Essen und hungern lassen

Freitag, 30. August 2013

Ein Appell gegen die Instrumentalisierung des Hungerstreiks.

Der Hunger als Waffe ist wieder häufiger da. Neulich gingen einige Asylbewerber in Hungerstreik. Und vor einigen Tagen erreichte mich eine e-Mail. Darin stand, dass da jemand an einer Hungerstaffel gegen Hartz IV teilnehmen wolle und dass man die Aktion unterstützen sollte. Ich will nur empfehlen: Hört mit dem Quatsch auf! Das ist kein zielführender Protest. Und die Logik und die Aura, die darum geschmiedet wird, wirkt auf mich wie aus dem Kinderzimmer rekrutiert.

Wen wollt ihr denn bestrafen? Die Herolde von Hartz IV vielleicht? Als ob ein Loch im Magen noch jemanden schmerzen könnte außer demjenigen, der es hat. Man bestraft sich doch nur selbst. Die Clowns in den Jobcentern machen weiter wie eh und je. Man erzwingt damit nichts außer Magensonden und Zwangsernährung. Das kommt mir vor wie der Teenager im Nebenzimmer, dem ich den abendlichen Kinobesuch verbiete und der dann motzt, dass er eben nie wieder ins Kino gehen werde. Ein bisschen Trotz tut gut. Zu viel davon wird zum ideologischen Phlegma, zur bockigen Ich-strafe-Dich-indem-ich-mich-strafe-Logik. Man sollte Protest nicht mit Masochismus und Selbstkasteiung verwechseln.

Diejenigen, die hungern in ihrer Verzweiflung, will ich gar nicht angreifen. Theoretisch leuchtet die Praxis ja ein. Man macht sein Leid kenntlich, hungert sich zu einer Metapher für das eigene Unglück herunter. Zynisch könnte man von einem theatralischen Beeinflussungsversuch sprechen. Die, die hungern, sind ja wirklich arme Schweine. Blöde Schweine sind hingegen diejenigen, die in die Rolle von Betroffenheitsfunktionären schlüpfen, die den Hungerstreik zu etwas ausbauen, was er nicht ist. Baadereske Gestalten, die wie der damalige Stammheimer Hungerstreiks einleiten und mit dem Finger drauf zeigen und verschämt in ihre Stulle beißen.

Hunger ist keine Lösungsansatz. Er ist Teil des Problems. Und die widerlichen Personen, die den Hungerleider auch noch stützen, weil sie meinen, der ausgelutschte Körper sei eine irgendwie geartete politische Botschaft, die haben kein Interesse an der Lösung, die potenzieren das Problem lediglich.

Trotzdem finde ich, dass man den Hungernden raten soll: Esst was! Plündert die Kühlschränke reicher Leute! Das wäre eine Botschaft. Wer glaubt den Hunger mit Hunger bekämpfen zu können, der könnte auch den Ministern glauben, die erzählen, dass man den Krieg mit Krieg bekämpfen kann. "Intellektuell" ist das dieselbe Liga. Krieg den Palästen, um das Magenknurren in Hütten zu befriedigen! Wer die Sorgen der Hütte zum Symbol verherrlicht, der stiftet wohlige Palastruhe.

Wer jetzt sagt, es gehe dabei ja nicht um Hunger, sondern um Aufmerksamkeit, der hat nur die Hälfte begriffen. Es geht immer um Hunger. Es geht darum, jeden Tag sorglos essen zu wollen. Unter einem Dach essen zu wollen. Gesellschaftlich anerkannt seine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Satt zu sein und zu bleiben. Auch wer, wie früher geschehen, gegen die Atomkraft hungert, dem geht es um die Sorge, bald nicht mehr oder nur noch verseucht essen zu können. Alles was wir tun, handelt in letzter Instanz immer vom Essen.

Soll ich nun den Polizisten, die die Asylbewerber ins Krankenhaus verfrachteten und den Ärzten böse sein, weil sie Zwang anwandten? Was hätten sie sonst tun sollen? Und wenn ich dann diese Funktionäre des Hungers sehe, die applaudierend neben den Hungerleidern stehen, die laut Skandal! rufen, weil Polizei und Ärzteschaft Hand in Hand Zwang anwenden, weil sie in Krankenhäuser abführen und Sonden platzieren, dann kann ich nur den Kopf schütteln. Solche Leute sensibilisieren die Welt nicht. Sie sind selbst unsensible Leute, die ihren Selbsthass auf andere richten und völlig irrational meinen, so könne die Welt besser gelingen.

Sympathie hege ich mit diesen Funktionseliten der Besitzständler sicher nicht. Aber hier kann und will ich nicht gegen sie stehen.

Mit linker Weltsicht, mit progressivem Blick auf die menschliche Gemeinschaft, hat die Apotheose des Hungerstreiks nichts, aber auch gar nichts zu tun. Das sind gesinnungsfaschistische Methoden, die auf das große Nichts zusteuern, die den täglichen Kampf um eine etwas erträglichere Welt in den Nihilismus weisen, die eine Leere erzeugen. Die Divinisierung des Märtyrers wird dabei nicht selten mit esoterischer Verve poliert - das was sich halt einstellt, wenn Leere entsteht.

Was die Konservativen zum Hungerstreik sagen, nämlich dass er Erpressung ist, lasse ich aber nicht gelten. Klar ist er Erpressung. So wie alles in der Welt. Darauf beruhen Gemeinwesen und Familien. Das man mit dem Hungerstreik das Erpressungsmonopol staatlicher Behörden antastet, ist also kein Argument. Erpresser kann jeder sein. Natürlich erpresst das geregelte Leben zwischen Menschen, vulgo Staat genannt, bequemer, weil mit vollerem Bauch.

Wenn ich möchte, dass alle Menschen essen sollen, wobei "das Essen" hier auch symbolisch und metaphorisch für Sorgenfreiheit aller Art stehen kann, dann kann die Forcierung der Sorge nicht der richtige Weg sein. Wie gesagt, wer das dennoch glaubt, der kann auch am Krieg einen Akt der Befriedung erkennen. Ist es also ein Zufall, dass die Aktivisten rund um die Hungerstreiker und die Menschenrechtskrieger nicht selten aus derselben Klientel stammen?


Hier weiterlesen...

Ganz schön Panne

Donnerstag, 29. August 2013

Der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zur NSU-Mordserie hat im wesentlichen eines deutlich gemacht: Rassismus ist in diesem Land weiterhin keine gefährliche Haltung, sondern lediglich eine Panne im "System Bundesrepublik".

Ob Spiegel, Zeit oder Welt: Das Wort "Panne" prägte die Aufarbeitung des rechtsextremen Terrors. Pannen tragen die Schuld am Versagen der Behörden und des Geheimdienstes. Nicht etwa institutioneller Rassismus. Die Worte "Panne" und "Behördenversagen" spielen herunter und verschleiern den Umstand, dass die Mordserie teilweise dem Umfeld der Opfer selbst zugeschoben wurde. Stichwort: Döner-Morde.

Hier weiterlesen...

Ohne Plan, ohne Perspektiven

Mittwoch, 28. August 2013

Die Fünf-Jahres-Pläne waren lächerlich. Die von der Politik exekutierte Erhöhung der Normen lebensfremd. Das Hangeln alter saturierter Männer von Plan zu Plan musste zwangsläufig ein Wirtschaftssystem der Flickschusterei erzeugen. Gleichwohl, man hat im Rückblick den Eindruck, die Köpfe des Sozialismus wollten damit eine Richtung, wollten Perspektiven blanklegen, die Bevölkerung für eine Zukunft gewinnen, die es dann zwar nicht gab, die aber ein Leitmotiv sein sollte.

Das geht dem Kapitalismus völlig ab. Er lobt sich beständig, die Probleme der Menschheit ins Gute zu arrangieren. Langsam zwar, nicht geplant zwar, aber doch wirksam. Er putzt den Wohlstand heraus, den er "für alle" sichert, läßt sein Personal Maßnahmen verkündigen, die das Vorwärts! in jedem Satz mitführen und stärkt sich so als ein System von mehr Arbeitsplätzen, mehr Betreuung, mehr Wachstum, mehr Bildung und mehr verkauften Autos. Aber wozu das alles? Warum dieses beständige Mehr? Das verklickert einem im Kapitalismus keiner. Eine Perspektive gibt es nicht. Es gibt kein Ziel, nur einen undeutlich kenntlichen Trampelpfad ins Nichts, er definiert sich als a road to nowhere.

Wahrscheinlich war zu viel Pathos in den Kitsch des Sozialismus gemischt. Zu viel künstliche Zuversicht vom Besser und Gerechter. Aber wenigstens gab es, wenn auch manchmal schwer vorstellbar, die Absicht einer gerechteren Gesellschaft. Der neoliberale Kapitalismus versucht gar nicht erst, irgendetwas in dieser Art zu predigen. Er sagt nur: Weitermachen, immer weitermachen! Aber für was? Wohin soll es gehen? Wo ist der Fingerzeig? Die Vision, die das Schuften und alle Prozesse innerhalb des Systems wenigstens rechtfertigen könnte?

Es wird gearbeitet und das Los der Arbeitslosigkeit ertragen, wertgeschöpft, konsumiert und investiert, es werden Reformen geduldet - aber am Ende weiß man nicht mal, was das Ziel dieser ganzen Prozedur ist. Seine Rechnungen bezahlen können. Klar! Und darüber hinaus?

Man hat den realen Sozialismus in dieser Frage ganz richtig in die Nähe des Christentums gerückt. Er sei nach christlichem Vorbild eschatologisch gewesen, habe eine zukünftige Vollendung propagiert. Dieser "Anbruch einer besseren Welt" war zwar sicherlich noch weit entfernt, aber man konnte wenigstens hin und wieder glauben, dass es den sozialistischen Eliten zwischen ihrer ganz ordinären Machtbesessenheit auch um hehre Motive ging.

Vielleicht ist dieser amtierende Kapitalismus auch das erste Herrschaftssystem, das keine Eschatologie entwickelt hat. Die Sozialisten hatten erst ihre Revolution als Hoffnung und später dann die Fortentwicklung einer gerechteren Gesellschaft. Im Mittelalter spähte man auf das Himmelreich - und selbst die Faschisten haben sich ein Endziel ausgedacht und an den Endsieg geglaubt. Es fällt schwer, das Endziel des Kapitalismus zu beschreiben. Das verwundert nicht, denn es wird ja nie erläutert. Mit dem Ende der Geschichte, das man ihm anklammerte, scheint auch die Aussicht auf eine Welt mit rosigeren Perspektiven keine Geschichte mehr zu sein, die man gerne erzählt.

Lenin deutet mit dem Finger visionär in eine Richtung. Vorwärts immer, rückwärts nimmer, nuschelte der alte Erich. Völlig vergessen, dass es ein Ziel gibt, auf das hinzuarbeiten ist, hat man "drüben" nicht. Die Perspektive wurde nicht ausgeblendet, man behielt sie im Auge. Da war natürlich auch viel Symbolik dabei. Aber nicht mal die gibt es im Kapitalismus. Oder halt, denn natürlich muss man den kapitalistischen Fingerzeig berücksichtigen. Er deutet nicht in die Ferne, er deutet in die Höhe und ist das Vorrecht des Mittelfingers.

Der Stinkefinger ist die ganz spezielle Perspektive, die dieses System seinen Insassen gibt. Leck mich am Arsch! Fick Dich! Nach mir die Sintflut! Das sind die schönen Aussichten, die der neoliberale Kapitalismus in die Gesellschaft hineinspart und reinprivatisiert. Das Ende der Geschichte ist, dass der visionär deutende Finger des Lenin durch den vulgär strotzenden Mittelfinger des Kapitals und seiner Zweckerfüller ersetzt wurde. Ohne Plan und Perspektive durch eine Geschichte, die sich selbst schon für beendet erklärt hat.


Hier weiterlesen...

Beistand statt Gefechtsstand

Dienstag, 27. August 2013

Noch einige Gedanken zu Syrien und zum Westen bevor es losgeht.

Der nun womöglich beabsichtigte Waffengang des Westens in Syrien scheint vermessen. Seit Monaten bekommt der Westen nur vage Nachrichten aus jener Gegend geliefert. Nichts Genaues wusste man nicht. Das ist in Bürgerkriegsgegenden üblich. Der mögliche Einsatz chemischer Waffen reiht sich ein in diese nebulösen Ereignisse. Es gibt nun Stimmen, die Assad den Einsatz in die Schuhe schieben und andere, die ganz sicher sein wollen, dass er Giftgas nicht angeordnet hat. In jedem Falle sind das aber Spekulationen. Auf so einer Basis sollte man nicht intervenieren - und schon gar nicht parteiisch intervenieren.

