Gegen das Vergessen

Freitag, 19. Oktober 2012

Ich muss dauernd an Kamenew denken. Manchmal auch an Trotzki. In letzter Zeit sogar ziemlich häufig. Erst neulich wieder sah ich das spitzbärtige Gesicht des Kamenew vor meinem geistigen Auge, obwohl ich es hätte nicht sehen dürfen, denn man hatte ihn ja von Fotos getilgt, sein Konterfei aus der Geschichte entfernt. Trotzki sehe ich seltener vor mir und wenn, dann stelle ich mir Joe Pesci in Good Fellas vor, denn beide Herren ähneln sich, wie ich finde. Winston Smith stelle ich mir gar nicht vor, den gibt es nur als Begriff - ich habe die Verfilmung von Orwells Roman nie gesehen; gleichwohl ich weiß, dass John Hurt ihn gespielt hat, schaffe ich es nicht, das dröge Gesicht dieses Darstellers mit Smith auszustatten. Er existiert als Begriff, so wie ich mir zuweilen Worte wie Hiobsbotschaft oder Glücksgefühl zunächst nur abstrakt denken kann, bis sie mit Inhalten gefüllt werden. Der begriffliche Smith wird derzeit fleißig mit Inhalten gefüllt - in meinem Kopf, inspiriert durch die Wirklichkeit.

Kamenew gab es eine Weile nicht mehr, er war aus der Geschichte hinausgeklittert worden; Trotzki ging es ähnlich, er ward nie geboren - und falls doch, als unbekannter Kulak verendet. Schuld daran war Smith, ein kleiner Beamter des Ministeriums für Wahrheit, dessen Aufgabe es war, die historische Wahrheit der Nachwelt so zu präsentieren, dass sie annehmbar wird. Was heißt: für die jeweils herrschende Ordnung annehmbar wird. Diese stalinistische Säuberung nach der exekutierten Säuberung benötigt heute keine Schauprozesse mehr. Und auch Miniwahr-Beamte sind rar gesät - des Personalabbaus wegen, der dem Mantra des schlanken Staates geschuldet ist. Aus Fotos schnipselt man ohnehin nicht mehr. Das kostet Zeit und Geld und gute Scheren sind teuer.

Schlechte Journalisten sind vermutlich günstiger als gute Scheren. Ich dachte an Kamenew, als ich wieder mal so einen Journalisten sah, der erzählte, der Kanzlerkandidat der Sozialdemokratie habe damals als Finanzminister die Krise geschultert. Er legte den schnodderigen, auf für ihn kleine Diäten gesetzten Rhetor einfach in diese Schablone hinein, schnitt die überlappenden Fetzen einfach ab. Auf einem dieser Fetzen stand zu lesen, dass dieser Krisenschulterer so gar nicht gegen die Regulierung der Finanzbranche war, weil er schlicht keinen Bedarf dafür sah. Eine Krise schien ihm auch dann noch ausgeschlossen, als sie schon heraufzog. Was die Schere nicht abschnitt war, dass der Mann ein Finanzexperte sei und Finanzpolitik sein Kernthema. Dass der Kandidat jedoch den Generallinien folgte, die die neoliberale Generalität vorgab, wurde auch einfach gekappt. Deregulierung, Privatisierung und Freihandel waren für diesen Finanzexperten jene Maximen, die zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten sollten. Kategorisch: sein reformerisches Verlangen danach; imperativ: das Timbre seiner Fistelstimme.

Der Journalist, der die Schere in den Köpfen der Menschen anlegte, sie kräftig zudrückte, hieß gar nicht Smith, glaube ich. Aber er sah für mich wie einer aus; nur besser angezogen. War er es auch, der den einstmals so geschätzten syrischen Geheimdienst Assads umschnitt, um daraus einen Ausbund an Monstrositäten zu basteln? Ist er auch der Schnitttechniker hinter der neuen Anti-Atom-Standhaftigkeit, die das vergessen macht, was noch kürzlich war, nämlich die Laufzeitverlängerung?

Den Kamenew brachten sie um; Trotzki auch. Wenn ich meine, dass ich derzeit oft an beide denke, meine ich nicht, dass der Kanzlerkandidat der Sozialdemokratie wie einer der beiden wäre. Heute bringt man auch keinen mehr um - nicht hierzulande und nicht, wenn es nur um politische Sichtweisen geht. Kamenew und Trotzki waren standfest, kuschten nicht und hatten damit den Hinauswurf aus der Geschichte unterschrieben. Heutige Kanzlerkandidaten sind anpassungsfähiger, vorauseilend geschichtsvergessen, leiten ihre eigene damnatio memoriae inhaltlicher Prägung ein - aber nur inhaltlich, die Hülle bleibt zurück, sieht aus wie vorher. Es gibt auch keinen Stalin, der irgendwo drohend seinen Schnäuzer aus einem kremlartigen Gebäude hängen läßt, muss man fairerweise dazu sagen. Stalinistisch sind sie selbst in dieser Beziehung, sie umgehen den Schauprozess, überstellen sich persönlich dem Vergessen und tun so, als hätten sie immer gesagt, was sie gerade behaupten, bis dann behauptet werden soll, was derzeit nicht behauptet werden soll oder darf oder muss.

