Beschreibung eines Kontinents der gewollten Ungleichheiten

Mittwoch, 27. November 2013

Über Peter Mertens Kritik des neoliberalen Europas.

Quelle: Amazon
Im Grunde gibt es keinen NSA-Skandal. Und wenn man hierzulande die Rolle des BND bei den Abhöraktionen beleuchtet, dann sollte man auch nicht vom BND-Skandal sprechen. Was hier geschieht sind nämlich lediglich die geheimdienstlichen Auswirkungen eines neuen Kalten Krieges. Nicht mehr zwischen verfeindeten Blöcken, die in verschiedener Weltauffassung erstarrt sind, sondern zwischen zwei kapitalistischen Blöcken, zwischen Kontrahenten auf dem freien Markt - zwischen Wettbewerbern. Dass die Europäische Union mit den Vereinigten Staaten um die wirtschaftliche Oberhoheit auf Erden buhlt, steht für den belgischen Soziologen Peter Mertens fest. Er beschreibt in seinem Buch Wie können sie es wagen?, wie sich Europa in eine neoliberale Zone verwandelte.

Das Maastrichter Europa war nie als ein Europa der Menschen geplant. Auch nicht als ein Hort, der Bürger- und Menschenrechte als seinen größten Exportschlager erachtet. Das Europa nach Maastrichter Ausrichtung wollte wettbewerbsfähiger werden, im globalen Expansionsstreben absahnen, den Markt erobern und die Chinesen und Amerikaner im Wirtschaftskrieg ausstechen. BusinessEurope nennt Mertens dieses neue Europa der wirtschaftlichen Vorherrschaft.

Und dieses BusinessEurope geht zwar nicht über Leichen, wohl aber über schlecht bezahlte Jobs. Die Auflösung von Sozialstandards und die Einführung eines Niedriglohnbereichs sollten Europa in der Welt stärken. Mertens nennt das den "stillen Staatsstreich von BusinessEurope". Er sieht besonders Deutschland als den ideologischen Vorreiter dieses ganz besonderen europäischen Gedankens. Und er beschreibt, wie Belgiens Konservative immer wieder nach Berlin deuten und ihren Landsleuten sagen: So müssen wir auch werden. Hartz IV war richtig. Niedriglohn ist die einzige Chance. So lernt der Leser nebenbei noch die flämische Nationalbewegung kennen, die ihre Separationswünsche mit neoliberaler Agenda unterlegt und so den Nationalismus mit Wirtschaftsradikalismus verwebt. Flame zu sein bedeute nämlich auch, die wirtschaftlich schwache Wallonie mitzuziehen.

Wir kennen das ja auch in etwas anderer Weise in Deutschland, wenn wieder mal Bayern, Baden-Württemberg und Hessen tönen, dass sie die Republik ernährten und Bundesländer mitschleifen müssten. Nach Mertens ist die Renationalisierung Europas ein Nebenprodukt dieses Kontinents in Schocktherapie. Es entstehen überall wirtschaftlich orientierte Nationalismen oder Ökonomiepatriotismen, die Solidarität zu einer Tugend degradieren, die man sich leisten können sollte.

"Das Europa des Wettbewerbs und der Ungleichheit" ist kein Abfallprodukt des Krisenpakets, das die Medien in Europa in verschiedene Tranchen zerschnitten haben. In Euro-Krise, Wirtschaftskrise, Staatsschuldenkrise oder EU-Krise - ohne einfach mal von der systemimmanenten Krise zu sprechen, von einer Krise des Kapitalismus, der sich als einziges Regularium bloß noch eine unsichtbare Hand leistet. Viele Kritiker der EU sprechen in ihrem engstirnigen Betragen oft davon, dass die Europäische Union einen neuen Sozialismus züchte, eine Gleichmacherei und ein Herabdrücken des Lebensstandards aller Menschen. Kollektivierungen gibt es wohl. Aber all das geschieht nicht aus Mangelwirtschaft heraus, sondern ist die Geschäftsgrundlage der globalen Wettbewerbsfähigkeit, die man um jeden Preis erhalten und verstärken möchte.