Zudem gesellt sich eine westliche Doppelmoral hinzu. Man hat den Einsatz chemischer Waffen stets als "rote Linie" bezeichnet. Würde sie übertreten, könnte sich der Westen unter Führung der Vereinigten Staaten vorstellen, in Syrien militärisch tätig zu werden. Der Einsatz solcher Waffen, die der Zivilbevölkerung kalkuliert schaden sollen, gilt als unerträglich. Gleichzeitig heißt es nun aber, dass ein etwaiger Militäreinsatz sich auf Angriffe aus der Luft beschränken sollte. Eine Methode also, die erfahrungsgemäß auch vor allem der Zivilbevölkerung schadet und kaum strategische Ziele trifft.

Ein Militärschlag ist kaum nützlich, um den Bürgerkrieg in die Schranken zu weisen. Mehr als 100.000 Tote hat es in den letzten zwei Jahren gegeben. Wer sagt denn, dass Luftangriffe über geraume Zeit hinweg diese Zahl nicht verdoppeln? Und pragmatisch und realpolitisch gefragt: Wen will der Westen dort unterstützen? Assad oder die Rebellen? Und was, wenn man sich auf jene Seite schlägt, die das Giftgas in den Krieg holte? Man kann heute nicht wissen, wer die "rote Linie" überschritt. Offizielle US-Kanäle beteuern bereits jetzt, dass man womöglich nie erfahren wird, wer das Gas einsetzte. Hier wird schon vorgebaut.

Natürlich könnte man auch keine der beiden Seiten unterstützen und eine dritte Partei entwerfen, aufbauen und finanzieren. Das ist aber unrealistisch, verschärft das Konfliktpotenzial nur. Man braucht für ein geplantes nation building entweder die Funktionseliten Assads oder andere Führungspersonen aus Reihen der Rebellen, die man mal irrtümlich als Demokraten angesehen hat, bis auch deren offenbare Greuel öffentlich wurden.

Man muss in Texten zur Lage in Syrien immer "offenbar" oder "offensichtlich" voransetzen. Man weiß ja so wenig von dem Vielen, was man so hört und liest. Das ist das wesentliche Problem. Was wenn man die Rebellen zur "Nordallianz Syriens" macht und man dann herausfindet, dass sie das Giftgas benutzten, um es Assad in die Schuhe zu schieben? Nicht, dass dann die Glaubwürdigkeit einer westlichen Koalition verloren wäre. Die ist heute schon verloren. Niemand in der islamischen Welt glaubt auch nur ansatzweise, dass es dem Westen je um edle Motive gegangen wäre, um Humanitas oder ethische Normen etwa. Der Islam begreift den Westen als krämerisches Gemeinwesen, das sich über Profite und Handelsinteressen definiert.

So hart das aus menschlicher Sicht klingen mag: Bürgerkriege kann man nicht von Außen beenden. Man muss sie zwangsläufig toben lassen. Der "humanitäre Einsatz" ist die Lebenslüge jener Generationen des Westens, die sich nach den Studentenunruhen der Sechzigerjahre in die Institutionen begaben, um dort neue Wege zu beschreiten, neue Praxen zu installieren. Diese scheinbar aufgeklärte Position der Fürsorge und Hilfe durch Waffengang und Versorgungsleistung, hat sich oftmals als Entfacher neuer Probleme und Verschärfer von Krisen erwiesen. In Afghanistan oder dem Irak herrscht noch immer Krieg, der aber geschickt hinter Zuständen verborgen wird, die suggerieren, es gehe alles den geregelten Lauf seiner Dinge.

Dass selbst die "aufgeklärten Marschierer durch die Institutionen" einem eurozentristischen Überlegenheitskult anhaften, dürfte wohl eine der schlimmsten Erfahrungen der politischen Linken Europas in den letzten Jahren gewesen sein. Die Bereitschaft, den "rückständigen Völkern" eine Demokratie nach europäischen Zuschnitt zu verpassen, hatte ja auch Kreise erfasst, die sich noch Jahre zuvor als progressiv und links einstuften. Die Forderung der Grünen, die Burka wegzubomben, um die Frauen in der islamischen Welt zu befreien, ist wohl der exemplarische Kleingeist, der die regional begrenzten Resultate westlicher Tradition und Kultur als gesinnungsterroristischen "Weltethos für alle" umdeutet.

Diese Haltung darf nicht erneut in ein Abenteuer führen. Syrien befindet sich im Bürgerkrieg. Durch die Parteinahme für eine Seite schafft man sich dann möglicherweise ein Regime, das dann erneut Proteste und Frühlingsgefühle erzeugen wird, neue Revolten entfacht. Manchmal kann man nur zusehen. Helfen zwar, NGOs unterstützen und Asylverfahren erleichtern. Aber sonst ist nicht viel zu machen.

Eine internationale Asylpolitik, die ihren Namen verdient, die nicht in Drittländer verschiebt und Asylmotive leugnet, wäre ein probates Mittel gegen Kriegseinsätze. Die junge Bundesrepublik, die ihre Bundeswehr noch als Verteidigungsarmee begriff, übernahm internationale Verantwortung, indem sie ein relativ großzügiges Asylrecht gewährte. Bis zu dem Punkt, da man wieder mit Knobelbechern an den Füßen wer in der Welt sein, deutsche Interessen in zentralasiatischen Gebirgen vertreten wollte. Die Neuausrichtung der Bundeswehr und die Verschärfung der Asylpraxis sind nicht voneinander zu trennen, sondern gehören inhaltlich zusammen.

Der beliebte Vergleich mit der Koalition gegen Hitler zieht nicht. Denn bringt man immer, wenn man belegen möchte, dass eine "Koalition der Willigen" durchaus Erfolg haben könne. Doch Hitlerdeutschland war aus demselben Kulturkreis wie jene Anti-Hitler-Allianz. Das "andere Deutschland" war greifbar und kulturell verständlich für die späteren Siegermächte. Daher gelang die Demokratisierung Deutschlands dann auch. Eine demokratische Grundstruktur nach westlichen Gesichtspunkten gab es ja vorher schon. Es war also eine Koalition gegen eine Aggressor desselben Kulturkreises. Ein Einsatz in anderen Kulturkreisen bedarf aber stets einer Definition von dem, was Demokratie sein könnte. Die westliche kann andernorts jedenfalls nicht in Frage kommen. Bereits hier scheitert das Konzept "Frieden schaffen, durch Einsatz von Waffen". Das ist eine Frage geschichtlicher Entwicklungsprozesse.

Es sind dieselben Einwände, die man schon wegen Afghanistan und dem Irak vorbrachte. Dieselben, die damals schon nichts brachten. Mit jedem Einsatz des Westens in anderen Weltregionen, sei er auch noch so sehr ideell aufgeladen und im Namen der Menschenrechte bestritten, verstärkt man das Gefühl anderer Kulturen, in eine Weltdiktatur der westlichen Nationen und ihrer ökonomischen Lehre gestoßen zu werden.

Eine friedliche Koexistenz der Kulturen läßt sich als globaler Idealfall nur ermöglichen, wenn man auch etwaige Bürgerkriege nicht instrumentalisiert, sondern ihnen ergebnisoffen von Außen beisteht. Entscheiden sich die Menschen dann für ein Gesellschaftskonzept, das nicht völlig laizistisch ist, sondern dem politischen Islam geschuldet, so muss der Westen das tolerieren und pragmatisch damit umgehen. Nur so läßt sich Koexistenz herstellen.


Hier weiterlesen...

Aus fremder Feder

Montag, 26. August 2013

"Manches von dem, was später zu Hitlers effektvollsten Folterinstrumenten gehören sollte, wurde von Brüning eingeführt: die "Devisenbewirtschaftung", die die Auslandsreisen, die "Reichsfluchtsteuer", die die Auswanderung unmöglich machte; sogar die Beschränkung der Pressefreiheit und die Knebelung des Parlaments gehen, in den Anfängen, auf ihn zurück. Dabei tat er das alles, paradox genug, im tiefsten Grunde zur Verteidigung der Republik. Aber die Republikaner begannen sich begreiflicherweise allmählich zu fragen, was ihnen nach alledem eigentlich noch zu verteidigen blieb.
Meines Wissens ist das Brüningregime die erste Studie und, sozusagen, das Modell gewesen zu einer Regierungsart, die seither in vielen Ländern Europas Nachahmung gefunden hat: Der Semi-Diktatur im Namen der Demokratie und zu Abwehr der echten Diktatur. Wer sich der Mühe unterziehen würde, die Regierungszeit Brünings eingehend zu studieren, würde hier schon alle die Elemente vorgebildet finden, die diese Regierungsweise im Effekt fast unentrinnbar zur Vorschule dessen machen, was sie eigentlich bekämpfen soll: die Entmutigung der eigenen Anhänger; die Aushöhlung der eigenen Position; die Gewöhnung an Unfreiheit; die ideelle Wehrlosigkeit gegen die feindliche Propaganda; die Abgabe der Initiative an den Gegner; und schließlich das Versagen in dem Augenblick, wo alles sich zu einer nackten Machtfrage zuspitzte."
- Sebastian Haffner, "Geschichte eines Deutschen" -

Hier weiterlesen...

Wohlstand für alle

In dieser Republik läßt man Missstände offen. Man ist ehrlich, sagt nicht, dass es sie nicht gibt, man merkt nur an, dass sie vielleicht nicht unbedingt das sind, was sie scheinen. So minijobben viele nebenher nicht aus der Not heraus, sondern aus ihrer gesteigerten Konsumlust. Ähnlich wertete man schon mal die Lage aus. Damals erzählte man, dass die Legionen von Rentnern, die im Alter immer noch erwerbstätig sind, nicht arbeiten, weil sie zu kleine Renten haben, sondern weil sie jung und kraftvoll geblieben seien.

Sozio-ökonomische Missstände gibt es unter dieser Regierung nicht. Der Missstand ist für sie kein den Menschen auferlegtes Los, keine ausweglose Situation, sondern eine Wahl aus freien Stücken, der freie Wille der Leute. Mit der fröhlichen Erkenntnis, dass eigentlich alles im Butter ist, nimmt man den Missstand aus dem Feuer. Er wird zum Zustand, den man vielleicht hinterfragen kann, der aber nichts Negatives mehr an sich hat. Deswegen muss man auch nichts beheben, nicht intervenieren, kann sich zurücklehnen. Diese "Exegese der Zuversicht" zieht Motive heran, die die Verantwortung für etwaige gesellschaftliche Erscheinungen aus sozio-ökonomischen Zusammenhängen herausreißt, um sie zu "privatisieren", sie zur Entscheidungfrage der Protagonisten auf dem Arbeitsmarkt zu machen.

Der Minijobber ist so letztlich nicht mehr das schwächste Glied in der Kette, die wir vereinfachend Arbeitsmarkt nennen. Er ist der personifizierte freie Wille. Dieses Herunterspielen suggeriert auch, dass arbeitende Senioren oder konsumlustige Minijobber eigentlich die stärkeren Mitspieler am Arbeitsmarkt sind. Sie können sich ja nach Lust und Laune Arbeitsplätze suchen; sie arbeiten lediglich, weil sie noch jugendlich sind oder gerne shoppen. Sie arbeiten jedoch nicht, weil sie müssen, um ihr Leben finanzieren zu können. Der Zwang dazu wird negiert, wird ausgeblendet. Das stellt die Realität zwar auf den Kopf, ist aber fürs "Durchregieren" bequemer.

Die Verklärung eines Missstandes oder einer gesellschaftlichen Entwicklung, die nicht unbedingt von der Gesellschaft und ihren Mitgliedern gewollt ist, schiebt die Verantwortlichkeit denen in die Schuhe, die darunter leiden. Wann wird man die bunten Erwerbsbiographien junger Menschen damit erklären, dass junge Menschen eben gerne neue Erfahrungen machen? Nur so spricht niemand mehr von den Arbeitsmarktreformen, die längere Probezeiten und erleichterte Befristungen ermöglicht haben.