Erinnert sich noch jemand daran, wie die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlängert wurden, ehe man dazu überging, die Verlängerung immer mehr ins Vergessen zu verlängern und noch weiter hineinzuverlängern? Weiß man noch, wie ein Kanzler einem Lamettadespoten aus dem Maghreb freundschaftlich die Hand schüttelte, den man aber später als größten Hitler nach Hitler zeichnete? Und wusste schon damals jemand, als der Kanzler dem Despoten freundschaftlich die Hand tätschelte, dass noch einige Jahre zuvor klar war, dass dieser Lamettafreund der schlimmste Hitler seit Hitler sei?

Im Orkus der Pragmatik treibt auch immer das Entfallen mit; im Suppentopf der radikalen Sachbezogenheit schwimmen immer auch Nudeln mit, die aus Vergesslichkeit hergestellt wurden. Nur einmal nicht, als da eine Sozialdemokratin lapidar meinte, mit jener traditionellen Sozialdemokratie, die kurioserweise Die Linke heißt, würde sie nicht koalieren wollen, worauf sie es hernach doch getan hätte, weil die Wahl ein solches Vorgehen vernünftig erscheinen ließ - nur bei dieser einen Geschichte waren keine Nudeln im Suppentopf. Da konnte man nicht vergessen, da hat man das Vergessen einfach vergessen.

Smith ist der Urvater der Neoliberalen, auch wenn der schon aufgrund seiner Zeit gar nicht der war, nicht der sein konnte, der heute gemeint ist, wenn sie ehrfürchtig Adam Smith hauchen. Smith, der Urvater - Smith, der nicht pflichtvergessene Vergessenheitsverpflichtete bei Miniwahr. Auf Smith bauen sie. Und der andere Smith, der Mann in schwarz, der mit Tommy Lee Jones Außerirdische jagte, der konnte mit einem Stäbchen und einem daraus austretenden Blitz dem Vergessen überstellen. An diesen blitzdingsenden Smith denke ich auch häufig, wenn ich an den anderen Smith denke, an den, den Orwell erfand. Smitheinander die Welt vergessen machen.

Und morgen lesen wir, dass Clement ins Schattenkabinett aufrückt, weil er immer schon glaubte, dass nur ein straff regulierter Arbeitsmarkt dazu führe, Gerechtigkeit walten zu lassen. Und den Hubertus Heil loben sie dann als sozialen Mann; keiner erinnert sich mehr, wie er die Agenda beschönigt hat; er, der dem Seeheimer Scheiß so nahe stand, wird Sozialminister in spe. Ob Trotzki ein Amt bekommt? Und Kamenew? Gegen das Vergessen!, liest man so oft auf Steintafeln; politisch korrektes Sicherinnern an andere Tage. Wir bräuchten mehr solcher Tafeln. Andererseits: diese windigen Typen, die heute mehr sein wollen, als sie gestern noch waren, kann man wirklich getrost vergessen ...

7 Kommentare:

Anonym 19. Oktober 2012 um 08:31  

Wahlplakat in NRW 2012: "SPD ist Currywurst."

Also alles drin, was so beim Fegen der Wurstküche anfällt.

maguscarolus 19. Oktober 2012 um 08:51  

Bravo, bravo, bravo!

Eine schöne Zustandsbeschreibung unserer an historischer Demenz erkrankten Gesellschaft.

Man hört regelrecht das Schramm'sche "Brackwasser der Beliebigkeit" plätschern.

baum 19. Oktober 2012 um 09:40  

Was DU beschreibst kenne ich. Dem documenta-Archiv in Kassel ist es gelungen, so zu tun, als hätte es mich nie gegeben.

Ein Beispiel: sieht man sich die Einträge zur documenta7, 8 und 9 bei wiki an, dann erfährt man: Bazon Brock hat bei der 7 eine Besucherschule durchgeführt; Michael Grauer bei der 8 den Führungsdienst geleitet; bei der 9 gibt es keinen Namen ... ich war damals Leiter des Führungsdienstes, aber ich bin verschwunden, so, als hätte ich nie existiert.

Anonym 19. Oktober 2012 um 16:33  

Danke. Ich habe schon fast vergessen daß wir täglich was vergessen.

Aldo 19. Oktober 2012 um 18:02  

Dazu ein Zitat aus Horkheimers / Adornos "Dialektik der Aufklärung":"
Alle Verdinglichung ist ein Vergessen."

Anonym 19. Oktober 2012 um 18:16  

Ja, wir denken zu wenig oft an uns wichtige Personen. Ich werde dank Dir noch ein wenig darüber nachdenken.
Auf DLF gibt es das Kalenderblatt...

der Herr Karl

Anonym 21. Oktober 2012 um 17:37  

wenn die menschheit nicht vergessen würde dann hätten wir schon lange eine welt in der die macht gerechter verteilt wäre.

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