Mertens spricht auch von Sozialismus und setzt ihm eine 2.0 dahinter. Das ist eine klare Abfuhr für den Sozialismus, den es schon mal gab. Etwas Neues muss her. Ein Sozialismus, der Werte nicht nur besitzt, sondern pflegt und garantiert. Er schreibt, dass der Kapitalismus immer wieder durchschimmerte in den letzten Jahrhunderten. Schon zaghaft in der Republik von Venedig. Oder im Genf des Herrn Calvin. Aber er war nie so weit, sich endgültig durchzusetzen. Erst mit der Industrialisierung gelang es die kapitalistischen Versuche nachhaltig zu installieren. Die Zeit war erst im 19. Jahrhundert reif für ihn. Alle Versuche vorher mussten scheitern. Warum also, fragt Mertens nun, sollte der Sozialismus nicht auch mehrere Versuche erhalten, bis er überlebensfähig werden kann. Die Grundlagen der heutigen Wirtschaft würden Mangel jedenfalls ausschließen. Und dass man alles verplanwirtschaften müsse, sagt ja auch kein realistischer Mensch. Nur manches müsste von der Allgemeinheit verwaltet und kontrolliert werden.

Der Kapitalismus hat nicht gesiegt. Er blieb übrig. Man kann das gut erkennen, wenn man in der gesellschaftskritischen Literatur unserer Tage querliest. Wagenknecht will einen kreativen Sozialismus und Mertens den Sozialismus 2.0. Das sind die Früchte, die ein maßloses System säte.

Wie können sie es wagen? fragt Mertens. Aber sie wagen es einfach. Ohne Rücksprache mit den Menschen. Rücksprache hält die Politik nur mit dem besseren Teil der Europäer. Mit Reichen, mit Konzernen und Managern. Die sagen, was gut für uns alle ist. Ja, und wie können wir es wagen, uns das gefallen zu lassen? Und wir sollten es als ersten Schritt nicht wagen, Mertens Buch einfach zu ignorieren. Wage zu wissen! Dieser Ausspruch der klassischen Aufklärung trifft bei Wie können sie es wagen? zu. Mertens ist ein moderner Aufklärer und vielleicht wird er einst genannt, wenn man von der Ära der Aufklärung 2.0 spricht.

Wie können sie es wagen? Der Euro, die Krise und der große Raubzug von Peter Mertens ist im VAT Verlag André Thiele erschienen.


7 Kommentare:

ninjaturkey 27. November 2013 um 09:23  

Natürlich geht ein neoliberales Europa über Leichen, wenn auch (noch) nicht in den eigenen Grenzen, so doch in den Ländern, deren Bodenschätze wir ausbeuten, deren Fischbestände wir wegfangen, deren Märkte wir mit den billigen Resten fluten die bei uns unverkäuflich sind, deren Regime von uns hofiert werden weil wir sie benötigen. Für die Toten sorgen dann Not, Verzweiflung, Destabilisierung.
Die Leichen finden sich vor Ort und am Grunde des Mittelmeers - um nur die prominentesten Beispiele zu nennen.

Anonym 27. November 2013 um 09:36  

ANMERKER MEINT:

Eine glänzned geschriebene Rezension, Roberto,chapeau!
Folgendes will ich noch anmerken:
Dieser Neoliberalismus geht auch in Europa tagtäglich über Leichen; gerade dieser Tage verhungern sie wieder in der Kälte die gewollten Systemverlierer! Bei aller Konkurrenz zu den USA, nicht gleich Amerika(!), geht es m.E. zuvörderst ums gemeinsame möglichst Kleinhalten Chinas, wenns sein muss irgendwann auch mit militärischen Mitteln - der militärisch-industrielle Komplex muss sich ja rentieren. Nicht zuletzt deshalb lohnt der unermüdliche Kampf für einen Sozialismus 2.0.