Der Niedriglohnsektor ist in Merkeldeutschland kein Problem. In ihm arbeitet man nur freiwillig. Wie es scheint, ist er der "Arbeitsmarkt des Luxus", denn in ihm arbeiten Konsumversessene und im Jugendkult galoppierende Zeitgenossen - Leute also, die nicht müssten, die aber wollen. Der Niedriglohnsektor ist insofern ein Tummelplatz von Menschen, die ohne Not arbeiten. Lauter fröhliche und fleißige Freiwillige. Prekäre Verhältnisse gibt es nicht. Es gibt nur Wohlstandsniedriglöhner. Der deutsche Niedriglohnsektor ist somit die Erfüllung des einstigen Versprechens: Wohlstand für alle.


Hier weiterlesen...

Gedanken, die einer hat, bevor er sich im zweiten Stockwerk Geiseln nimmt

Freitag, 23. August 2013

In jenem Zimmer, in dem der Geiselnehmer von Ingolstadt neulich sein Tagwerk verrichtete, stand ich vor vielen Jahren, um mich in meiner Ausweglosigkeit beim Bürgermeister zu beklagen. Das städtische Standesamt hatte bei der Bestellung des Aufgebotes meinem Nachnamen Unrecht angetan.

Es wollte mir nämlich das De von De Lapuente kastrieren. Lapuente habe mein zukünftiger Familienname zu sein. Denn es handle sich gemäß eines ominösen Paragraphen aus einer dicken Schwarte, um einen so genannten "spanischen Partikel", den man nach deutschen Namensrecht unbedingt schleifen muss, erklärte mir der Standesbeamte. Ich protestierte. Fragte, ob deutsche Von-Namen auch ihren Von weggeben müssen. Nö, die natürlich nicht. Die sind was Besseres. Hat er nicht gesagt. Ich habe es trotzdem herausgehört. Das sei bei deutschen Namen etwas völlig anderes, weil das De in italienischen oder spanischen Nachnamen meist nur eine Ortangabe darstelle. Bei oder von der Brücke, in meinem Falle. Dergleichen gäbe es natürlich im Deutschen eher nicht. Warum Namen keine Ortsherkunft deutlich machen dürfen, hat er mir nicht erzählt.

Der Mann war mir jedoch gewogen. Er gab mir eine Empfehlung. Eigentlich sogar zwei. Die erste servierte er mir, nachdem ich stur verkündete, dass ich weiterhin mit De Lapuente unterschreiben würde: "Lassen Sie sich gesagt sein: Das wäre Urkundenfälschung." Mein Geburtsname eine Fälschung! Nicht übel. Der zweite Ratschlag war praktischer Natur: "Gehen Sie mal rüber ins Ausländeramt. Dort könnten Sie eine Namensänderung beantragen." Dann könnte ich mein De vielleicht behalten, machte er mir Hoffnung. Vielleicht dürfe ich doch weiterhin so heißen, wie ich schon immer hieß. Der Standesbeamte gab mir noch mit auf den Weg, dass der ganze Spaß bis zu 2.000 D-Mark kosten könne. Mit diesem Wissen schlug ich konsterniert im Ausländeramt auf.

Der Typ, der mich dort in sein Büro hieß, war ein ziemlicher Schnösel. Er strich sich dauernd über seinen Schnurbart - wahrscheinlich prüfte er, ob er noch da war. Am Kopf waren sie ihm schon halbwegs flöten gegangen. Ich glaube, so einen Verlust wollte er nicht nochmal unbemerkt erleben müssen. Nach Darlegung meines Anliegens machte der Kerl auf witzig und rezitierte Goethe: Namen seien doch nur Schall und Rauch. Und überhaupt, so schob er nach, sei mein Anliegen nichts im Vergleich zu dem, was er sonst so in seinem Büro erlebe. Richtige Schicksalsschläge. Schlimme Geschichten. Und nun käme ich mit meinem Namensstolz. Ich fragte ihn, wie er eigentlich heiße. Eder hieß er. "Ich verstehe das, wenn ich so heißen würde, wäre mir die ganze Sache auch wurscht", sagte ich. Da warf er mich aus seinem Büro. Sein Humor hatte ganz offenbar doch Grenzen.

Ich ging danach nach Hause. So viel bürokratische Arroganz musste ich erst verarbeiten. Und ich dachte darüber nach, ob ich womöglich doch ein wenig kleinlich gewesen bin. Klar, Eder hatte recht. Es gab viele Dinge, die schlimmer waren. An sich schon die Ehe, die ich seinerzeit gedachte einzugehen und die sich mit diesem Ärger standesgemäß ankündigte. Und von Abschiebeverfahren beim Meister Eder ganz zu schweigen. Aber heißt das, dass ich ab sofort mit Dünnschiss nicht mehr von der Arbeit daheimbleiben sollte, weil es auch Menschen mit Karzinome gibt?

Nach einigen Tagen war ich nicht weniger wütend. Geld für eine Namensänderung zu bezahlen, die gar keine Änderung wäre, sondern lediglich eine "Beibehaltungserlaubnis", diese Aussicht machte mich regelrecht aggressiv. Und so landete ich im Vorzimmer des Bürgermeisters. Sein Helferlein sprach mit mir. Ich musste ihm alles genau erklären. War ja auch kein Alltagsfall. Und er machte auch wirklich große Augen. Vielleicht hatte er aber auch nur eine Wimper im Auge. Körpersprache wird ja meist überbewertet. Damals wertete ich das allerdings als gutes Zeichen. Er bat mich um etwas Zeit und verschwand. Ich ging hin und her, treppauf und treppab. Über eine Stunde lang. Starrte die Büste des ollen Josef Listl an und staunte. Der Bursche war von 1930 bis 1945 und von 1956 bis 1966 Bürgermeister von Ingolstadt. Und er war Mitglied der SA und der NSDAP. Seit 1965 ist er Ehrenbürger dieser Stadt an der Donau. Nun gaffte ich jedenfalls seinen kantigen Steinkopf im Foyer des Alten Rathauses an. Ich fragte mich, ob es das ist, was man unter "gelebte Tradition" versteht?

Nach weit mehr als einer Stunde kam der Mann aus den Amtsräumen seines Chefs. Die Kosten für die Namensänderung, so sagte er mir, würden gering gehalten. Versprochen! Sollte ich mich darüber freuen? In den sauren Apfel beißen und einen Hunderter zahlen, damit ich meinen Namen behalten darf und am Ende auch noch vielen Dank für diese gütige Haltung mir gegenüber sagen?

Dieser behördliche Wahnsinn, diese Arroganz und herablassende Herangehensweise, das alles hat mich in jenen Räumlichkeiten des Rathauses kurz davon träumen lassen, hier ganz groß auf mich aufmerksam zu machen. "Achtung, ich habe Geiseln und nun hört mir mal ganz genau zu, ihr Pisser!" Was man sich halt so denkt, bevor man im zweiten Stockwerk Geiseln nimmt.

Klar, es ging nur um einen Nachnamen. Aber hey, es war und ist mein Nachname. Und diese Willkür, die hat mich in meiner Hilflosigkeit kurz zum Geiselnehmer werden lassen. Sartre behauptete, dass der Mensch das einzige Wesen sei, das sich jederzeit über die Situation hinaus entwerfen könne. Er kann sein, was er sein will. Ich hatte kurz den Entwurf einer solchen Show vor Augen. Auch Geiselnehmer kann man sein.

Was ich sagen will: Uns kann es alle dazu treiben, plötzlich den Tag als Geiselnehmer zu beginnen. Manchmal liegt zwischen dem Impuls zur Aktion und der Zurückhaltung nur eine kleine Hemmschwelle. Meine Schwelle war dann doch zu hoch. Und manchmal braucht es ein großes Unrecht, um eine solch kopflose Tat als letzten Ausweg zu sehen - oder eben nur einen gestohlenen Nachnamen. Oder man kann es so ausdrücken, wie es Tommy Lee Jones in "No Country for Old Men" tat, als er seinem Kollegen die Geschichte eines Paares erzählte, das Menschen folterte, tötete und in Teile schnitt. Sein Kollege fragte etwas ratlos, warum Leute dergleichen machten. Und Jones antwortet: "Vielleicht war ihr Fernsehapparat kaputt."

Manchmal reichen eben banale Gründe aus. Sie werden hernach nur nicht geglaubt und man entwirft eine riesige Geschichte des sich bereits im Vorfeld abzeichnenden Vorfalls. Wenn die Voraussetzungen stimmen, beenden wir den Tag als Geiselnehmer. Wer glaubt denn ernsthaft, dass der Typ, der vor einigen Tagen in Dossenheim ein Blutbad anrichtete, schon am Vorabend wusste, was geschehen wird? Unsere Zeit scheint diese Erkenntnis nur völlig verdrängt zu haben, weswegen sie dauernd idiotische Fragen wie "Warum nur?" oder "Wie konnte das passieren?" heraufbeschwört.

Wie oft wohl da oben im Alten Rathaus zu Ingolstadt Menschen kurz davor standen, brachial auf sich und ihre Geschichte aufmerksam zu machen? Gestern wegen einem Nachnamen und heute, weil man seine Medikation nicht eingehalten hat. Gründe gibt es viele. Wir sind eine pluralistische Gesellschaft.

Ach, bevor man mir Nachfragen schickt: Ich bekam einige Tage später eine Entschuldigung des Standesamtes. Das heißt, klassisch entschuldigt haben sie sich nicht. Man habe nur erkannt, das man falsch interpretiert habe. Ein Missverständnis. Hochachtungsvoll, Ihr Standesamt. Es blieb, wie es war. Ob das spanische Konsulat dahintersteckte, das ich Tage zuvor damals fortschrittlich per e-Mail kontaktierte? Ich habe es nie erfahren.


Hier weiterlesen...

Zwischen "Privatisierung" und Transparenz

Donnerstag, 22. August 2013

Die politischen Eliten haben ein ambivalentes Verhältnis zur Überwachung. Den Kamera- und Wanzenstaat lehnen sie nicht grundsätzlich ab. Prism habe schließlich auch gute Gründe. Nur selbst, wollen sie nicht zu sehr überwacht werden.

Die Bigotterie des Stadtrates meiner Heimatstadt, steht exemplarisch für dieses Verhältnis des bürgerlichen Konservatismus zur Transparenzpolitik. Jahrelang setzte er sich dafür ein, dass der Zentrale Omnibusbahnhof in Ingolstadt per Kamera überwacht wird. Ausländer und Alkoholiker würden dort ihren Tag verbringen und die Passanten ärgern. Irgendwann haben sie es dann durchgeboxt und als Zeichen kommunalpolitischer "Law and Order"-Politik einige Kameras installiert.

Hier weiterlesen...

Zu Ohren gekommen

Mittwoch, 21. August 2013

Nach der Urteilsverkündung im Fall Bradley Manning, verkündeten die Medien im vereinten O-Ton: Mannig schuldig! In allerlei Variationen konnte man das lesen. Die Bildzeitung titelte "Schuldig, aber keine Todesstrafe" und der Stern überschrieb seinen Bericht mit "Schuldig der Spionage". In der Augsburger Allgemeinen hieß es "Schuldig: Manning drohen 100 Jahre Haft". Und selbst die Deutsche Welle glaubte titeln zu müssen: "Manning in 19 von 21 Anklagepunkten schuldig".

Manning war in den Aufmachern also schuldig - er wurde nicht schuldig gesprochen. So wird folglich nicht über ein juristisches Urteil informiert, sondern nebenbei ein moralisches Urteil durch Unterlassung eines Verbs gefällt. Alternativ hätte man auch schreiben können, dass Manning verurteilt wurde. Das hätte die moralische Interpretation des Urteils ausgeklammert und die Schuldfrage nicht als reißerischen Einstieg verbraten.

Das dem Angeklagten angeheftete Adjektiv wird ihm zur Eigenschaft. So ist er schuldig. Die Handlung dazu, das Sprechen oder Entbinden von Schuld, durchaus nicht immer ein durchsichtiger Akt, unterbleibt. Kann man vom Journalismus aber nicht erwarten, dass er moralinfrei berichtet? Den Schuldspruch thematisiert, die Schuld aber nicht zur Eigenschaft macht? Das wäre gerade in einem so sensiblen Fall nötig, in dem Schuld oder Unschuld nicht Tatsachen an sich sind, sondern ganz speziellen Kritierien nationaler Interessen unterliegen.

