in aller Regel auf hervorragende Weise mit solchen Gestalten. Der Autokrat, er ist das Objekt, das die erschwachte Linse der Kritik heute noch zu erkennen vermag. Blind gegen alle marktinduzierten Schandordnungen und Schieflagen ist man ermattet und äugt nur mehr aus nach Autokraten. Dann wird der Hammer der Kritik geschwungen. Aber nur mehr dann und am besten, wenn der Autokrat in weiter Ferne sein Unwesen treibt. Hierzulande, was gibt es eiegntlich hierzulande? Man weiß es eigentlich nicht. Hier sind wir in der Ruhelage. Der Ernst hat überall Einzug gehalten, Details werden noch eifrig debattiert. In der Ferne gibt es die großen Aufholmöver, ab und an von Autokratenirrspielen durchzogen. Hier haben wir die Gewählten. Wir wollten sie zu unseren Repräsentanten und sie tun daher notgedrungen das, was wir wollen. Der Tag der Wahl, das Kreuzchen ist die komprimierte Jahresagenda. Dies ist die Ruhe, die uns beherrscht. Wir sind im Reinen, so der weit verbreitete Glaube. In der Tat gibt es im Westen erste Erfahrungen mit Dehierarchisierungen. Sproradische und inzwischen in das Gegenteil gekippte. Die ganze 68er Generation versuchte derartiges, wurde aber wieder fest Entdehierarchisiert. Dennoch gibt es kaum ein wichtigeres politisches Projekt als die Dehierarchisierung. Dehierarchisierte Orte gibt es kaum. Bis in der linkesten Ecken der Gesellschaft bauschen sich Hierarchien auf. Dennoch muss man am schmalen Spalt der Ahnung, festhalten, der nicht mehr als ein Impuls ist, der richtungslos anschiebt. Alles Gerede über Politik kann man im Grunde lassen, um so komplzierter um so mehr kann man es lassen. Auch das Gerede von dem Wissen, wie es denn nunmal halt ist, kann man sich sparen, denn man soll besser eifrig mitmachen, als eine abgestumpfte Reflexion anstellen, die zu dem Ergebnis kommt, dass es nunmal halt so ist. Laufet zu eurern Führergestalten, Führungspersönlichkeiten, Koriphäen, euren CEOs, Abteilungsleitern, euren Präsidenten und Ministern, euren generellen Persönlichkeiten und Obrigkeiten, euren Leadern, euren Stars in Gesang und Sport, euren Göttern, euren Leistungsstärksten, euren Vorbildern, euren Chefs, euren Vorsitzenden, Bischöfen und Päpsten und werft euch nieder vor euresgleichen, einem gleichen Mensch aus Fleisch und Blut, auf dass er euch zur Einordnung alsbald auserwählt und des Glückes Weg euch zuweist.

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