MEINT ANMERKER

Sledgehammer 27. November 2013 um 10:11  

Ich empfehle selten Bücher, da aus meiner persönlichen Sicht Selbstsuche die Sinne schärft.
Dennoch möchte ich, passend zu diesem Komplex auf "Geheimer Krieg" von Chr. Fuchs und John Goetz verweisen.

Anonym 28. November 2013 um 01:06  

Das Europa - insbesondere auch deutschland als drittgrößter Kriegswaffenexporteur (liebend gerne an menscheverachtende Folter-Regime) - nicht nur über Leichen geht, sondern sie selbst befördert, wurde ja bereits mehrfach dargelegt.

Kapitalismus gibt es nicht erst seit gestern, sondern seit Erfindung des Zins und damit untrennbar verbunden der Zinseszinsen.

Was neu ist, ist diese völlig unnötige - auch vor Mord nicht zurückschreckende - Brutalität gegenüber der eigenen Bevölkerung, die Regierungen aus Überzeugung und Geheiß der (wirklichen) Mächtigen aus Bank-, Industrie- und Wirtschaftsverbrechern an je-den Tag legen.

Tatsächlich gibt es myriadenfach mehr Geld als Sandkörner auf der Erde, da Geld nichts weiter als eine vom Computer generierte Zahl ist - es ist KEIN Rohstoff.

Das alles wissen die Macher - also die Mächtigen die nicht gewählt wurden und deren servile Regierungsmarionetten - sehr wohl.

Deshalb ist die exorbitant künstliche Verknappung (des Geldes) für 95 bis 99% der Menschen, bei gleichzeitig ebenso exorbitant künstlicher Vermehrung für die Mächtigen - aber Wenigen - 1 bis 5% der Menschen, ABSOLUT GEWOLLT und gesteuert.

Weltweit werden die Menschen in die Arbeitslosigkeit getrieben, um dann einen Teil derer als billige Lohn-Sklaven - zu Löhnen die nicht mal mehr für eine normal vernünftige Ernährung reichen - (wieder) in den Arbeitsprozess zu integriegen.

Dabei besteht nicht nur kein Arbeitsmangel, nein, mir fallen ad hoc - allein für deutschland - arbeiten ein die dringend gemacht werden müssten und selbst dann noch nicht in 500 Jahren erledigt wären, wenn wir alle hiesigen Arbeitslosen Arbeit gäben und noch 20 Millionen ausländische Arbeitskräfte nach deutschland locken würden.

Das gilt aber nicht nur für deutschland. In den meisten Ländern der Welt steht noch ungleich viel mehr Arbeit an als hier, die ebenfalls dringend ausgeführt werden müsste.

Der Souverän


Anonym 28. November 2013 um 18:54  

"Und dieses BusinessEurope geht zwar nicht über Leichen, wohl aber über schlecht bezahlte Jobs."

Dieses BusinessEurope geht sehr wohl über Leichen.

Nur einige wenige aber sehr bezeichnende Beispiele unter

http://www.heise.de/tp/blogs/8/155079

http://www.heise.de/tp/artikel/38/38788/1.html

http://www.sozialismus.info/2013/06/grossbritannien-regierung-attackiert-die-aermsten-der-armen/

Anonym 2. Dezember 2013 um 17:00  

Die Europäische Union verstärkt ihren Kampf gegen illegale Einwanderung. Am Montag hat die EU das Grenzüberwachungssystem Eurosur gestartet.
Die EU-Länder erlangen damit Informationen über verdächtige Bewegungen an den Außengrenzen und auf See. Eurosur läuft unter der Federführung der EU-Grenzschutzagentur Frontex.
Das neue System mit dem kompletten Namen European Border Surveillance System startet zunächst in den Mittelmeerstaaten sowie in Osteuropa. Weitere EU-Staaten - darunter Deutschland - folgen in einem Jahr. Knapp 250 Millionen Euro hat die EU dafür bereitgestellt.