So aber muss der flüchtige Leser annehmen, dass der Whistleblower nicht juristisch schuldig gesprochen wurde, sondern auch vom ethischen Standpunkt aus schuldig ist. Der Schuldspruch impliziert ja, dass da jemand eine Verurteilung ausgesprochen hat, weil er glaubt, hier habe sich jemand schuldig gemacht. Der Ausruf "Angeklagter schuldig!" hat den möglichen Zweifel jedoch schon getilgt. Klassenjustiz oder eine Militärjustiz, die bürgerrechtlich fadenscheinig urteilt, kommt darin nicht mehr vor. "Manning schuldig!" adelt die Militärjustiz zu einem umsichtigen und fairen Gericht - "Manning schuldig gesprochen!" erlaubt dem eiligen Leser wenigstens noch, es auch anders werten zu können.


Hier weiterlesen...

Der Aufsichtsrat wird bestätigt

Dienstag, 20. August 2013

Der Agenturbericht für den 23. September liegt schon in den Schubladen.

Berlin, 23. September 2013 - Die Hauptversammlung der Deutschen Neoliberalismus AG hat die sehr erfolgreiche Arbeit von Vorstand und Aufsichtsrat in den Geschäftsjahren von 2005/2009 bis 2013 honoriert und am 22. September 2013 in den Wahllokalen ihr vollstes Vertrauen ausgesprochen. Der Vorstand und der Aufsichtsrat wurden mit der absoluten Mehrheit aller stimmberechtigten Stimmen bestätigt. Sämtliche weiteren Beschlüsse werden nun mit großer Mehrheit des anwesenden stimmberechtigten Kapitals in den nächsten Tagen getroffen.

Die Hauptversammlung billigte damit mit großer Mehrheit unter anderem die Wiedereinsetzung des Aufsichtsrates sowie die weitere Satzungsänderung des Sozial- und Rechtsstaates. Mit ihren Beschlüssen ermöglicht die Hauptversammlung der Gesellschaft eine hohe Flexibilität und Handlungsfähigkeit.

Im Rahmen der turnusgemäßen Aufsichtsratswahlen hatten sich sowohl Frau Angela Merkel (Chemikerin) als auch Herr Peer Steinbrück (Diplom-Volkswirt) zur Wahl gestellt. Frau Merkel wurde mit überwältigender Mehrheit im Aufsichtsrat bestätigt. Im Anschluss der Hauptversammlung wird die konstituierende Sitzung des neugewählten Aufsichtsrates stattfinden. Frau Merkel soll in das Amt der Aufsichtsratsvorsitzenden gewählt werden. Zum stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden soll Herr Guido Westerwelle gewählt werden.

„Dieses außerordentliche Ergebnis gibt dem Vorstand die notwendige Bestätigung, um die Arbeit am neuen Geschäftsmodell der Deutschen Neoliberalismus AG fortzuführen. Diese hohe Zustimmung stärkt den Vorstand den Rücken für all die Herausforderungen, mit der die Gesellschaft in den kommenden Monaten und Jahren konfrontiert sein wird.

Das neue Geschäftsmodell sieht einen weiteren Ausbau des aktivierenden Sozialstaates vor und die Einschränkung rechtsstaatlicher Elemente. Kleinere Maßnahmen wie die Erhöhung der Mehrwertsteuer und ein Prüfstand für familienpolitische Leistungen sollen zeitnah erfolgen. "All das gelingt uns nur mit einer breiten Zustimmung der Aktionäre", erklärte der Sprecher der neuen und alten Aufsichtsratvorsitzenden.


Hier weiterlesen...

Die mentale Volkspartei

Montag, 19. August 2013

oder Eine im Alltag angebotsorientierte Partei, in die man in Feststunden alles Schöne, Gute, Wahre hineininterpretieren darf.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands feierte dieses Wochenende im ganz großen Stil ihr 150-jähriges Bestehen. Über 150.000 Menschen sollen es laut Medienangaben in Berlin gewesen sein. Nena, Roland Kaiser, Fools Garden und Konstantin Wecker traten auf. Ein fröhlicher Rummelplatz. Die SPD als Event für den Nachmittag. Und natürlich wurde der Geist ihrer großen Geschichte beschworen, die heutige SPD in die Rolle der Bebel-Socialdemokratie gerückt. Was für ein Bohai!

Und alles wurde wie aus einem Guss hingestellt. Die SPD. Betonung auf Die. Die eine SPD. Das Wir entscheidet, plakatiert sie dieser Tage außerdem. Das gehört mittlerweile zum Mythos dieser anderthalb Jahrhunderte alten Dame. Sie suggeriert, dass es keine andere Sozialdemokratie als die jetztige geben kann. Zugegen waren aber dennoch so gegensätzliche Leute wie Steinmeier und Wecker. Agendisten und Alt-Sozis, Leute die man als besonders realistisch einstuft, weil sie das Primat der Wirtschaft stützen und solche, die glauben, die Politik sollte mehr sein, als die schüchterne Absteckerin von Rahmenbedingungen.

Die eine SPD gibt es vielleicht erst wieder seitdem Lafontaine seine Ämter aufgegeben hat. Bis dorthin existierte noch verschiedene Vorstellungen in ihrer Chefetage. Ihre Geschichte nach 1998 hätte durchaus anders verlaufen können. Wenn dieser Tage Grass Lafontaine für seine Rücktritte kritisiert, dann kann man das so sehen und bewerten, wie es der linke oder linksliberale Groupstream tut - oder aber man könnte es auch so deuten: Vielleicht nahm Grass es ja als Verrat an der Sache wahr, dass da diese personalisierte Hoffnung innerhalb einer sich neu orientierenden Sozialdemokratie hinwarf, um somit den Agendisten freien Raum zu lassen. Lafontaine hätte dann insofern nicht die Öffentlichkeit, nicht die Wähler und nicht seine Partei verraten, sondern die Idee aufgegeben, er könne innerhalb der Schröder-SPD ein Korrektiv sein, das die Neoliberalisierung verhindert. Diese Enttäuschung könnte ich verstehen. Alle anderen, die sich mit "Verrat am Wählerauftrag" begründen, kann man nur für verkitschte Versuche zur Diffamierung dieses Mannes anschauen.

Sei es, wie es sei: Die SPD gibt es heute wahrscheinlich tatsächlich einheitlicher als noch 1998. Geschlossenheit zeigen! Die Öffentlichkeit nimmt diese Parole als gute Nachricht war. Mit Geschlossenheit assoziiert man Positives. Im Falle dieser SPD hat es sich jedoch als tragische Entwicklung erwiesen. Wir haben es mit einer geschlossenen Partei zu tun, die sich stolz in ihrer Geschichte herumkugelt, den einstigen Kampf gegen Machteliten, gegen Ungerechtigkeit und den repressiven Staat stilisiert und die gleichermaßen alle Werte, die diese Geschichte je ausmachten, mit Füßen zertrampelt.

Ich wurde am Samstag gefragt, was denn Konstantin Wecker ausgerechnet bei der Hartz IV-Partei verloren hätte. Warum singt er denn dort? Ich habe überlegt und nach einer Weile geantwortet: Weil er sich unter SPD etwas anderes vorstellt, als es Steinmeier tut. Wecker und Steinmeier teilen den Respekt vor der Parteigeschichte. Das ist die Gemeinsamkeit. Der Unterschied: Wecker hält die "Geistesgeschichte der Partei" vermutlich für etwas, was fortgeschrieben werden sollte. Steinmeier hat mit ihr abgeschlossen, für ihn ist sie eine schöne Erzählung für besinnliche Stunden. Für den einen lebt die Geschichte noch und gehört wieder als Ideal fixiert; für den anderen ist sie Romantik, das Alte Testament einer Partei, die an ihrem Neuen Testament strickt.

Das ist das Dilemma. Mit der SPD verbindet man so viele hoffnungsvolle Geschichten. Aber diese aktuelle SPD schreibt keine Geschichten der Hoffnung mehr. In der Tagespolitik gibt es die SPD mehr oder weniger. Aber als Phantasie nicht. In der Gegenwart vertritt sie das Wir der angebotsorientierten Ökonomie und Soziologie. Aber in Stunden des Rückblickes schwelgt diese Partei in linker Weltsicht. In den Sachfragen der Gegenwart ist sie straff auf Betriebswirtschaft gepolt. Als Begriff ist die Sozialdemokratie aber Plastilin, kann sie plötzlich Bilder von aufrechten Gewerkschaftlern und demokratischen Sozialismus zulassen, ohne dass es diese Dinge auch in ihrer sozialdemokratischen Wirklichkeit gibt.

Die sich auf ihr Wir zurückziehende SPD betätigt sich im Alltag als die Gruppe der mutigen Agenda 2010-Reformer. Für das Gemüt ist sie die Partei des "Mehr Demokratie wagen". Nur deshalb bringt sie an Festtagen Seeheimer und Alt-Sozis zusammen, New Labour-Leute mit denen, die für soziale Gerechtigkeit einstehen. In den Köpfen der Menschen gibt es die SPD nicht. Jeder hat so seine eigene SPD, seine eigenen Vorstellungen und Erfahrungen. Sie ist eine mentale Volkspartei, die aber in der Physis des Alltags nicht viele Ansichten vereint, sondern lediglich viele Ansichten ins alternativlose Konzept des Neoliberalismus münden läßt, um sie dort "im Sachzwang" zu ersticken.


Hier weiterlesen...

Kairo und das digitale Ende der Menschlichkeit

Sonntag, 18. August 2013

Fabian Köhler über die unmenschliche "Islamisierung" der Geschehnisse in Ägypten.

Hunderte Menschen starben in den letzten Tagen in Ägypten. Zwischen Islamisten und Militär Stellung zu beziehen, fällt auch in Deutschland vielen schwer. Dabei braucht es zur Positionierung gegen Gewalt nur eines: Menschlichkeit. Ein Appell.

Es gibt entspanntere Zeiten in der Online-Redaktion, als jene, in denen islamische Länder in Gewalt versinken. Nicht weil die Nachrichten über Tote und Verletzte kein Ende zu nehmen scheinen. Es ist die Menschenverachtung der Meinungsäußerungen in User-Kommentaren, die frustriert.

Hier weiterlesen...

Die SPD wählt man trotzdem nicht

Freitag, 16. August 2013

So merkelfrustriert, jetzt Peer Steinbrück zu wählen, weigere ich mich zu sein.

Sicher, Merkel gehört abgewählt. Und dann? Was bleibt mir? Soll ich zufrieden werden? Ich bin als trauriger Chronist des neoliberalen Imperialismus freilich nur eine Randnotiz. Jeder hat seine Rolle. Und wie es aussieht, werde ich mit oder ohne Merkel immer in der Opposition bleiben. Für mich gibt es keinen anderen Plan.

Aber diese Merkel wird mir immer unerträglicher. Die Arroganz, mit der sie Kritik herunterspielt und wie infantiles Gemeckere aussehen läßt, läßt mich in Ekel zerfließen. Das deutsche Wesen, das sie Europa einpflanzen will, die Deckung der Überwachung, alleine dieser Satz letztens bei einer Kundgebung in Aschaffenburg, wo sie einigen Zuschauern, die buhten, doch tatsächlich Trost spendete mit dem Worten, die könnten doch froh sein, dass sie hier so offen ihre Meinung kundtun dürften. Ich spüre es schon körperlich, dass diese Administration weg muss. Nur bei all diesen Motiven, warum die Frau weg muss: Was kommt dann?


Ich habe nicht Rot und nicht Grün gewählt im Jahr 1998. Das war aber keine Weitsicht, auch wenn ich das manchmal schon so hingestellt habe. Schließlich hat jeder mal Tage, an denen er sich brüsten will. Man gönne mir das auch mal. Die Wahrheit lautet jedoch so: Ich war am Wochenende der Wahl im Keller des Amadeus in Ingolstadts Stadtmitte. Wie jedes Wochenende zu dieser Zeit. Und wie jedes Wochenende war ich zwischen Freitagabend und Sonntagnachmittag abwechselnd besoffen oder verkatert. Ich erinnere mich, dass ich erst am Montag erfahren habe, dass der ewige Kohl nun endgültig verkocht war. Manchmal macht man sich einfach nicht schuldig, weil man zu betrunken war, um sich aufzurappeln.

Aber Leute, wenn ich heute lese, was die Sozialdemokraten damals so von sich gaben, so kurz vor der Wahl - und wenn ich schon der "anständige Kerl" gewesen wäre, der ich heute bin: Ich hätte mich versündigt! Jung genug um naiv genug zu sein, war ich seinerzeit ja. Politik vor Ökonomie, Neoliberalismus bändigen, weil der Mensch zählt - da gab es tatsächlich Positionspapiere dazu bei den Sozis. All das geschah aber noch vor Der Weg nach vorn für Europas Sozialdemokraten. Was daraus wurde, wissen wir heute. Rot-Grün war das mieseste Schwarz-Gelb, das es je gegeben hat.

Ähnlich klingt es aus dem Lager Steinbrücks jetzt. Man hat den traditionellen Weg scheinbar wiedergefunden. Problem, lieber Peer: Ich bin zu alt, um diese Kacke zu glauben, die noch 1998 bei mir gezogen hätte - also wenn ich nicht zu stark an Strohhalmen mit Unmengen von B52 darunter gezogen hätte, meine ich. Auch wenn ich die Abwahl Merkels unbedingt will, so betrunken, um dafür Steinbrück zu wählen, bin ich dann ja auch nicht. Und wäre ich so betrunken, bliebe ich wahrscheinlich im Bett, wie schon vor 15 Jahren.

Dass ich mir vorstelle, ich hätte 1998 den Wechsel wählen können, ist mir schon Lehre genug. Wer garantiert denn, dass es nicht erneut heißt: Sorry, aber die Wirtschaft gibt den Takt an, nicht die Politik. Wir schaffen nur Rahmenbedingungen und sonst nichts. Am Ende kommt dieselbe angebotsorientierte Suppe heraus, die, wenn ich sie schon löffeln muss, mir wenigstens nicht selbst in den Teller kippen will.

Hört mir jetzt mit dem Unsinn auf, dass die SPD immer schon ein Scheißverein war! Schon vor 1998. Damals 1914 und so. Klar, stimmt irgendwo ja auch. Als Hardliner muss man sagen: Ich wähle die SPD seit '14 nicht mehr. Pragmatischer gesehen kann man aber behaupten, dass sie immer noch eine Hoffnung war, bis sie von Schröder geritten wurde.

Ab 1998 hat sich der totale Umbruch dieser Partei vollzogen. Bis dorthin hätte sie noch eine Option sein können, wenngleich nur eine begrenzte. Aber immerhin! Es war immer ein wenig so, als hätte man in der Hölle Vorstandswahlen abgehalten, bei denen zwischen verschiedenen CEOs entschieden werden konnte. Alle führten sie im Wahlprogramm Schlagworte wie Grillen, Aufspießen, Pökeln und mit "Käse und Schinken füllen" an. Nur der eine CEO ganz hinten, der Diabolus Socialdemoctraticus hieß, gab sich moderater und erklärte, ihm reiche es aus, wenn die verlorenen Seelen über heiße Kohle laufen müssten, während sie mit heißem Wasser übergossen würden. Zwischen solchen verschiedenen Teufeln zu wählen: Ist das nicht auch eine Wahl? Deswegen sprechen wir ja durchaus immer noch von der Hölle. Zwischen Höllenmodellen zu wählen ist wenig, aber immer noch mehr als das Wort Alternativlosigkeit meint.

Steinbrück gibt sich jetzt als so ein Freund von glühenden Sohlen. Nicht mal das nehme ich ihm ab. Das Blair-Schröder-Geschwafel vom Dritten Weg, von der Neuen Mitte, hatte er doch stets verinnerlicht. Chancengleichheit hat er durch Chancengerechtigkeit ersetzt. Solidarität dürfe nicht falsch verstanden werden. „Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun [...] Um sie – und nur um sie - muss sich Politik kümmern." So definierte Steinbrück Sozialdemokratie damals und so wird er sie wahrscheinlich nachher wieder definieren.< Der B52 kommt mir diesmal nicht dazwischen. Ekelhaftes Zeug. Aber wenn 1998 der Umbruch der Sozialdemokratie und letztlich auch die Zeitenwende von der alten Bonner zur neuen Berliner Republik war, dann kann die Lehre nur sein: Die SPD wählt man nicht! Dann wähle ich doch die originale Sozialdemokratie, die neuerdings Die Linke heißt. Und saufen werde ich erst, wenn der Urnenzauber rum ist. Aus Frust.


Hier weiterlesen...

Machen's halt Ihr Fenster zu!

Donnerstag, 15. August 2013

Eine nächtliche Party im Nachbarhaus, die mit guten Worten nicht zu beruhigen war, veranlasste mich vor einer Weile dazu, die Polizei zu rufen. Die kam, hörte zu und bestätigte, dass hier ein Vorfall nächtlicher Ruhestörung vorliege. Einer der Polizisten riet mir: "Machen's halt ihr Fenster zu." Ohne Frischluftzufuhr könne ich schließlich genauso schlafen. Und die lärmende Party könne trotz Verstoßes weitergehen.

In den letzten Tagen erinnerte ich mich beim Durchblättern von Zeitungen und Magazinen an diesen Vorfall. Findige IT-Experten und Ratgeber erklärten, wie man sich NSA-sicher machen könne und wie man seine E-Mails richtig verschlüssele, um vor den Geheimdiensten dieser Welt sicher zu sein.

Hier weiterlesen...

Der algorithmische Gottesbeweis

Mittwoch, 14. August 2013

Tatbestände lassen sich gemeinhin durch Beweise verifizieren. Das ist in den meisten Wissenschaften so und in der Justiz sollte es auch so sein. Die "Ökonomie des Terrorschutzes" legitimiert sich allerdings anders. Sie braucht keine Beweise als Beweis.

Durch Abwesenheit anwesend

Das ist der Beweis: Das Idyll belegt
den Terror, Idylle, Fredric Leighton
Ganz im Gegenteil, der Nicht-Beweis ist vielleicht sogar aussagekräftiger als der Beweis. Oder sagen wir, er ist gleichrangig. Als die US-Administration aufgrund Terrorwarnungen einige Botschaften geschlossen hielt, da war es schon nicht mehr substanziell, ob nun eine Botschaft attackiert wurde oder nicht. Anschlag oder Nicht-Anschlag sind gleichermaßen Beweise für diese Sicherheitsökonomie. Geschieht ein Anschlag, so fühlt sich die Überwachungsmentalität bestätigt. Bleibt er aus, so glaubt man darin ein Indiz für die Zweckmäßigkeit der Überwachung zu wittern.

Das geschieht nach dem Motto: Auch Terroristen schauen bekanntlich westliches Fernsehen, haben dort die Leerung der Botschaften gesehen und ihren Anschlag abgeblasen. Beide Szenarien unterstreichen die Funktionsfähigkeit der Abhörpraxis. Tatbestand (Anschlag) oder Nicht-Tatbestand (ausbleibender Anschlag) sind gleichermaßen Beweislast.

Der algorithmische Gottesbeweis

Die Sicherheitsökonomie dürfte neben einem gewissen Zweig der Theologie, die einzige "Wissenschaft" sein, in der das Nicht-Passieren als Beweis gilt. Dass ein Tatbestand eben nicht passiert, zeigt nur, dass es im regulären Fall passiert. Die ausbleibende Katastrophe, das Idyll letztlich, zeigt nicht den Frieden an, sondern ist im Grunde das Abbild seines Gegenteils. Es ist der antithetische Beweis für die These. Die Negation ist nicht mehr Gegenbeweis, sondern gleichfalls Beweislast. So argumentieren normalerweise Theologen, die die Rettung eines Menschen in letzter Minute ebenso als Gottes Plan gelten lassen, wie dessen Nicht-Rettung. Gewissermaßen ist diese intellektuelle Gleichsetzung von Fakten und Nicht-Fakten ein moderner Gottesbeweis  auf Grundlage algorithmischer Größen. Egal wie es ausgeht, der Terrorismus ist damit bewiesen.

Die amoralische Supermoral

Für die Ökonomen des Terrorschutzes kommt es deshalb auch gar nicht in Frage, eine fehlerhafte Warnung zu bestätigen und zurückzunehmen. Sie können ja keine Fehler machen. Denn Anschlag oder Nicht-Anschlag sind dasselbe. Zum gemachten Fehler gehört das Eingeständnis, dass ein Fakt falsch interpretiert wurde. Aber die Interpretation entfällt ja. Wahr oder Falsch sind Kategorien, die hier nicht mehr greifen können. Das allgemeine Warten auf einen Anschlag ist bedeutungslos. Denn der ist ja nicht nötig. Die Bilder einer ausgebrannten US-Botschaft und die Bilder einer unbeschädigten US-Botschaft machen keinerlei Unterschied. Beides sagt dasselbe aus, alle zwei Bilder belegen identisch die Notwendigkeit der Totalüberwachung.

Die Ökonomie des Terrorschutzes betritt tatsächlich ein völlig amoralisches Gebiet. Ein Areal einer Supermoral, die sich von der Kleinlichkeit unterscheidbarer Aussagetendenzen verabschiedet hat. Wahr oder Unwahr begehen einen Konsens und degradieren sich zu konturlosen Kategorien. Und so gibt es nicht Richtig und nicht Falsch, sie sind zu einer Synthese verwässert.

Auch der ausbleibende Beweis beweist

Beweis kann alles sein und nichts. Die unbeschädigte US-Botschaft beweist die Funktion des Terrorschutzes, so wie Versender von e-Mails, die den Inhalt verschlüsseln, auch ohne Kenntnis des Inhalts als Terroristen überführt werden können. Der e-Mail-Inhalt kann also Beweis sein - oder es ist die Geheimnistuerei um einen e-Mail-Inhalt, die Beweis genug ist. Ein eingeschaltetes Mobiltelefon kann verdächtige Bewegungen orten und einen Beweis erbringen - oder ein ausgeschaltetes Handy kann belegen, dass da jemand vermutlich was zu verheimlichen hat.

Diese Logik des Sicherheitswahns macht keine Abstufungen mehr, sondern vollzieht die Emanzipation des Nicht-Beweises, begeht die Gleichstellung zum Beweis. In einem solchen System ist keine Aussage mehr zwingend wahr oder unwahr, kann richtig nicht mehr von falsch unterschieden werden. Ein so geartetes Sicherheitsdenken hat jeden ethischen Anspruch aufgegeben. Es hat in seinem Wahn jegliche Unterscheidungsfähigkeit verloren.


Hier weiterlesen...

... rückwärts immer

Dienstag, 13. August 2013

In eine überwachte Welt hineingeboren und eine überwachte Welt verlassen.

"Wir stellen die Systemfrage! Für alle von den geheimen Diensten noch einmal zum Mitschreiben: Die, die aus der PDS kommen, aus der EX-SED, und auch die neue Partei DIE LINKE – wir stellen die Systemfrage." So provozierte Lothar Bisky noch 2007. Die geheimen Dienste haben mitgeschrieben. Ohne Aufforderung. Man muss sie nicht bitten. Das wissen wir heute.

Quelle: Bundesarchiv
Nachdem sich der Sozialismus nicht erhalten ließ, nachdem die demokratischen Reformbestrebungen, für die auch Bisky einstand, nicht mehr massentauglich waren, mochte in manchem Linken die Hoffnung aufgekeimt sein, dass diese Bundesrepublik möglicherweise doch eine historische Chance sein könnte. Wäre es nicht denkbar, dass sich mehr und qualitativ bessere soziale Gerechtigkeit auch und gerade auch viel besser im Wohlstand des ehemaligen Klassenfeindes einfordern ließe?

Vielleicht hat das auch Bisky gedacht, als man im nationalistischen Taumel jener Tage im Herbst 1989 die DDR in die Sondermülldeponie der Geschichte verfrachtete, nichts von ihr erhalten wollte, sie abhakte und in den schönen Konsumwelten des Westens flüchtete. Möglich, dass er wie viele Befürworter eines demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz glaubte, dass der Westen sogar eine bessere Grundlage für Partizipation und Frieden sein könne.

Der Schriftsteller José Saramago sagte mal in einem Interview: "Ich bin eine ungerechte Welt hineingeboren worden und ich werde eine ungerechte Welt verlassen." Das könnte jetzt auch in leicht abgewandelter Form auf Lothar Biskys Grabstein stehen. Er wurde in einem Staat groß, in dem überwacht wurde. Und als er heute von dieser Welt ging, da hatte diese enttäuschte Hoffnung namens Bundesrepublik den Status eines technologisch leistungsfähigen Überwachungsstaates eingenommen.