flavo 3. Dezember 2013 um 10:31  

Ein Lob für Mertens. Es ist immer schön, einen professionalisierten Denker zu sehen, der ein Buch für die breitere Masse schreibt und sich nicht im Hickhack der Fachjournale herumdrückt.
Das BusinessEuropa, ja, es hat die Sinnfäden in der Hand, die gut verknotet bei jedem Einzelnen eingebracht sind. Ein Zug an den Zügeln und stramm jauchzt die breite Masse europäischer Mittelschichtler: Leistung, Geld und Wettrennen! Einen soliden Konsumkreisgang in Kopf und Körper, aufmerksame Distinktionsfühler für vergängliche Ideale und Mühen. Mit einem Smile schifft man lasziv dahin, schluckt häppchenweise die Ideologie, die besteht, ohne sie zu schmecken, man ist geschmackstaub und hat keine Ahnung von den Geschmäckern der Ideologie. Geile Gewänder aus ausgewählten Modehäusern, schick wie der Mann auf der Werbetafel, reist man hin und her und sieht hier wie dort die tollen Dinge, some bad news from the other side oft the world zwischendurch zur Verbehaglichung des Daseins auf dem europäischen Kontinent. Die Ubahnen des Europas quillen über vor Armen und Obachlosen. Wer kennt nicht die archaische Spannung in den Ubahnen Europas, wenn ein degradierter, verarmter und kranker Mensch hereinkommt und um einen Cent bettelt? Wie schauen sie nicht alle hilfos aus ihren fettgefütterten Augen und der Behaglichkeit des abgekitteten Pelzmantelsinnes in das Schwarz des Tunnels und warten auf die Lösung der Beklemmung durch das verschwinden des Abgrundes, welchen dieser dahingeraffte Mensch in den Ubahnen Europas darstellt? Im Gesöff und Gejette lacht man weiter durch die eingespielten Weltwege. Man deucht sich superior und premium, wenn der Geldbeutel immer wohlklingend ist und darbt mit aufgesetztem Happyfeeling und Wellnessteint in einer amplitudenarmen Existenzspirale. Der Arme, der Niedergemachte, der ökonomisch Zusammengepresste, der leidende und in seinen Regungen schockvergewaltigte Mensch, all dies weite Brachen, die der im Wattetürmchen eingelegte Ideologieprofiteur nicht einmal erahnen kann. Eine postdevastierende Welt muss zweifellos die Innenräume dieser Idologieprofiteure, ihre Anzugsuniformen, ihre Freizeitjournale, ihre Schuhcremen, ja ihre herausgefilterten SMS und Emails, alle Partikel dieses Lebensstils in Museen ausstellen als Mahnmale, als Erinnerungen an die Zeiten der schamlosen und aktivaffirmativen schmerzerzeugenden und würdedevastierenden Welt. Der Businessanzug, die Krawatte, der Lackschuh, sie sollen Sinnbild sein einer Welt, die gigantische Teiche an Leid akkumulierte, über denen elitisch-hierarchische Leidverursacher in Anzügen und Hosenanzügen am Steuer saßen und lasziv gröhlten und hochglanzgefiltert den müden Augen entgegen gestrahlt wurden. Man muß irgendwann die Eckpfeiler dieser niederträchtigen Ideologie herauspflücken und herausen explizit aufstellen, damit man sie sieht. Am Museum kann jetzt schon gebaut werden. Natürlich kann dies nicht der heute gemeine Künstler. Er ist mit der alten Metaphysik unter gegangen und zu einem Warenagenten eingepasst worden, der zufällig sein Auskommen findet mit illustrem Allerlei. Es ist der Sozialismus absurd, grotesk und leidvoll gescheitert, es ist der Liberalismus aber gerade im Paroxysmus des gelbgrün eiternden Absterbens.

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