Mit Lothar Bisky starb nicht nur der ruhige Pol im Gründungsprozess von Die Linke. Mit ihm starb auch die Personalisierung des Reformsozialisten, der sich letztlich bestätigt sehen musste in all den Zweifeln, die schon im Herbst 1989 in der Luft lagen. Der "Klassenfeind" hat nicht gehalten, was er versprach. Er überwacht, liest mit, hört ab. Wie der Bruder im Osten, obgleich man sich StaSi-Vergleiche verbittet. Und er reaktiviert die Mangelwirtschaft für die, die am unteren Ende der Gesellschaft darben.

Mit dem Tod jedes weiteren Reformsozialisten erkennen wir besser: Es ist ein kurioser historischer Fortschritt, der in diesem Land gefeiert wird. Es ist die Tragödie, die der Farce folgt. Bisky hat diese Tragödie hinter sich gelassen.


Hier weiterlesen...

Aus fremder Feder

"Indoktrination ist keineswegs inkompatibel mit der Demokratie. Vielmehr [...] ihre Essenz. [...] Ohne Knüppel, ohne Kontrolle durch Gewalt [...] muß man das Denken kontrollieren. Dazu greift man zu dem, was in ehrlicheren Zeiten Propaganda genannt wurde."
- Noam Chomsky, "Die Konsensfabrik" -

Hier weiterlesen...

Den Sack voller Scheiße, den es nicht gibt

Montag, 12. August 2013

Irgendwo bemerkt Bukowski, dass die Welt im Grunde genommen nur ein Sack voller Scheiße sei, der jederzeit zu platzen drohe. Nun aber behauptet Markus Gabriel, dass es eine Welt überhaupt nicht gibt. Und damit den Sack voller Scheiße nicht? Das macht mir Sorgen.

Der Versuch einer Einordnung und sowas wie eine Rezension.

Quelle: Ullstein Verlag
Gabriel philosophiert sich in "Warum es die Welt nicht gibt" nicht nur durch die Historie, sondern entwirft selbst ein philosophisches Gebäude. Von dem ist er jedoch überzeugt, dass es das gibt. Nur die Welt gibt es nicht. Weltanschauung und Weltsicht gleichwohl demgemäß auch nicht. Dass man die Welt als etwas in sich Geschlossenes betrachten könnte, schließt Gabriel völlig aus. Es sind bestenfalls Weltausschnitte, die wir irrtümlich gerne als "die Welt" bezeichnen. Er räumt aber ein, dass die Welt ein Bereich aller Bereiche ist, ein Bereich sämtlicher Sinnfelder, in der es Tatsachen gibt, die aber nicht zwingend materieller Natur sein müssen.

Im Sinnfeld der Evolutionslehre etwa, tummeln sich nach Gabriels These einige Schlagwörter. Darwin und die Galapagos-Inseln, Genetik und Selektion, Neandertaler und allerlei Missverständnisse und Fehlinterpretationen. Innerhalb des Sinnfeldes "Evolution" haben wir es mit einem geschlossenen Kosmos zu tun. Schwappt aber das Sinnfeld "Evolution" in das Sinnfeld "Gesellschaft" über, macht also die Evolution ihre Begrenztheit zum Weltbild, dann wird es problematisch, weil da ein Weltausschnitt danach trachtet, mehrere Weltausschnitte zu beeinflussen und zu formen. Der Evolutionismus, der Sozialdarwinismus waren (und wären jederzeit wieder) Weltanschauungen, die vorgaben, "die Welt" zu sein. Zu erklären, wie aber dann Fürsorge, Solidarität, Uneigennützigkeit trotzdem "in die Welt" gekommen sein sollen, tun sie sich schwer. Im Zweifelsfall diffamiert man diese Verhaltensnormen als unnatürlich, als "außerweltlich", weil biologisch unnötig.

Das trifft auch auf die Ökonomie zu. Im Sinnfeld "Wirtschaft" ist manches sicherlich auch für das Sinnfeld "Gesellschaft" (mit all seinen kleineren Sinnfeldern wie Familie, Straßen, Unterhaltung, Senioren, Haustiere, Urlaubsplanung oder Sex Shops) interessant. Gabriel weist ausdrücklich darauf hin, dass Sinnfelder nicht starr sind, dass es Schnittflächen gibt. Wenn die Ökonomie aber beginnt, ihren Bereich als "die ganze Welt" zu deuten, dann kann es nicht verwundern, dass das gesamte Weltbild aus Kosten-Nutzen-Analysen und aus Menschen besteht, die wie Computer Risikorechnungen aufstellen, um Kauf- oder Berufsentscheidungen zu treffen. Die "Ökonomie als Welt" hat Schwierigkeiten mit Verhalten, das nicht haushälterisch geerdet ist. Wenn ein Kunde trotz gleicher Qualität, sich doch für das teurere Stück Butter entscheidet, schwankt "die Welt" in ihren Grundfesten.

Bei der Ökonomie ist der Wackelfaktor noch viel größer als in der Physik. Die Ökonomie ist nur bedingt wissenschaftlich verifizierbar. Meist ist sie ein Abwägen und Deuten, ein empirisches Belegen. Zwar entwerfen Ökonomen stichhaltige Thesen, warum die gesamtgesellschaftliche Konsumfreude ausgerechnet jetzt stattfinde - aber dieselben Indikatoren, die die These so nachvollziehbar machten, können später weiterhin gegeben sein, obgleich nun allgemeine Kaufzurückhaltung herrscht. Nichts Genaues weiß man nicht. In der Physik ist das anders. Und dennoch warnt Gabriel, dass das wissenschaftliche Weltbild, das heute von den meisten Menschen bevorzugt wird, nicht "die Welt" ist. Sie ist auch nur ein Ausschnitt und wir täten als Menschen gut daran, uns das stets vor Augen zu führen.

Und der Sack Scheiße, der laut Bukowski die Welt ist? Wahrscheinlich würde Gabriel erklären, dass Bukowski seinen Lebensausschnitt zur Welt gekürt hat. Das Sinnfeld "Gosse" beinhaltet den Sack Scheiße als Metapher. Das Sinnfeld "Wohlstand" eher nicht. Das ist schade, finde ich. Denn Bukowskis Welterklärung schien mir doch treffsicher. Philosophisch mag Markus richtig liegen. Aus der Alltagserfahrung heraus hat sich für mich aber Bukowski als der bodenständigere Philosoph erwiesen. Den Sack kann ich, auch wenn ich ihn nicht sehe, über mir schweben spüren. Und Markus Gabriel und die Philosophie sind letztlich ja auch nicht "die Welt", sondern nur Ausschnitte. Und wenn man sich die Welt als Sack Scheiße vorstellen kann, dann ist die Welt als Sack Scheiße auch irgendwo eine Erscheinung im Bereich aller Bereiche und Tatsachen.

Dass es die Welt nicht gibt, kann man nach der Lektüre nachvollziehen. Sein Denkansatz ist als ein Beitrag gegen den Ideologismus zu werten, ohne gleich die typischen historischen Beispiele aufzufahren. Er richtet sich gegen die Ideologien unserer Tage und erweitert den menschlichen Kosmos auch um Dinge, die es materiell nicht gibt. Wobei Erdachtes ja auch immer aus der Materie des Gehirns entfleucht. Im Bereich aller Bereiche gibt es eben auch rosa Giraffen hinterm Mond, Hamlet oder göttliche Kreaturen, schlicht weil sie sich der Mensch denken kann. Solche Gebilde kann man zwar geisteswissenschaftlich beackern, gelten aber dennoch im physikalischen Weltbild als nichtig. Das kommt davon, wenn man Physik und "die Welt" gleichsetzt. Aber "die Welt", wenn es sie gäbe, ist ja auch Religion und Liebesroman und Spinnerei, auch sie kommen im Bereich aller Bereiche vor.

Ich schrieb mal irgendwo, dass ich persönlich nicht an Gott glaube, seine Existenz für mich verleugne, dennoch aber davon überzeugt bin, dass es ihn gibt. Das ist nicht paradox, sondern nur die Erkenntnis, dass auch "Gott in der Welt ist", weil er sich dort gedacht wird. In meinem Inneren herrscht doch ständig ein Kampf zwischen klaren und weniger klaren Tatsachen. Ich spüre den Zahnschmerz sehr real und stelle mir auf dem Stuhl beim Zahnarzt eine hübsche Insel vor, um mich abzulenken. Das ist alles nur in meinem Kopf, heißt es bei Andreas Bourani. Aber mein Kopf ist im Bereich aller Bereiche zu finden, also ist auch der immaterielle Inhalt dort. Kurzum, Gabriels Denkansatz ist ein Plädoyer für Toleranz.

Dass Markus Gabriel kein vertrockneter Philosoph ist, tut der Sache gut. Er schreibt über das Sinnfeld der Philosophie hinaus und ermöglicht so auch Laien, seine Gedankengänge zu verstehen.

Warum es die Welt nicht gibt von Markus Gabriel ist im Ullstein Verlag erschienen.


Hier weiterlesen...

Prioritäten aus Fleisch und Blut

Samstag, 10. August 2013

oder Die Kantine als Knast?

Manchem Griechen fehlt das Geld für sein tägliches Brot. Für dieses dem Spardiktat geschuldete Phänomen erhält die Kanzlerin gemeinhin viel Lob. Den Deutschen ist eine wöchentlich "verordnete" Gemüsefrikadelle schon zu viel - oder besser gesagt: zu wenig. Mit der Veggie Day-Empörung zeigt dieses Land, was ihm wirklich wichtig ist.

Natürlich ist der Vorschlag der Grünen unsinnig. Der typische Versuch bürgerlicher Damen und Herren, ihren Typus anderen aufzunötigen. Aber ein Generallangriff auf die Freiheit, zu dem man diesen Vorschlag erhöht, ist das beileibe nicht.

Denn wie hat man sich denn deutsche Kantinen vorzustellen? Sitzen die Angestellten dort etwa eingepfercht
und angekettet an Tischen und müssen essen, was man ihnen vorsetzt? Der Großteil der vom etwaigen vegetarischen Tag betroffenen Angestellten hätte sicherlich die Möglichkeit, auf einen benachbarten Metzger auszuweichen. Esst ihr mal schön vegetarisch!, könnte ein freiheitlicher Fleischesser ja durchaus sagen. Tut er aber nicht. Lieber ist es ihm, dass sein Journalismus für ihn wettert und die Grünen als Freiheitsfeinde tituliert, als Despoten und Umerzieher. Und in der anonymen Masse shitstormt er sich in Rage. Dass er einfach aufsteht und sich sein Essen woanders besorgt oder gar mitbringt, dafür fehlt ihm dann doch die Phantasie. Seine Kantine verkommt ihm zum Knast.

Das ist nicht neu. Es gab schon öfter verordnete Fleischlosigkeit in der Geschichte. Das hat manchen Kantinenmönch dazu angestachelt, die Maultasche als Fleischversteck zu erfinden. Was ich sagen will: Es gab immer Auswege - und die gibt es auch heute.

Was zeigt die Aufregung um das vorenthaltene Fleisch in Kantinen? Nur zwei Dinge: Nämlich dass wir als Gesellschaft endgültig in der inhaltlichen Bedeutungslosigkeit verschwunden sind, Prioritäten setzen, die zu anderen Zeiten noch Bagatelle genannt wurden. Und zweitens, dass man in Fragen des Verzichts die Empörung hierzulande nur noch kennt, wenn sie am eigenen Leib erfahren wird.

Der europäischen Peripherie diktiert man gnadenlos die Lebensweise und letztlich auch die Essgewohnheiten vor. Aber ein Tag fleischlose Kantine "im Inland" empfindet man schon gleich als Knast. Wer jetzt noch auf das griechische Elend aufmerksam macht, der bekommt zu hören: "Und wir, müssen wir etwa nicht leiden, wenn uns die Kantine vorenthält, was uns zusteht?" Aber das ist natürlich nicht Selbstgerechtigkeit, sondern das ist der Shitstorm des in Not geratenen deutschen Sendungsbewußtseins.

Das eigene Schnitzel ist einem immer näher, als das harte Brot der anderen. Der Idealismus, der da protestiert, er starrt nur gerade auf den Teller, der vor einem steht. Welch gravierenden Sorgen hat dieses Europa in dieser sorgenvollen Welt: Aber nichts davon entfesselt die Empörung so stark, als dass das System ins Schlingern gerät.

Man muss diese Empfehlung der Grünen nicht gut finden, doch die Reaktionen darauf sind nicht minder lächerlich.


Hier weiterlesen...

Eskapistische Arztbesuche in der Post-Demokratie

Freitag, 9. August 2013

oder Please Mister Postman, look and see / if there's a letter in your bag for me.

Man kann auf vielerlei Arten eine arme Sau sein. Man kann es sein, weil man kein Geld hat. Und man kann es sein, weil man irrationale Ängste entwickelt und sich von diesen dominieren läßt. Hartz IV gelingt es, diese beiden Gebiete der Armut gleichzeitig zu erschließen.

War ich nun mehr arme Kreatur, weil es mir an Geld mangelte oder deswegen, weil ich jeden Tag auf den Postboten wartete, wie ein Süchtiger auf sein Quantum Stoff? Ihn abpasste, meine Erledigungen nach seinem möglichen Erscheinen ausrichtete, mich danach orientierte, wann er vorfuhr und schier verzweifelte, wenn ich just zur Zeit seines potenziellen Kommens, etwas anderes erledigen musste?

Klingt ganz schön durchgeknallt. In gewisser Weise war ich das seinerzeit ganz sicher auch. Man wird verschroben. Seltsam. Ein Sozio-Eremit in der Masse. "... wenn sie eines Tages einen Weg finden, wie man ohne Briefkasten auskommt, werden wir eine Menge Probleme los sein", schrieb Charles Bukowski mal in einer Kurzgeschichte. Das hätte von mir kommen können.

Die Angst, die hinter diesem seltsamen Spleen stand, war die pure Angst vor Briefen des Jobcenters. Davor, eine Einladung für den Folgetag zu erhalten, nicht wissend, was genau mir jetzt wieder blüht. Wieder wie ein Schuljunge vor einer erbosten Lehrerin sitzen zu müssen, mich rechtfertigend, entschuldigend, dabei immer den Gedanken im Hinterkopf, dass sie mir finanziell zusetzen kann, meinen Regelsatz zu verstümpeln vermag. Die Furcht vor diesen Minuten der Entwürdigung, in denen man mich, wenn schon nicht an die Wand stellte, so doch wenigstens an sie drückte, fixierte mein Leben auf denjenigen, der der Botschafter einer möglichen schlechten Nachricht sein würde. Wie ein osmanischer Despot entwickelte ich einen Mordsargwohn gegen den Postboten, obwohl ich vom Mann mit der Ledertasche weiß, dass das auch nur arme Säue sind.

Der war freilich selten ein solcher Botschafter im Auftrag des Jobcenters. Das schrieb mich ja eher selten an. Falls doch, dann hieß es aber Springen. Immer waren die Termine für den Folgetag angesetzt. Mentale Vorbereitung war da unmöglich. Es war, als wollte mich die Behörde inflagranti beim Faulenzen erwischen, als wollte sie die Ehefrau sein, die mich Ehemann im Bett mit seiner Geliebten überrascht.

Das gelang ihr nicht immer. Ich entzog mich. Manchmal war der Druck so groß, die Angst so stark, dass ich mir provisorisch eine AU-Bescheinigung ausstellen ließ, um die Gewissheit zu haben, in den nächsten zwei Wochen mal keine Briefe vom Jobcenter zu erhalten, die ich wahrscheinlich ohnehin nicht erhalten hätte.

Wenn man heute Erwerbslosen nachsagt, sie machten krank, dann ist das die Verkennung dieses allzeit präsenten Drucks, dieser Fixierung auf diesen einen kurzen Augenblick der Entwürdigung, der zu einer Haltung des AU-Eskapismus führt. Ich machte nicht blau, ich verflüchtigte mich in eine Zone der Zugriffslosigkeit, machte mich als eigentlich autarker Mensch aus dem Staub, um dieser unerträgliche Veranstaltung in einem Büro des Jobcenters wenigstens zeitweise zu entkommen. Man könnte das freilich auch krank nennen.

Man muss das System von Hartz IV als Einrichtung der Postdemokratie begreifen. Eine Scheindemokratie, die via Post ins Haus des Arbeitslosen kommt. Dass ich in einer Post-Demokratie lebe, wurde mir besonders in den Augenblicken deutlich, als ich vom Küchenfenster aus nach den Briefträger, nach meiner Post schielte.

Politologen definieren die Postdemokratie hingegen so, wie sie Colin Crouch formuliert hatte. Es sei "ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden [...], in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben." Ein Scheinkonzept halt.

Ich hätte seinerseits Post-Demokratie noch anders definiert. Als banges Warten am Briefkastenschlitz, als eine Scheindemokratie, in der die Post als Dienstbote des Systems Ängste in die Wohnungen liefert. Wie demokratisch ist es eigentlich, wenn der Briefkasten zum Objekt der Furcht wird?


Hier weiterlesen...

Die "Einstellung"

Donnerstag, 8. August 2013

Mein Vater war ein spanischer Gastarbeiter. Er hatte es mit Verachtung im Alltag zu tun und regelmäßig fragte ein Zeitgenosse überdosiert höflich, ob er denn mit Eintritt in die Rente wieder heimgehe. Er litt zuweilen sehr darunter. Nach über dreißig Jahren in Deutschland verwehrte man ihm immer noch, dass er Deutschland als seine Heimat ansehen durfte. Damals sei die Einstellung gegenüber Gastarbeitern eben so gewesen, entschuldigt man Kohls einstiges Vorhaben zur Türkenhalbierung.

Hier weiterlesen...

Eine softe Diktatur voll Kundenorientierung

Mittwoch, 7. August 2013

oder Der moderne Staat als Verbraucherschutzmacht und Nicht-Garant von Bürgerrechten.

Die Weltgesellschaft hat in den letzten Jahrzehnten verfolgt, wie der Konsens von Washington sich Instanzen wie den IWF und die Weltbank schuf, um in Schwellenländern so genannte "Strukturanpassungen" durchzuboxen. Haushaltskürzungen, Privatisierungen, Deregulierungen und der Abbau von Zollschranken waren hierzu die gebotenen Maßnahmen. Die haben es irgendwann bis in die westlichen Partnerländer der Vereinigten Staaten geschafft, sind nun auch die Parolen in Industriestaaten und an der europäischen Peripherie hungern sie Menschen aus.

Man kann nicht sagen, ob der Zugriff der Weltökonomie auf die Gesellschaften der Welt das Ziel dieses Vorhabens ist, weil sich niemand eindeutig dazu äußert. Man kann und man muss aber davon ausgehen. Und man muss auch davon ausgehen, dass XKeystore kein isoliertes Phänomen ist, das man unter das Label "Krise des demokratischen Rechtsstaates" verbuchen kann. Die Offenlegung von XKeystore ist vermutlich nur ein Mosaiksteinchen im Gesamtkonzept der ökonomisch indoktrinierten Ansprüche auf eine Weltregierung unter straffer Führung.

Oder sollen wir gleich schon von Diktatur sprechen? Wenn ja, dann handelt es sich jedenfalls um eine Diktatur, wie sie die Welt noch nicht kannte. Eine widersprüchliche Diktatur, die bestimmten Facetten des Menschen eine schöne und geschützte Freiheit verspricht, während sie andere Bereiche seines gesellschaftlichen Daseins immer mehr unter Kontrolle stellt oder gar völlig umfriedet.

Während der "Staatsbürger in uns" oder der "Arbeitnehmer in uns" unter Beobachtung und staatlicher Überwachungswut leidet, immer weniger Schutzgesetze für sich beanspruchen kann, teilweise sogar kriminalisiert wird, bleibt jener Teil im Menschen der neoliberalen Hemisphäre, der Kunde ist, in einer widersprüchlichen Behaglichkeit zurück, erlebt Liberalisierungen und "Demokratisierungen". Um den Kunden sorgt man sich, er soll billig konsumieren und Verbraucherschutz-Erlasse sind das tägliche Brot der (übernationalen) Politik. Manchmal hat man den Eindruck, die EU sei ein reiner Verbraucherschutzmechanismus. Der Bürger und Arbeitnehmer erlebt hingegen seinen Abgesang - er soll seine politische Meinung zurückhalten, nicht wutbürgern, soll seine Arbeitskraft zum Ramschartikel verkommen lassen und hat wenig Aussicht darauf, dass etwaige Gesetzesvorschläge zur Verbesserung seiner Situation Aussicht auf Erfolg haben könnten.

In dieser sonderbaren Diktatur des Washingtoner Konsens' gibt es ein Primat des Verbraucherschutzes und der Verbrauchserleichterungen vor dem Bürger- und Arbeitnehmerschutz. Es ist daher eine seltsam softe Diktatur, die der "Markt" da entwirft. Die klassische Diktatur beschränkte die Menschen in ihr vollumfänglich. Diese liberale Diktatur hat jedoch den Aspekt des "Kunden in uns" zum einzigen Segment der Gesamtpersönlichkeit befördert, das eher mit Laissez-faire zu behandeln ist. Zu dieser "Kundenorientierung" gehören die Schaffung von Freihandelszonen und SEPA-Erleichterungen für den Zahlungsverkehr, gehören immer wieder relativ großzügig gehaltene Verbraucherschutz-Regelungen und das Primat des Verbrauchers vor dem Händler. Das "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" dieses Systems nennt sich "Deregulierung, Privatisierung, Freihandel" und dient nicht als Parole der Menschheit ganz generell, sondern der Kundschaft alleine.

Gleichzeitig leidet der "Bürger in uns" und der "Arbeitnehmer oder Arbeitslose in uns" unter der Errichtung von Freihandelszonen. Er fragt sich, ob SEPA nicht auch Nachteile zeitigt, zum Beispiel Überwachung vereinfacht. Diese partielle Diktatur des Konsens von Washington ist auch so sonderbar, weil sie nicht alleine autoritär gegen uns ist, sondern weil wir selbst in unserem Innersten einen diktatorischen Impuls erliegen, wenn unsere "innere Kundenschaft" unser "inneres Bürgertum" schikaniert. Ist das der Clou dieses Systems des absoluten Handels zulasten bürgerlicher Freiheits- und Persönlichkeitsrechte? Der homo supermercatus als Dominator des zoon politikon und damit wir selbst als unser eigener Diktator?

Es ist sicher kein Zufall, dass die globalen Eliten ein gemeinsames Interesse an einer lückenlosen Überwachung haben, sich gemeinsam zu Angriffskriegen auf geostrategisch wichtige Regionen stürzen und deren Polizei- und Militärapparate insofern modifizieren, dass sie als Abwehrarmeen der reichen Promille dienen können. All das geschieht nicht parallel, sondern quasi ineinander verwebt. XKeystore ist nicht einfach nur ein isoliertes Überwachungskonzept innerhalb eines Systems der kundenorientierten Diktatur, ist nicht unabhängig von all den anderen ökonomischen Konzepten der westlichen Hemisphäre anzusehen. Es ist Bestandteil einer stillen Ver-Weltdiktatur-ung der "freiheitlich-demokratischen Ordnung".

Der Widerspruch zwischen Kunden- und Bürgersubjekt entwirft ein komisches Konzept von Diktatur, eine Knechtschaft mit kundenorientierter Freiheitsnische. Wir erlebten aktiv mit, wie sich die Politik der Ökonomie nicht nur unterworfen hat, sondern zu deren Quisling wurde. Und wie sich "der Staat" davon entfernte, der Bewahrer von Menschen- und Bürgerrechten zu sein, stattdessen zu einer Art Verbraucherschutzmacht wurde. Das dient freilich dem reibungslosen Ablauf der Produktions- und Vertriebsprozesse - Bürgerrechte stehen einem solchen Ablauf ohne Hindernisse oft entgegen; Arbeitnehmerrechte ohnehin. Als Kunde darf sich das Subjekt weiterhin "frei" fühlen - alle anderen Freiheitsgelüste sollten, um es mit der stets wiederholten Predigt des obersten Sittenwächters dieses Landes zu sagen, verantwortungsvoll überwunden werden.

Dass wir uns klar verstehen: Man darf diese Entwicklungen nicht als Geschehnisse ansehen, die durchgeplant umgesetzt werden. Es gibt keine Weltverschwörung der superreichen dieser Erde. Aber es entwickeln sich fast im Alleingang Szenarien, die alle in dieselbe Richtung weisen, die der Verökonomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche zugrundeliegen. Die Weltdiktatur des Kapitals mag nicht geplant sein, steht aber derzeit auf dem Plan der Geschichte.


Hier weiterlesen...

Kurz kommentiert

Dienstag, 6. August 2013

"Der Fall Berlusconi ist ein Symbol für die Unreife des politischen Systems in Italien."
- Tobias Piller, Frankfurter Allgemeine vom 2. August 2013 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Man kann als Kommentator selbstverständlich über die "Unreife des politischen Systems in Italien" spekulieren. Ob sich allerdings diese Unreife an der Behandlung des Falles Berlusconi abzeichnet, nur weil parallel dazu noch wirtschaftliche Probleme das Land in Atem halten, ist aber schon fraglich. Man könnte als Journalist aber natürlich auch über die juristische Reife Italiens sprechen. Eine Reife, die man hierzulande vermisst.

Ist es ein Zeichen von Reife, einen geschmierten Kanzler nicht per Beugehaft zur Offenlegung seiner Geldgeber zwingen zu wollen? Worin liegt die Reife einer Justiz, die immer wieder die Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft vor schweren Strafen schützt und manchmal sogar ganz straffrei belässt? Ist es nun Reife oder Klüngelei, wenn ein Staatsanwalt über den Umweg der Medien mit einem Steuerbetrüger über eine Bewährungsstrafe kommuniziert?

Italien hat sich politisch gesehen sicher als unreif erwiesen in den letzten Jahren. Welches Land nicht? Und ist es Unreife oder nicht doch Manipulation? Berlusconi ist ja nicht irgendein Schurke, sondern der Besitzer von TV-Anstalten, die zu seinen Gunsten die Massen verblöden. Aber juristisch betrachtet hat sich die italienische Republik stets als unabhängiger und mutiger erwiesen als die deutsche. Immer wieder legten sich Staatsanwälte mit Politik und deren Mafia an, kamen dafür zu Tode oder erreichten Verurteilungen. Die Mani pulite-Untersuchungen wurden gegen den Widerstand der politischen Kaste in die Wege geleitet. Sicherlich hat sich Andreotti fast immer aus der Affäre ziehen können. Andererseits hat die Justiz aber nie aufgesteckt und den Mann immer wieder vor Gericht geschleppt. Dasselbe gilt nun bei Berlusconi.

Nicht immer griff diese juristische Unabhängigkeit, oft gab es Misserfolge und wie überall wahrscheinlich nachlässige Staatsanwälte. Aber wäre ein breites Verfahren gegen die politische Korruption und Amtsmissbrauch in diesem Deutschland denkbar? Ein Ex-Kanzler unter Hausarrest? Könnte man sich das in Deutschland vorstellen? Ein Finanzminister und vormaliger Kofferempfänger, der dauerhaft vor seinen Richter erscheinen muss? Auch nur ansatzweise denkbar? Piller täte gut daran, sich weniger mit der Unreife des politischen Italiens zu beschäftigen, um dafür die ultramontane Reife des Justizapparates zu thematisieren. In dieser Beziehung kann Italien Deutschland als Vorbild dienen.


Hier weiterlesen...

Im Durchschnitt

Montag, 5. August 2013

Letzte Woche konnte ich in der Zeitung lesen, dass mein Geldvermögen geklettert sei. Als ich dann noch so ein Radio-Feature gehört habe, in dem es hieß, die Deutschen würde immer reicher, da glaubte ich es sogar. Nicht übel, dachte ich mir, endlich mal Dry Aged Beef statt Discount-Hackfleisch, das mit Mehlpampe und Rote-Beete-Saft "angereichert" wird.

Der Gang zur Bank war ernüchternd. Der Blick auf das Konto trist. Es hatte sich nichts geändert. Auf meinem Konto lag kein Dry Aged Beef, sondern die übliche Summe, die zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist. Da lebe ich seit 35 Jahren in Deutschland, in dem Land, das immer reicher wird und ich gehöre mal wieder nicht dazu. Leute, Integration sieht anders aus.


So wenig integriert fühlte ich mich zuletzt, als Terra X "die Deutschen" erklärte. Der durchschnittliche Deutsche heiße Thomas Müller. Da war ich schon raus aus der Geschichte. Er habe außerdem ein Nettoeinkommen von mehr als 3.000 Euro im Monat und ein Haus. Den Deutschen gehe es so gut wie nie, sagte die Stimme aus dem Off stolz. Und ich? Ich war wieder mal nicht dabei. Ich heiße ja auch nicht Thomas Müller. Ob da ein Namenswechsel nützt? Aber auch der kostet ja Geld. Jeder Strohhalm, zu den immer reicher werdenden Deutschen aufzusteigen, wird einem wie mir verwährt.

Gehört es nicht auch zur Eigenart "der Deutschen", sich im Durchschnitt einzurichten, sich zwar persönlich unwohl oder arm zu fühlen, aber durchschnittlich trotzdem zufrieden zu sein? Dass die Deutschen immer reicher werden, plärre man mal in die Wartehaale eines Jobcenters. Und auch die Menschen in Deutschland, die sich mit Leiharbeit verdingen, werden kaum reicher geworden sein. Aber vielleicht fühlt sich der Leiharbeiter ja trotzdem gut, weil er auch sein Quäntchen zum Durchschnittswert beigetragen hat.

So ein Leben im Durchschnitt macht zufrieden. Man hat dann 3.000 Euro Monatseinkommen, obgleich man für einige lausige Mücken schuften muss. Hat ein Haus, obwohl man eine Wohnung in einem Brennpunkt bezog. Und man gehört plötzlich zu einer aufsteigenden, immer reicher werdenden Art, auch wenn man faktisch immer weniger Kaufkraft darstellt.

Im Durchschnitt sind wir zufrieden, sind wir reich, sind wir ständig im Aufwind. Aber was ist das für eine Gesellschaftsauffassung, in der der Durchschnitt seine Alles-läuft-rund-Tyrannei entfaltet? Ob Terra X "die Deutschen" erklärt oder Zeitungen schreiben, dass die Deutschen immer reicher würden: Da wird die Gesellschaft stets von oben herab gelesen und gedeutet, errechnet und verschleiert. Leute wie ich, unsaturiert und unsicher, sind da kein Gradmesser. Wir gehen im Durchschnitt unter.

Durchschnittlich ist also alles in Ordnung. Durchschnittlich gibt es keinen Grund zu jammern, denn durchschnittlich geht es aufwärts. Nur jede unterdurchschnittliche Regierung, in einem Land voller unterdurchschnittlich kritischer Intelligenz, feiert den Durchschnitt als grandiosen Erfolg. Mich ärgern solche Durchschnittsangaben nicht nur durchschnittlich, im Durchschnitt halte ich sie für einen Betrug an meiner Lebensrealität. Nicht mal im Durchschnitt bin ich erfasst.


Hier weiterlesen...

Die Diktatur meteorologischer Strahlemänner

Freitag, 2. August 2013

oder Wenn die Sonne aus dem Arschloch scheint.

Tolle Aussichten fürs Wochenende. Der Sommer bleibt. Sonne satt. Herrliches Wetter. Genießen Sie die Sonnenstrahlen. Und auch nächste Woche soll es schön bleiben. Der Sommer nimmt kein Ende. Laue Nächte pur. Diese stereotypen Sprüche aus der Wettervorhersage, von Metereologen und Moderatoren, kotzen mich nicht nur an, sie sind das Abbild einer Massenmeinung, die mir im realen Leben kaum begegnet.

Ich kenne fast niemanden, der bei diesen Temperaturen glücklich wäre. Die Leute, die ich kenne, scheinen mit den Leuten, für die das Wetter angesagt wird, nicht klimatisch verwandt zu sein. Ich habe in meinem Bekanntenkreis mal herumgefragt und Auswertung betrieben. Von allen 47 Befragten mögen alle 16 Senioren die Hitze nicht, alle die körperlich arbeiten und alle die früh aufstehen müssen (18) schließen sich an. Fünf Herzkranke und drei Personen mit Sonnenallergie pflichten dem bei. Nur drei Befragte schätzen die pralle Sonne und halten sie für "echt geil". Diese drei Sonnenfreunde haben das zwölfte Lebensjahr noch nicht überschritten. Für die, die nachrechnen: Die zwei Befragten, die noch ausstehen, hielten meine Frage in Anbetracht ihres Sonnenbrandes für einen schlechten Witz. Repräsentativ ist diese Umfrage natürlich nicht, denn ich habe vornehmlich solche Leute gefragt, die mit großer Wahrscheinlichkeit kein Faible für Hitze haben.

Völlig einig waren sie sich nicht nur darüber, dass sie diese Temperaturen nicht mögen. Auch diese meteorologischen Gestalten, die als Strahlemänner den "Sommer von seiner schönsten Seite" postulieren, obwohl sie am Vorabend noch beobachteten, wie ihre Nachbarin wegen Kreislaufzusammenbruch vom Notarzt abgeholt wurde, gingen den Befragten mächtig auf die Nerven.

Diesen berufsbedingt immer fröhlichen Arschlöchern scheint die Sonne aus dem Arsch. Man verzeihe mir diesen Tonfall, aber diese Fröhlichkeit-und-Sonnenschein-Industrie, die das Wetter fetischiert, die es als eine Art von Hurra-ist-das-Leben-nicht-wundervoll!-Anbeterei verkauft, widert mich täglich mehr an. Man kann sich gar nicht mehr in Ruhe von den Medien desinformieren lassen, ohne auf eines dieser quietschglücklichen Arschlöcher zu treffen. Ständig erinnern sie einen dran, dass der Sommer da ist, bleibt oder gleich wieder kommt. Und das verbinden sie mit Bildern von einer Lebensqualität, die kaum ein Mensch besitzt.

Diese Wetterberichterstattung und ihre boulevardeske Ausschlachtung, dieses Bedienen einer auf dieser Welt grundlegenden Nichtigkeit - schließlich ist auf dieser Erde immer Wetter! -, scheint ein Sport, gemacht von Leuten in gut klimatisierten Räumen für Leute in gut klimatisierten Räumen zu sein. Eine Form von alltagsesoterischer Ist-das-Leben-nicht-geil!-Ideologie, die sich jemand, der sich die Hitze durch seine Finanzkraft nicht vom Halse halten kann, gar nicht leisten kann.

Was tun in heißen Nächten? Empfehlung eines TV-Senders letztens: Ziehen Sie ins Hotel! Denn Hotels sind klimatisiert. Für welche Gesellschaftsschicht entwirft man solche Ratschläge?

Oder so wie neulich dieser Wagner von der Bildzeitung. Er schrieb, wir hätten "einen tollen Sommer", man könnte "bis zwei Uhr morgens beim Italiener sitzen". Mir kam fast das Kotzen. Kommt mir bei Wagner immer. Aber bei diesem speziellen Wagner ganz besonders. Klar, der Typ kann es sich leisten, bis zwei Uhr morgens zu zechen. Dann legt er sich bis mittags hin, steht auf, braucht sich nicht anziehen, bringt zehn bis fünfzehn Sätze aufs Papier, gibt sie telefonisch durch und kassiert sicherlich ein vierstelliges Honorar. Auf Typen wie ihn ist die Wetterberichterstattung zugeschnitten. Auf Typen wie ihn, die bis zwei Uhr nachts Servicepersonal durch die tropische Nacht hetzen können und das dann "Ankurbelung der Wirtschaft" nennen. Aber das ist eine ganz andere Scheiße, um die geht es heute mal nicht.

Dass ich schwitze wie ein Mastbulle ist eine Sache. Die fröhlichen Stimmen, die mir meinen Gestank auch noch als eine ganz besonders tolle Geschichte verkaufen wollen, das ist etwas ganz anderes. So einfach wie beim Wetter erkennt man selten, wie eklatant daneben die Medien an den realen Lebensumständen der Menschen vorbeimoderieren. Wenn der Typ im Radio sagt, dass diese lauen Nächte einfach nur schön seien, dann soll er mal in mein schwüles Schlafzimmer gehen und versuchen dort zu pennen. Die Hitze macht mich aggressiv. Solche Typen noch aggressiver. Ich kann es nicht leiden, wenn die Sonne aus all diesen Arschlöchern herausscheint. Sie sollten ihre Arschbacken zusammenkneifen und die Sonne darin lassen.


Hier weiterlesen...

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP