Beim Rabattieren gesunder Lebenseinstellungen

Mittwoch, 31. Oktober 2012

Selbstverständlich hegen die beiden Krankenkassen, die wahlweise CDU- oder FDP-Mitgliedern Rabatte gewähren, keine parteipolitischen Interessen. Gut, wenigstens die DKV, die der FDP Nachlass für ihre Mitglieder verspricht, hat zwar 2009 eine Parteispende überwiesen, Kleckerbetrag über 10.250 Euro - aber das heißt noch lange nichts. Parteipolitische Interessen hat die AXA jedenfalls nicht, wenn sie Unionsmitgliedern Prozente schenkt. Für die DKV dürfte es nicht anders sein. Parteipolitik ist denen doch scheißegal.

Es geht um Prognosen und Wahrscheinlichkeiten, darf man nicht ganz ernst vermuten. Man wird in den Auswertungs- und Zergliederungsabteilungen, in denen man die Datensätze der Kunden verwaltet und durchleuchtet, vielleicht zu der Erkenntnis gekommen sein, dass Menschen mit konservativen Hintergrund einfach gesünder und damit für die Krankenkassen kosteneffizienter sind. Der Rabatt für die beiden Parteien der amtierenden Regierungskoalition ist demnach keine parteigebundene Ermäßigung, sondern eine weltanschauliche, die dem gesund lebenden und denkenden Kunden schon vorab etwas zurückgibt, um seinen gesundheitsfördernden Lebensstil zu belohnen. Leistung muss sich schließlich wieder lohnen - Gesundheit auch - und der Konservatismus erst!

Konservativ zu sein bedeutet, bewusst etwas für seine Gesundheit zu tun. Zuschüsse für Mitgliedschaften in Fitnesscentern verteilen Krankenkassen ja auch. Warum dann nicht so eine profunde Lebenseinstellung belohnen? Der Konservative hält sich immerhin an Ideale, die ihn geistig rührig halten, an Tugenden, die sich auch körperlich positiv auswirken. Wer eine Weltanschauung hegt, die ihn stützt, die ihm Halt gibt, in der er eine wichtige, vielleicht gar historische Rolle spielt, der erkrankt vermutlich nicht so häufig. Sparpolitik und Bekenntnis zur natürlichen Ungleichkeit der Menschen sind vielleicht, aus sozialer und menschlicher Sicht jener Krankenkassen, nicht weniger als Dummheiten, aber solche Säulen sind zweckdienlich, denn sie verleihen Kraft und stärken das Immunsystem; und die softe Korruption innerhalb des konservativen Milieus ist natürlich nicht ganz koscher, aber sie macht das Leben leichter, nimmt Alltags- und finanzielle Sorgen und wirkt sich lindernd auf das allgemeine Wohlbefinden aus. (Allgemein meint hier nicht Allgemeinheit - um Missverständissen gleich mal vorzubeugen.) Und dann natürlich konservative Attribute wie Anstand, Freundlichkeit oder Pünktlichkeit - und besonders wichtig: geordnete familiäre Verhältnisse. Das alles tut gut; oh ja Konservatismus ist Wellness für die Seele, stärkt Physis und Psyche zugleich.

Im Gegensatz diese linke Brut, diese Kommunisten aus Die Linke, diese angelinksten Lavierer zwischen Mitterechts und Ganzleichtlinksliberalismus aus der Sozialdemokratie und von den Grünen. Die haben doch keine Werte, keine Leitbilder, die leben doch angeachtundsechzigert in den Tag hinein, ohne Orientierung, kennen keinen metaphysischen, keinen transzendenten Halt. Sowas macht doch krank, wenn es nicht gar schon gänzlich krank ist, so leben zu wollen. Und dann diese anhaltende Unzufriedenheit mit der Welt, die speziell Die Linke postuliert. Diese Verbitterung wirkt sich doch auf das Herz-Kreislauf-System aus, wer dauernd negative Gedanken in sich trägt, der verdirbt es sich doch auch seelisch. Optimismus durch ein Weltbild, an das man eisern festhält: das erhält Gesundheit, stachelt Genesung an! Die Linken und die grünen Berufsbetroffenen und schizophrene Sozialdemokraten, die nicht wissen, ob sie Genossen der Bosse oder der Gosse sein wollen, sind immer so kummervoll und schwermütig, neigen zu Melancholie und Depression. Haben sich solche kostenintensiven Leute etwa einen Rabatt verdient?

Nein, es sind bestimmt keine parteipolitischen Interessen, die die beiden Krankenkassen da haben. Es geht um betriebswirtschaftliche Aspekte. Diese Bagage, die keine Werte mehr kennt seit mindestens '68, sie kann froh sein, wenn sie keinen Aufschlag auf die Beiträge leisten muss. Man muss die Gesunden doch vor den Kranken schützen, muss sie entlasten und die anderen belasten - dass die betroffenen Krankenkassen diese ideologische Brut nicht mehrbelastet, das ist doch schon ein höfliches Zugeständnis. Wobei man sagen muss, dass sich die verursachten Gesundheitskosten von Sozialdemokraten und Grünen eh neutralisieren. Die sind ja auch mehrheitlich konservativ mittlerweile. Aber Die Linke, die sollte man gesundheitspolitisch betrachtet schon verteuern. Ihre Mitgliedern weigern sich beharrlich, positive zu thinken. Wer sich die Welt schlecht und korrupt deutet, wer nicht die heilenden Kräfte autosuggestiver Natur nutzt, wer sich der sanierenden Energie von Positiv-Hormonen verweigert, der gehört von der Solidargemeinschaft bestraft, der soll seine verursachten Mehrkosten gefälligst selbst erstatten.



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De auditu

Dienstag, 30. Oktober 2012

Oft geschieht es, dass jemand aufgrund beruflicher Perspektiven seine Heimat verlassen musste. Dabei geht es nicht immer um Karriere, sondern oftmals nur um Auskommen, darum, überhaupt einen halbwegs normal bezahlten Arbeitsplatz zu ergattern. Das Leben fern vom Ort des Aufwachsens, der Familie und Freunde, abseits von örtlicher Gebundenheit und Tradition, verkappt sich dann hinter einem euphemistischen Begriff, hinter einer optionalen Verklärung. Man nennt diesen Ort, an dem man von Berufs wegen strandete, die Wahlheimat. Das klingt positiv - und manchmal mag dieser Ort erfreulich gewählt worden sein; in Zeiten des Berufsnomadentums aber, in denen man den Ort des Heimischseins verlässt, um Arbeit zu finden oder zu haben, ist der Begriff jedoch auch für viele Menschen erdrückend optimistisch.

Eine Wahl zu haben wird gemeinhin mit Freiheit deklariert. Zwar wird die ökonomisch angeordnete Alternativlosigkeit als politische Freiheit verteidigt - aber das eher aus Gründen der staatlichen Wirtschaftsräson. Optionen zu haben kann Freiheit bedeuten, sofern die jeweiligen Optionen nicht mehrfach dasselbe in anderer Bemalung ist. Welche Wahl hat jemand, der den Ort seines Heims - das kann Heimat sein oder ein Ort, an dem man sich menschlich wohlfühlt - verlassen muss, um arbeiten, das heißt: sich geldlich versorgen und sozial aufrechterhalten, zu können? Kann man es eine Wahl nennen, zwischen Arbeitslosigkeit oder Prekärbeschäftigung, garniert mit dem Drangsal aus Behördenstuben, und einem möglichen Arbeitsplatz weit weg wählen zu können?

In der Wahlheimat schlägt sich begrifflich die Freiheitsdefinition einer Gesellschaft nieder, die Freiheit immer dort enden lässt, wo das ökonomische beginnt - und Ökonomie beginnt immer stärker an jedem Zipfelchen, in jeder Nische dieses Gesellschaftsentwurfes. Wahlheimat ist für Menschen, die wegen dem Beruf verziehen, ein Hohn. Nicht generell für jeden, aber für viele schon. Denn welche Wahl hatten sie? Das heißt nicht, dass sie unglücklich werden müssen, wo sie nun sind - aber Wahlfreiheit mag nicht der Grund gewesen sein, es sei denn, man rekrutiert die Entscheidung, sich in die Fänge eines Jobcenters zu begeben, zu einer realistischen Option. Die Wahl als Vorsilbe ist die neoliberale Art, sich eingeschränkter Möglichkeiten begrifflich zu entziehen. Eine solche Wahlheimat wäre manchmal besser als Zwangsheimat bezeichnet - der Hang zu optimistischer Darstellung der gesellschaftlichen Situation läßt eine solche Komposition allerdings nicht zu.

Wahl zu haben ist das Stichwort schlechthin für sichtbar gemachte Freiheit. Wie sie sich inhaltlich zeigt, ob sie Vielfalt streut, wirklich verschiedene Wege ermöglicht, Alternativen erlaubt, ist im hiesigen System hingegen zweitrangig. So wie die politische Wahl stets dieselben neoliberalen Prämissen mit ähnlichen neoliberalen Programmen an die Tröge spült, so ist die Wahl- als Präfix die über die Gleichschaltung geschraubte Verblendung; einer Gleichschaltung, die Optionen nicht gestattet. Die Wahl- ist die Kampfparole eines Gesellschaftsentwurfes, der sich anschickt, global installiert werden zu wollen. Wahl- ist ein Propagandamittel des Neoliberalismus - während dessen Jünger die Wahlmöglichkeiten demontieren, spielt er mit der Wahl- Wort- und Assoziationsspiele, um seine Attraktivität zu erhöhen. Begriffe wie Wahlheimat sind die Geburt einer Zeit, in der es Wahl immer weniger gibt. Gäbe es sie, so müsste sie nicht stetig hartnäckig betont werden.



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Wer zahlt, muss noch lange nicht anschaffen

Montag, 29. Oktober 2012

Wesentliche Entscheidungsprozesse, ausschlaggebende Richtungsweisungen sind kaum noch von öffentlichen Interesse, werden so gut wie nicht mehr publiziert. Die Vierte Gewalt gestaltet sich mehr und mehr als ein Ausgabenkontrollzentrum, das über die Kosten des Sozial- und Gesundheitwesens, über die Finanzen notleidender Volkswirtschaften oder die Gehälter des öffentlichen Dienstes wacht und die Menschen der Mittelschicht darüber in Kenntnis setzt, was mit den Geldern, die man ihnen abknöpft, geschieht. Die Ausgabenkontrolle vermittelt den falschen Eindruck, die vermeintlichen Leistungsträger und Steuerzahler hätten einen Anspruch darauf, diejenigen genau unter die Lupe zu nehmen, die von ihren Geldern leben. Das Leben von Menschen, die Gelder aus öffentlichen Kassen beziehen oder in Krisenstaaten leben, erklärt man zum Allgemeingut. Alles folgt der Devise: Wer zahlt, schafft an! Das ist jedoch ein eklatanter Irrtum.

Ein Dieb kann keine Brücke sein

Wie die Haushaltführung der schwäbischen Hausfrau, die heute zur finanzpolitischen Agenda taugt, weil die krassierende Ahnungslosigkeit sie dazu machte, so ist das Prinzip des Wer zahlt, schafft an! ebenfalls zu einer profunden gesellschaftlichen Einsicht geworden. Der Mittelschicht, die immer dann angesprochen wird, wenn neue Zahlen zu Hartz IV oder Krankenkassen vorliegt, gesteht man medial nicht nur den Anspruch zu, erfahren zu dürfen, was mit ihren Steuerzahlungen geschieht, man vermittelt den falschen Eindruck, es gäbe etwas wie Mitsprachekompetenz und ein natürliches Recht darüber, die steuerlich angegebenen Gelder mitverwalten zu dürfen. Was bei Brücken- und Straßenbau, bei infrastrukturellen Maßnahmen akzeptiert werden kann, ist aber spätestens dann inakzeptabel, wenn der Mittelstandsbürger glaubt, auch bei Transferleistungen hätte er die Berechtigung, mitvotieren zu dürfen, ob er die Kosten tragen möchte oder nicht.

Die moralische Agenda, die ökonomische Problematiken und gewollte politische Entscheidungen umfunktioniert, sie zum moralischen Versagen von Arbeitslosen macht, erlaubt diesen Hang dazu, unbedingt mitreden zu wollen. Der Tagedieb hat schließlich kein Recht darauf, Gelder zur Gewährleistung des Lebensunterhaltes zu erhalten - erhält er sie doch, sieht es die Mittelschicht als Gnadenakt, der einem quasi die Möglichkeit gibt, die öffentlichen Ausgaben mittels Presse zu verwalten. Wie bei einer Brücke, die niemand braucht, die aber von öffentlichen Geldern gebaut wird. Da kann man ja auch Einstellung der Kosten fordern. Nur ist ein solcher vermeintlicher Tagedieb keine Brücke.

Dahinter witterte man die Majoritätsgläubigkeit postdemokratischen Zuschnitts. Nicht jede Mehrheit ist demokratisch. Nicht jede Transparenz bedeutet, ein theoretisches Mitspracherecht zu erhalten. Wenn es um Menschenrechte geht, um von der Verfassung garantierte Ansprüche, wenn es sich um die ethische Konzeption einer Gesellschaft handelt, dann gilt Wer zahlt, schafft an! gar nichts. Die Steuer ist ja auch kein Gnadenakt, die verpflichtende Abgabe keine kulante Leistung, sie ist der Preis dafür, seinen mittelständischen oder wohlständischen Lebensstil erhalten zu dürfen; sie sichert Einfamilienhäuser und Luxusschlitten.

Bund der Steuerzahler-Mentalität

Fairerweise muss man sagen, dass es nicht alle Vertreter der Mittelschicht persönlich sind, die sich ein moralisches Recht auf Mitsprache ausmalen. Es sind jene Medien, die in ihrem Namen sprechen und schreiben. Die berichten, um das mittelständische Glück zu mehren, ihr Pech zu unterstreichen, ihre ungerechte Behandlung zur Empörung zu wandeln. Es sind Medien, die lauthals aufschreien vor Glück, wenn es wieder heißt, es habe im letzten halben Jahr mehr Sanktionen für Hartz IV-Empfänger gegeben und jene Medien, die noch lauter plärren, wenn es mal wieder heißt, die Kosten für Hartz IV explodierten. Es sind jene vor Gesundheit strotzenden Medien, die böse werden, wenn die Kosten für das Gesundheitswesen aufgedeckt werden. Zum Ausdruck kommt hier das mittelständische Lebensgefühl der postdemokratischen Gesellschaft, das zwischen Konsumismus und Genußsucht mit seiner eigenen Ausbeutung hadert und meint, alle lebten auf Kosten dieser anständigen und fleißigen Schicht.

Diese Gesinnung macht populistische Phrasen wie Die Griechen nehmen unser Geld! oder Die Arbeitslosen leben von meinem Geld! Sie ist keine Gesinnung, die das Allgemeinwohl im Blick hat, wenn sie über das Sozialwesen spricht, sondern die Ungerechtigkeit meint, dieses Sozialwesen finanzieren zu müssen. Die Medien fungieren als Kontrollinstanz, legen Rechenschaft über die Ausgaben ab, halten kaum Distanz, weil sie sich selbst aus der Mittelschicht für die Mittelschicht rekrutieren.

Mit Parolen und einschlägigen Überschriften organisieren die Medienorgane die Entrüstung dergestalt, dass dem Leser oder Zuseher plötzlich in den Sinn kommt, er hätte hier Mitspracherecht, er könnte das Leben anderer Menschen, da er es pekuniär ausstattet, auch materiell mitgestalten. Die Bund der Steuerzahler-Mentalität, wonach jede erhobene Steuer zugleich zu viel ist, ist mediale Normalität. Um Mitsprache und Mitgestaltung buhlende Artikel zu zentralen Fragen, die nicht in erster Linie mit Steueraufkommen zu tun haben, sucht man schon wesentlich zeitaufwändiger. Transparenz- und Anti-Korruptionsgesetze haben keine nachhaltigen populistischen Lobbyisten; bei der EU-Verfassung oder -Vertrag war Mitsprache unerwünscht; Bologna-Prozess und bildungsrelevante Themen polarisieren so gut wie nicht - das sind ja auch alles keine Fragen direkter Steueraufkommen, dafür bezahlt die Gesellschaft versteckt und meist erst viel später. Nur bei dem, was unmittelbar Geld benötigt, vorzugsweise wenn Menschen im Spiel sind, die Hilfe benötigen, suggerieren die Medien Mitbestimmung.

Diktatur der Bessergestellten und Glücklichen

Wer zahlt, schafft an! klingt erstmal ganz vernünftig. Wie die schwäbische Haushaltung zunächst auch vernünftig klingt. Geld ausgeben, das man hat - so macht es jeder mehr oder weniger. Macht er es weniger, bezahlt er später mit Aufschlägen und mittels unangenehmer Zwangsmaßnahmen. Das auf den Staat projiziert scheint die Erleuchtung, pars pro toto muss doch stimmen, denn was für einen Menschen gut und richtig ist, muss für alle Menschen, ordinär Gesellschaft genannt, auch richtig sein. Das Gegenteil stimmte: Spare in der Not! ist eine individuelle Tugend, aber eine kollektive Sünde, ein betriebswirtschaftlich begründbares Motiv, aber eine volkswirtschaftliche Sackgasse.

Ähnlich verhält es sich mit dem Wer zahlt, schafft an! Im Privaten zählt das. Wer Geld in ein Geschäft trägt, einerlei, um dort Pizza zu essen oder ein Fahrrad zu kaufen, der gibt an, wie sich das Objekt der Begierde zu gestalten hat. Wer zahlt, der bestimmt den Pizzabelag und die Farbe des Fahrrades. Im öffentlichen Raum gibt es einen Anspruch darauf, dass der Steuerzahler erfahren soll, was mit den Geldern, die er abgibt, wirklich geschieht. Dass man davon ableitet, beispielsweise den Weiterbau einer Einrichtung, die man für unvernünftig hält, zu unterbinden, so wie in Stuttgart geschehen, ist auch noch nachvollziehbar und gar nicht zu beanstanden. Dieses Mantra aber radikal auszulegen und auf Sektoren zu lenken, bei denen es um Menschen geht, hat mit Transparenz nichts mehr zu tun. Dass man erfahren darf, wohin die Gelder fließen, das ist hier noch ordnungsgemäß - dass man sich aus einem mittelschichtigen Lebensgefühl heraus allerdings anmaßt, die Kosten minimieren zu wollen, Leistungsberechtigte für zu teuer zu erachten, Sparzwänge zu empfehlen, das ist nicht zu dulden, dafür gibt es auch keinen Anspruch. Hier gilt der Würdebegriff und die Menschenrechte - und die können nur teuer verteidigt werden.

Wer zahlt, schafft an!, so wie es heute im öffentlichen Raum verstanden wird, ist nicht demokratisch, es ist eine faschistoide Ausformung von Demokratie, eine Diktatur der Mittelschicht, eine Diktatur derer, die bessergestellt sind und das Glück haben, einen (vielleicht ordentlichen) Arbeitsplatz haben zu dürfen, eine Diktatur die gnadenlos gegen jene ihr Regime durchzusetzen trachtet, die ihr nicht zugehörig sind.



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Auf neoliberalen Bildungswegen

Freitag, 26. Oktober 2012

oder: wie Hessen Schule macht. Ein persönlicher Einblick.

Ich gehöre zu jenem privilegierten Teil der Elternschaft, die sich derzeit wenig Sorgen um den schulischen Werdegang, die schulischen Leistungen des eigenen Nachwuchs machen müsste. Doch tue ich dies. Nicht, weil ich einen Leistungsabschwung fürchtete - der kann natürlich kommen, die Pubertät lauert schon. Auch nicht, weil ich zu jener Elternschaft gehöre, die bei dem Gedanken an schlechtere Zensuren erschaudert im Hinblick auf die Zukunftsaussichten und Arbeitsmarktperspektiven - denn a) sind gute Zensuren keine Garantie für ein zukünftiges Eiapopaia, b) sind hingegen schlechte nicht gleich absolute Perspektivlosigkeit und c) ist der Druck, den das Ausmalen eines solch schaurigen Szenarios bewirkt, nicht förderlich für die kindliche Motivation und die elterlichen Nerven. Dennoch sorge ich mich, denn mein Kind besucht eine hessische Realschule, die stark an neoliberalen Leitwerten arbeitet.

Das Funktionieren

Der Rektor sprach beim Elternabend davon, dass die Kinder funktionieren müssten. Er tat das im Kielwasser von rhetorischen Ausbünden wie jenem, dass man als Elternteil und Schüler sozusagen Kundschaft sei und er als Rektor Anbieter einer Leistung. Aber funktionieren müssten die Kinder in jedem Falle. Nach den Regeln seiner Schule. Funktionieren sie nicht, tanzen sie aus der Reihe und das letztlich vielleicht sogar dauerhaft, so würde hart durchgegriffen, um den reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Er erzählte etwas von einem Schüler, der keine Schule in Hessen mehr besuchen dürfe, weil der einem Mitschüler via sozialem Netzwerk Gewalt angedroht habe. Um das Funktionieren von Unterricht, Lehrkraft und Schüler zu gewährleisten, sind solche Maßnahmen nicht abzulehnen. Ich weiß nicht, was da genau passierte, mit diesem Schüler, dem man die Schulpflicht gekappt hatte, aber was hatte das beim Elternabend als Vorwort zu suchen? Drohung, Einschüchterung schon zu Beginn? Natürlich alles in flapsiger Form vorgetragen, alles in scheißfreundlicher Weise, zwar nicht pädagogisch, aber doch nicht schroff und boshaft, sondern um Verständnis heischend. Man kennt es ja, das lächelnde Konterfei des Neoliberalismus.

Tage später, Telefonat mit dem Klassenlehrer. Die Klasse sei kompliziert, viele Unruhequellen, viel Geschwätze, einige Kasper. Er brauche Kinder die funktionieren. Nur so könne er arbeiten. Wirklich sein Orginalton: Kinder die funktionieren ...

Die Funktion des Kindes, die mit allen Mitteln hergestellt werden soll und falls das nicht gelingt, die Dysfunktion des Kindes auszumerzen, indem man das Kind suspendiert, aussperrt, es auf eine andere Schule überführt, ist die eine Säule neoliberalen Gedankenguts an Schulen. Die Funktionierung des Kindes zu einem reibungslosen Rädchen im Unterricht, läuft im Rahmen eines Maßnahmenkataloges, der sich der Effektivierung des schulischen Alltages verschrieben hat. Wie Unterrichtsstoff effektiv eingetrichtert werden soll, so soll sich auch der Schüler wirksam verhalten. Diese Forderung ist unpädagogisch, weil sie das Wesen des Kindes nicht erkennt, nicht wahrnimmt, sie fordert am kindlichen Wesen vorbei. Natürlich sind Gewaltbereitschaften zu unterbinden, aber nicht jede "Dysfunktion" ist ein vorkrimineller Akt. Schwätzen, Hineinreden, Quatschmachen und Klassenclownerie gehören ins kindliche Repertoire, sie können nicht aus dem Schulalltag herausreguliert, sie müssen hingegen ins Lernen eingebunden und als teils unabänderbare Tatsache und teils als kindlicher Entwicklungsprozess verstanden werden. Das funktionierende Kind ist ein theoretisches Faible des Neoliberalismus, wie er alles gerne funktionierend und reibungslos machen würde, was vermenschelt und fürderhin störend ist.

Kurzer persönlicher Einwurf

Mein Kind funktioniert. Mehr oder weniger. Ich habe mittlerweile auch schon vernommen, dass es geschwätzig ist, dass es sich ablenken läßt, die Leistungen sind aber durchweg gut und sehr gut - die Lehrerkollegen mahnten diese Diskrepanz zwischen guter Leistung und lapidarem Lerneifer stets an, meinte der Klassenleiter in einem Gespräch. Lehrer mahnten zu allen Zeiten "schwieriges Verhalten" ihrer Schüler an. Aber mit dieser Leichenbittermiene, mit dieser So-können-wir-nicht-arbeiten-Manier, mit diesem Hang zum Dramatisieren solcher schulischer Nickligkeit, kannte man das bislang nicht. Man erzog Schüler einst sehr hart, aber die moralische Verurteilung der mangelnden Funktionsfähigkeit, die dürfte heute härter vollzogen werden als dazumal.

Wundert es da, dass ich mich sorge? Was, wenn mein Kind noch weniger funktioniert, wie es derzeit funktioniert? Was habe ich sodann zu erwarten? Mir graut jeden Tag, was kommen könnte. Etwa wieder ein Anruf, tief besorgte Stimme dran?

Ich muss mir ja nur mal anschauen, wie mit dem Kind verfahren wurde, dass nachhaltig zu laut, zu derb, zu unfunktionell war. Plötzlich ward es für Tage nicht mehr gesehen. Abgesäbelt, aussortiert. Ein schwieriger Fall, ich gebe das zu. Schwierige Familienverhältnisse - aber für Mitleid, für Einfühlen ist keine Zeit an der effektiven Schule. Nur nicht verweichlicht sein - Linie durchziehen! Schnelles Kapitulieren als Lösung des Problems. Das Kind hat man schon aufgegeben. Das Schuljahr ist kaum zwei Monate alt und es ist schon aufgegeben. Das nenne ich mal effektiv! Und sehr pädagogisch! Wer nicht funktioniert, fliegt ganz schnell.

Als Vater bin ich cool genug, nicht zu verzagen. Aber was tun andere Eltern, um ihre Kinder funktionierend zu halten? Der Präzedenzfall in der Klasse zeigt doch, wie man ticken muss, wenn man weiterticken will. Und wenn die Pubertät dem allen ein Schnippchen schlägt, die Hormone durchdrehen, das Kind nicht mehr so richtig funktioniert. Was dann? Streit mit Lehrern? Anlegen mit der Schule? Im Wahn, möglichst effektiv Schule zu machen, kennt man nur kurzen Prozess. Der kurze Prozess ist etwas, was sich gut getrimmte Schulen aufs Revers stecken.

Die Säulen

Der Neoliberalismus baut im wesentlichen auf drei Säulen: Deregulierung, Privatisierung und Freihandel. Neoliberal geschliffene Bildungseinrichtungen gründen auf privatisierte Verhältnisse, auf Effektivierungsmaßnahmen und auf Selektionskriterien.

Schulsysteme, die sich an dieser Denkschule orientieren, sind stets bei knapper Kasse, suchen immer und überall Finanziers, die mal Spenden, mal aber Partnerschaft mit einem Privatunternehmen sein können und die somit auch in den Lehrstoff hineinwirken; bleiben die Mittel aus, so fehlt es an Material, an Personal, leiden Kinder und Eltern darunter und wird das Recht auf Bildung zu einer bloßen Pflicht, die Kinder in Schulräumlichkeiten zu bringen. Die Schulpflicht wird ausgehöhlt, sie wird zur Schulräumlichkeitsanwesenheitspflicht unter Obliegenheit einer Aufsicht, die kein Lehrer sein muss - jedenfalls hier in Hessen. Um an Gelder zu gelangen gibt das hessische Schulgesetz die Möglichkeit vor, Ganztagsangebote zu schaffen, die subventioniert werden. Zwanghaft stellen Schulen darauf um, auch wenn die Infrastruktur nicht gegeben, wenn die kindliche Versorgung nur schlecht gewährleistet ist. Zur Erlangung von Zuschüssen segnen Schulelternbeiräte diese Vorhaben ab; die Voraussetzungen spielen zumeist keine Rolle mehr.

Nochmal persönlicher Einwurf, ich fasse mich kurz: Bei einer solchen Sitzungen war ich zugegen. Ich stimmte nicht dafür - auf verlorenem Posten und unter angewiderten Blicken anderer Klassenelternbeiräte, die meine Sichtweise nicht mal hören wollten. Der Rektor vermittelte sein Vorhaben unter der Rubrik "Sachzwang" - dass da Elternbeiräte relativ unkritisch und unhinterfragt zustimmen, wundert nicht. Der Zwang kennt keine Fragen, keine Hintergrundinformationen, er kennt nur den aktionistischen Impetus.

Die Effektivierung betrifft mehrere Bereiche. Wesentlich ist die Wirksammachung des Kindes, wie oben erklärt. Der neoliberale Entwurf will effektive Strukturen, um kostengünstig und zeitsparend zu sein. Lehrpläne werden bereinigt, so genanntes unnützes Wissen aussortiert. Schulsport ist ein seltenes wöchentliches Gut, Fächer wie Geschichte und Geographie werden beschränkt, um den wichtigen Zensurfächern noch mehr Platz zu gewährleisten. Kinder sollen rechnen, lesen und schreiben können - eine allgemeine Bildung auf anderen Feldern scheint hingegen lästig und auch wenig notwendig, um später auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können. Was nützt einem Hauptschüler adäquates Wissen in Geschichte, wenn er bestenfalls KFZ-Mechaniker wird? Warum soll sich eine Realschülerin mit der Topograhie und der historischen Einordnung des Odenwaldes aufhalten, wenn sie später Bürokram verwalten soll?

Der Selektionswahn geschieht einerseits im Rahmen der Effektivmachung der Kinder, wenn man Störenfriede nicht mehr integriert, sich ihnen pädagogisch annähert, sondern auf schnelle und probate Mittel wie Aussperrung und Desintegration baut, und andererseits geschieht sie auf sozialer Ebene. Hauptschüler werden in Klassen mit Realschülern gesetzt, weil die Mittel fehlen, Hauptschulklassen und dazugehöriges Personal loszueisen. Noch gärt dieser Unterschied in der Klasse meines Kindes nicht, aber ich sehe die Konfrontation zwischen den Realschülern und den Hauptschülern heraufziehen - die Schulen gehen sehenden Auges in diese infantil-klassistische Katastrophe, die den weiteren Werdegang eines Kindes, das geschmäht wurde, das man sozial und intellektuell ausgrenzte, verlachte und verspottete, schwer beeinflussen wird. Ich warte nur darauf, dass man mir berichtet, die Realschüler hätten aufgemuckt, weil sie schwerere Klassenarbeiten schreiben müssen, als es die Hauptschüler tun -  ich warte auf die ersten Elternreaktionen, die dann lauten: Der Klassenschnitt ist mies, weil die Hauptschüler alle intellektuell nach unten ziehen. Hier wird ein unglaubliches Potenzial zur Spaltung der Gesellschaft geschaffen; die Schule fungiert hier als klassistische Selektionsrampe, an den nicht nur aussortiert, sondern auch die Keim der Ablehnung und der Schmähung gesät wird.

Unwohlsein im Kindeswohl

Diese Gesellschaft pflichtet denen bei, die meinen, die Beschneidung eines männlichen Säuglings würfe Traumatisierungen auf - selbst gestochenen Ohrlöcher schreibt man diese Wirkung zu. Das totale Kindeswohl wandelt auf extremen Spuren, degradiert Eltern zu Behütungsapparaturen infantiler Tabuzonen. Da wird überkandidelt behütet und übertrieben beschirmt. Jedes noch so theoretische und vorstellbare Leid soll vom Kind abgehalten werden. Ohrlöcher und medizinisch fachgerecht entfernte Vorhäute könnten ja aus dem erwachsenen Menschen ein psychisches Wrack machen, also jubelt die Gesellschaft im Taumel des Kindeswohles, wenn man das verbieten möchte. Das totale Kindeswohl hat uns auf der einen Seite im Griff, interessiert uns auf der anderen Seite nur marginal.

Das Kindeswohl ist ein Rechtsgut im deutschen Familienrecht - im effektiv gehaltenen Schulwesen ist es unbekannt. Hier schickt man Kinder auf Schulen, in denen sie verwaltet werden wie Lernaggregate, die man programmieren und systematisch organisieren sollte, um sie ergebnisreich heranzubilden. Dort werden sie selektiert und ausgemustert, auf Funktionsfähigkeit getrimmt und tyrannisch zu absoluter Anpassung komplimentiert, also dem Zuckerbrot und der Peitsche des Neoliberalismus ausgeliefert, in dem man mit Komplimenten tyrannisiert, mit netten und seriösen Worten unfreundliche und unseriöse Umstände vermittelt.

Sein Kind einer Lehranstalt auszuliefern, die nicht an Bildungsideale anknüpft, wie wir sie schon bei Humboldt finden, es in eine effektiv gestaltete Lernagentur zu schicken, das kann fürwahr Angst machen. Jedes Kind ist dann eine tickende Bombe, denn es könnte aus der Reihe tanzen, dann würde die Schule keifen, das Jugendamt alarmiert (auch davon ist hin und wieder schon geredet worden), eine Schulpsychologin eingeschaltet, nur weil das Kind nicht ganz genau so funktioniert, wie man es gerne hätte.



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Seismologische Sprachflüchtigkeit

Donnerstag, 25. Oktober 2012

Vor einigen Stunden habe ich mich noch selbst zitiert, habe ich eine Passage aus einem meiner Essays feilgeboten, in dem es um die Laxheit der Ausdrucksweise geht. Dieser flüchtige und nachlässige Umgang mit Sprache und Sätzen findet sich täglich. Erst kürzlich wieder, als ich aufhorchte, weil der Sprecher im Radio mitteilte, dass Jahrhunderte nach Galilei in Italien erneut ein etwas sonderbarer Fall die Justiz beschäftigte - und erneut gehe es dabei um Wissenschaft.

Inquisitorisch quasi hätte die italienische Justiz nämlich nun sechs Seismologen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, weil sie das Erdbeben in L'Aquila, das 2009 rund 300 Menschen das Leben kostete, nicht vorausgesagt und die Bevölkerung nicht gewarnt hätten. Fürwahr kurios, dachte ich mir. Wenn ich auch nicht umgehend gleich an Galilei gedacht hätte, wie der Moderator, so hört sich das doch sehr mittelalterlich, sehr despotisch an.

Der Sprecher erteilte dann einem Korrespondenten das Wort, quetschte ihn gehörig aus. Der erklärte, dass niemand, kein Richter, kein Staatsanwalt, je behauptet hätte, dass die sechs Wissenschaftler eine detaillierte Prognose hätten in die Welt setzen müssen; von Voraussage war nie die Rede. Es ging der Justiz um etwas anderes. Die Seismologen seien nämlich schon nach einigen Vorbeben erschienen und hätten dort getagt und ausgewertet, hatten aber als Anweisung erhalten, die verängstige Bevölkerung so oder so zu beruhigen. Die Runde der Wissenschaftler habe auf Anordnung (von wem auch immer) letztlich bloß dafür getagt, um Zweckoptimismus und somit allgemeine Ordnung walten zu lassen; wissenschaftliche Ergebnisoffenheit stand niemals auf ihrer Tagesordnung.

Tatsächlich konnte dem Gericht stichhaltig nachgewiesen werden, dass von Anfang an nur Beschwichtigung als Parole ausgegeben wurde, egal was die wissenschaftlichen Auswertungen offenbaren. Dass diese Leute ihre Fachlichkeit dazu hergaben, um naive Fröhlichkeit und faktenferne Zuversicht auszuschenken, soll sie nun ins Gefängnis führen. So weit jedenfalls der Korrespondent - ob es so stimmt, sei mal dahingestellt.

Ich lasse mir ja noch gefallen, dass man über das Strafmaß diskutieren kann. Und über die etwaige Verlogenheit, dass auf Anordnung gehandelt wurde und die Anordner offenbar nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Ich weiß nicht, was nun stimmt. Glaube mich aber erinnern zu können, irgendwo über die Bissigkeit der italienischen Justiz gelesen zu haben. War es bei Dickie? Die Untersuchungen im Namen der so genannten mani pulite (sauberen Hände, was bedeuten soll: weiße Weste) bewiesen die Unabhängigkeit und den Eifer italienischer Gerichte; der zu Tode gebombte Richter Falcone steht hierfür symbolisch. Ich erinnere mich zudem bei einem deutschen Journalisten gelesen zu haben, dass diese italienische Justiz mit der deutschen unvergleichbar sei. Berlusconi soll vor Gericht kommen; Andreotti stand vor Jahren vor einem. Und auch, wenn die Urteile dann nicht hart und nicht völlig gerecht sein mögen - kann man sich in Deutschland einen Prozess gegen Kohl und Schäuble auch nur vorstellen?

Was ich damit sagen will: ich habe kein Insiderwissen zu diesem Fall mit den Seismologen. Dass sich die italienische Justiz aber aus dem Mittelalter rekrutiert, billige Affekte bedient, ist schwer vorstellbar nach dem, was ich in so vielen Büchern und Artikeln gelesen habe. Das ist freilich kein Beweis, nur ein begründeter Zweifel - und letztlich geht es mir darum auch überhaupt nicht, denn es ging um Sprache und Sätze, die nachlässig benutzt werden.

Der Radiosprecher ließ sich jedenfalls nicht vom Korrespondenten beeindrucken. Nachdem der eine andere Sichtweise auf den Fall ermöglichte, leitete der Sprecher das Feature mit einem kurzen Überblick aus und wiederholte erneut, dass sechs Seismologen ins Gefängnis sollen, weil sie das Erdbeben nicht angekündigt hätten. Erkenntnisgewinn gleich Null. Interessant ist zudem, dass der Korrespondent dem Sprecher und seiner Interpretation nicht widersprach, obgleich beide Sichtweisen sich doch nicht glichen, nicht mal ähnlich waren. Denn einmal geht es um eine besondere Form der Korruption und einmal darum, die Richter für von der kochenden Volksseele korrumpiert zu halten. Beides schien sich nicht auszuschließen, nicht mal zu ergänzen. Es stand im Raum, unvereinbar und doch nicht ersichtlich.

Das ist genau so ein Fall von Laxheit - man muss gar nicht von gezielter und beabsichtigter Nachlässigkeit sprechen. Es ist ein nicht adäquater, wirklichkeitsabbildender Umgang mit Worten und Sätzen, ein Meinen und Hindeuten, statt ein Erklären und Beschreiben. Vermutlich gibt es Radiohörer, für die beide Varianten, die reale Urteilsbegründung wie die eigenwillige Interpretation des Radiosprechers, exakt dasselbe zum Ausdruck bringen. Lax verwendete Sprache entstellt die Wirklichkeit. Sie macht, dass aus einem nachvollziehbaren Fall von wissenschaftlicher Korruption und fachlicher Falschaussage und Zweckentfremdung, ein scheinbar mittelalterlicher Strafprozess entsteht. So verwendete Sprache ist kein Instrument der Realitätserfassung mehr, sondern eine Interpretationssyntax, kein Kommunikationsmittel mehr, sondern eine klangvolle Narration.

Der lässige Sprachgebrauch rührt sich eine Welt und die Ereignisse auf ihr an, die es nur als Märchen gibt. Die Bequemlichkeit, die Worte nicht eng an die Wirklichkeit zu binden, wird zum Selbstläufer. Wird zur Wahrheit, die sich so nie wahrhaft ereignet hat. Von Ohr zu Ohr geht so die Nachricht, dass man in Italien nun übermenschliche Anstrengungen von Wissenschaftlern fordert. Der vermutliche Vorwurf, der sich erhärtete, wonach diese Herrschaften korrupt und käuflich waren, jedenfalls aber empfänglich dafür, ihr Fach zugunsten von ihnen abverlangten Besänftigungen zu verkaufen, verschwindet und ist die Lüge, die einst wahr war. Die laxe Formulierung macht hier aus der Wissenschaft Justizopfer - sie verdeckt dabei, dass es die Wissenschaft war, die Opfer von seismologischen Opportunisten wurde; sie vertuscht, dass Seismologie in diesem Falle nicht nur die Lehre von den Erderschütterungen ist, sondern auch fachliche Bedenken und Vorbehalte erschütterte.



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Sit venia verbo

Mittwoch, 24. Oktober 2012

"Es ist verschlagwortete Sprache, mit der die intellektuelle Hölle bereitet, mit der jeder Anspruch auf präzisen, gewissenhaften und sachlich angemessenen Ausdruck verunmöglicht wird. Je genauer man sich ausdrückt, so unkte schon Adorno in seiner Minima Moralia, desto schwerer verständlich das Resultat; formuliert man jedoch lax, wird man mit Verständnis belohnt. Es ist ein Umherwerfen mit Wortfetzen, die keiner erst erfassen oder verstehen muss, weil es einem ohnedies schon schwante, was gemeint war. Die verstümmelte Aussage, sie ist die höchste Disziplin der Rhetorik. Eine Disziplin des Sprechens, ohne dabei etwas zu sagen, gleichwohl man seinen Zuhörern und Lesern Glauben macht, genau das gesagt zu haben, was ihnen schon immer unter den Nägeln brannte; eine Disziplin des sich Gemeinmachens mit denen, die einem an den Lippen kleben, des sich Anpassens an diejenigen, für die man schreibt oder spricht, was schon Karl Kraus zu dem Aphorismus veranlasste, dass es die Kunst des Agitators sei, sich so dumm zu machen, wie seine Zuhörer sind, damit sie glauben, sie seien so gescheit wie er."
- Roberto J. De Lapuente, "Auf die faule Haut: Skizzen & Essays" -

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... und Schweigen ist Gold

Kann man, oder muss man am Ende gar, als demokratischer gesinnter Mensch mit jedem sprechen, eine Diskussion führen? Ich behaupte: Nein! Man muss und man soll auch nicht. Im Sinne wehrhafter Demokratie! Das demokratische Lebensgefühl hat Würde - das Gespräch mit jemanden, den man diese demokratische Würde nicht verleihen kann, ist nicht nur arrogante Verachtung, sondern eben auch die Attestierung dafür, den Gesprächspartner für würdelos genug zu empfinden, um mit ihm überhaupt auch nur zu sprechen.

Tariq Ali zitiert im Vorwort seines Buches "Die Achse der Hoffnung" den britischen Philosophen Oakshott. Der soll gesagt haben, dass Politik "ein Gespräch und nicht eine streitbare Auseinandersetzung" sei. Die Aussage ist grundlegend falsch - und sie ist, vielleicht weil sie so falsch und verlogen ist, in nuce und in komprimiertem Aggregatzustand, die neokonservative Auslegung des Demokratieverständnisses. Laut dieses Verständnisses ist es nämlich so, dass in einer Demokratie alle Meinungen denselben Wert erhalten sollten; deshalb sitzen in den Klamauksendungen, die aus unbegreiflichen Gründen politischer Talk heißen, auch Vertreter, die mit der Demokratie auf Kriegsfuß stehen. Deshalb unterhalten sich dort schiedlich friedlich offensichtlich demokratisch gewillte Menschen mit solchen, die die Demokratie für einen groben historischen Unfug halten. Dass man über alles und mit jedem reden könne, hat die politische Mitte als unverbrüchliche Wahrheit ereilt. In den Neunzigerjahren galt dieses Motto "über alles und mit jedem" noch für seichte Talkshows bei Meiser und Arabella; heute ist es politische Maxime und gilt als unantastbar.

Einschränkung stante pede: Dieses sonderbare Demokratieverständnis, das immer gleich mit Meinungsfreiheit winkt, wenn Beleidigung, Entehrung, Ehrabschneidung und Volksverhetzung gerechtfertigt werden sollen, duldet nicht jede Meinung: Sie duldet jede Meinung, die ökonomisch vertretbar ist.

Die Umkehr von Oakshotts Ausspruch käme der Wahrheit näher. Politik ist eine streitbare Auseinandersetzung und nicht ein Gespräch. Es sagt viel über den geringen Gehalt eines Philosophen aus, wenn er meint, Arbeitsschutzgesetze und Sozialversicherungen hätten sich im friedlichen Gespräch politisch entfaltet. Sie waren nicht mal streitbare Auseinandersetzung, sondern die Errungenschaft langer Kämpfe, widerlichen Blutvergießens. Politik war nie etwas anderes - und solange man der herrschenden Kaste Zugeständnisse abgewinnen muss, wird Politik auch nichts anderes sein können. Das heutige Mantra von der Miteinander-reden-Gesellschaft ist töricht - es ist undenkbar in einer Welt, in der Menschen und Gruppen verschiedene Interessen hegen; dass plötzlich alle Menschen dieselben Interessen entfalteten, davon ist kaum auszugehen.

Dennoch behaupte ich, dass man als Mensch mit demokratischer Gesinnung, nicht mit jedem Typen reden muss, den diese sonderbare Form von Demokratie - Postdemokratie nach Crouch - einen aufdrängt. Mag Sarrazin auch einige Befunde zum Euro angestellt haben, die nicht grundsätzlich falsch sind - dieser Eugeniker hat sich als Diskussionspartner disqualifiziert. Henkel kann noch so konziliant auftreten, als jemanden mit dem man diskutiert, ist ein Klassist wie er einer ist, schon lange ausgeschieden.

Ich behaupte das in vollendeter Arroganz und schiebe nach: Solche sind unter meiner Würde! Wer hätte sich ernsthaft mit Hitler über Postkartenmalkunst unterhalten wollen, auch wenn er nachweislich davon Ahnung hatte? Das was er sonst noch tat, um es mal salopp zu sagen, hat alles andere mit in den Abgrund gerissen. Oder man stelle sich nur mal ein Fachgespräch über Kunstdünger mit einem gewissen Herrn Himmler vor, das man ganz wertneutral führte! Da könnte er noch so richtig liegen mit seinem Fachwissen - die Begrenzung des Charakters auf Spezifika, um einen ansonsten maroden Typus ehrenzuretten: auch so eine dreiste Masche des Neokonservatismus in seinem neuen freiheitlichen Wahn, seinem neoliberalen Wahnsinn. Man denke an den guten Minister, der fachlich angeblich so astrein arbeite, der lediglich bei seiner Doktorarbeit Unregelmäßigkeiten aufzuweisen hatte. Was hat denn sein Stellung als Minister mit seiner Stellung innerhalb der Gesellschaft zu tun?

Nun wird man sagen, gerade dreht er Oakshott um, sagt Politik sei streitbare Auseinandersetzung, und nun predigt er das große Schweigen. Jemanden zu ignorieren, ihm die volle Verachtung zu offenbaren, das ist auch eine Art sich streitbar auseinanderzusetzen. Wehrhafte Demokratie heißt auch, sich mit allen legalen Mitteln der zu erwehren, die am Ruin der Demokratie feilen.

Der lauteste Unsinn unserer politisch organisierten öffentlichen Unpolitik ist es, dass man glaubt, Demokratie heiße auch, den Nicht-Demokraten und den Menschenrechtsverächter ein nettes Forum einzurichten, um sie dann, mit viel Idealismus und demokratischem Eifer, diskutierend umzustimmen, mit Argumenten zu ersticken. Hat schon mal jemand erlebt, dass ein Faschist für Argumente zugänglich war? Schon mal erlebt, dass plötzlich einer eingestand, völlig falsch gelegen zu haben? Das hat mit Demokratie nichts zu tun, es ist viel mehr die Inszenierung einer zahnlosen Demokratie, die den herrschenden Absichten dient und denen schadet, denen die Demokratie eigentlich und theoretisch das Versprechen eines besseren Lebens gab.

Dieses typische Mittelstandsgetue, dass man mit jedem und über alles reden könne. Man läßt reden, hört zu, hat innerlich eine ganz andere Meinung, sagt es aber nicht direkt, weil Demokratie da auch bedeutet, friedlich und respektvoll miteinander umzugehen. Demokratie ist verdammt nochmal keine Etikette! Sie verträgt das Ruppige, das Direkte, sie kann, sie muss und sie wird es ertragen, wenn man laut Scheiße! ruft. Aber der neokonservative Entwurf von Demokratie sieht dergleichen nicht vor. Er spiegelt vor, dass Demokratie harmonisch und versöhnlich abläuft - und das auch mit jenen, die überhaupt nicht demokratisch sind. Klar doch, denn die Neokonservativen sind eben selbst keine Demokraten, sie höhlen die Demokratie nur aus, um sich selbst Pfründe zu sichern. Wenn sie zwischen den Sätzen erklären, Demokratie sei auch gegenüber denen Knigge, die weniger demokratisch sind, dann sagen sie das nur, damit man sie selbst höflicher behandelt.

Mit solchen Gesellen auch nur halbwegs ernsthaft zu diskutieren hat nichts, aber auch gar nichts mit Demokratie oder Meinungsfreiheit zu tun, sondern ist postdemokratische Bequemlichkeit und Harmoniesucht und erinnert fatal an jene Tage, da man mit den Faschisten das Gespräch suchte, um letztlich eine Diktatur zu finden. Ernst Toller hat seinerzeit diese Haltung kritisiert; er hatte den Weitblick, die Entwicklung abzuschätzen, während die Demokratie mit den Nazis noch debattierte.

Wehrhafte Demokratie bedeutet doch nicht, dass alles Meinung sein kann. Meinungsfreiheit beinhaltet nicht Aufwiegelung, das Grundgesetz nennt Schranken. Faschismus ist keine politische Meinung, sondern ein Verbrechen - man nenne nicht immer gleich alles Faschismus: das ist eine linke Krankheit, ich gebe es zu. Sagen wir es entkräfteter, sagen wir: neokonservative Reflexe sind keine Meinung, sie sind Volksverhetzung und Verarmung, Ehrverletzung und wider die Menschenrechte. Mit dem Verbrechen unterhält man sich nicht, um Kompromisse zu finden - man sperrt es ein. Und wenn das nicht geht, sperrt man sie eben aus. Das hat mit Zersetzung der Meinungsfreiheit gar nichts zu tun. Wer so argumentiert, der demokratisiert die Demokratie zu Tode. Nicht, dass wir das noch nie erlebt hätten!

Ich frage mich ernsthaft, wie ein Mensch mit demokratischer Gesittung, wie Lafontaine einer ist, in einer Talkshow neben einem wie Sarrazin sitzen will, um mit ihm über den Euro zu diskutieren. Hat er sich nicht aus der demokratischen Wertegemeinschaft just in dem Augenblick verabschiedet, als er polemisch, wissenschaftlich falsch und hinterhältig anfing, Menschen nach Rasse und Genen zu kategorisieren? Welche Denkweise steckt dahinter, einem solchen eugenisch getrimmten Trommler die Möglichkeit einzuräumen, ihn als Diskussionspartner zu adeln? Warum sagt er nicht ganz offen vor laufender Kamera, dass er mit diesem Menschen nicht spricht? Vielleicht, weil er sich damit disqualifizierte und den Kerl auch noch wie einen Märtyrer aussehen läßt, dem die undemokratischen Triebe des Linken arg zusetzten? Denn in dieser Gesellschaft wissen wir doch, dass wir mit allen und jedem über alles und jedes sprechen können. Wer das ablehnt, der lehnt die Demokratie ab! Wenn das allerdings Demokratie sein will, dann sollte man kein Demokrat sein wollen!

Gespräch ist eine Art Zauberwort der harmoniesüchtigen Gesellschaft postdemokratischen Zuschnitts. Im Gespräch läßt sich alles regeln und ordnen. Das Gespräch führt man sachlich und leise, als Chef dennoch zielführend und dominant. Aber man spricht, spricht, spricht. Das mag oft, vielleicht sogar meist, sinnvoll sein. Aber Politik und politische Kultur ist kein trautes Gespräch, es ist Streitkultur oder eben Schweigen gegen die, die sich nicht an die allgemeinen Regelungen und höhere Gesetze und Menschheitserkenntnisse halten. Der Streit ist ja auch eine Form des Gespräches. Nur eben weniger diszipliniert, weniger verständnistuerisch, sondern zielführender, direkter. Das geht uns heute ab, wir sprechen als Gesellschaft nur noch, wir streiten nicht mehr. Streit ist etwas, das bei RTL im Nachmittagsprogramm stattfindet oder zwischen Nachbarn, aber politisch ist er keine Option mehr. Das ist nicht nur langweilig, es ist auch fatal für die demokratische Grundgesinnung der Gesellschaft. Denn man impft den Menschen ein, dass es sich nicht mehr lohnt für etwas zu streiten - man sagt ihnen, dass man Forderungen herbeireden könne, was freilich nicht stimmt, aber so viel praktischer für diejenigen ist, die diese Forderungen gar nicht hören oder gar umsetzen wollen.

Und man legalisiert nebenbei die Vorreiter neuer alter Tendenzen, die mit Vulgärgenetik und rassischem Weltbild hausieren gehen. Denn wenn man mit dem Quacksalber ein fachliches Medizingespräch führt, könnte der neutrale Beobachter doch glatt glauben, hier sitzen zwei Ärzte beisammen, um weltverloren fachzuschwätzen.

Jetzt rufen sie gleich laut, Och, der ist aber totalitär! Wehrhafte Demokratie kann nur total sein, sie muss kühlen Kopf bewahren, aber totale Grenzen kennen, die nicht überschritten werden. Wer das totalitär nennen will, um gleichermaßen die wirklichen Totalitarismen zu entkräften und zu relativieren, der soll das so bezeichnen. Es ist mir einerlei. Den Anfängen zu wehren bedeutet jedoch, den Demokratiezersetzern erst gar keine Anfänge und Ansätze zu erlauben. Das ist nicht totalitär - das ist konsequent! Und es ist demokratisch und für eine Demokratie legitim! Wer überdemokratisch mit Nichtdemokraten debattiert, der hat das demokratische Ideal schon lange überwunden.



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Die politische Ökonomie des Selbstmitleids

Dienstag, 23. Oktober 2012

Der amtierende Konservatismus suhlt sich im Selbstmitleid. Er werde nicht mehr richtig verstanden, er habe sich nun an Erscheinungen abzustrampeln, die nicht er, die sein Gegenspieler, der Liberalismus - nicht der Neo-, sondern der Linksliberalismus -, hervorgerufen habe. Gemeint ist damit speziell ein Menschen- und Gesellschaftsbild, das nur bedingt negativ ist, das den Menschen etwas Positives zutraut, das glaubt, der Einzelne agiere gesünder und vernünftiger, wenn er möglichst wenig Autorität erlebt. Der Konservatismus regt sich darüber auf, dieser Entwurf habe den Staat an den Rande einer Katastrophe gezerrt, habe Schulen zu Kriegsschauplätzen, das Sozialwesen zur Hängematte und den Arbeitsmarkt zu einer Mangelwirtschaft an motivierten Arbeitskräften transformiert.

Der Mensch handle heute so unmoralisch und so wenig demütig - und schuldig sind jene Linken von 1968, die umwerteten, die Traditionelles verdrehten und Bewährtes verkehrten. Sie haben die Menschheit verrückt gemacht und das Familienidyll, die Keimzelle von Anstand und Moral, von Demut und Einsicht, endgültig zermalmt. Sie haben Kinder trotzig und aufsässig werden, zu viel Milde gegen Unproduktive walten lassen und Arbeitnehmern zu viel Mitsprache erteilt. Die Tolerierung der Homosexualität, die die Linke einführte, bekämpft der Konservatismus nicht mehr. Sie hat sich als bequem erwiesen, hat auch Konservativen ein einfacheres Leben geschenkt - außerdem hat sich herausgestellt, dass tolerierte Homosexualität ja nicht der herrschenden Ökonomie im Wege steht, es gibt sogar Schwule, die in ihrem Namen sprechen. Aber zu offene Arme für Ausländer, zu viel Verständnis für Arbeitslose, lernfaule Kinder und Jugendliche: alles linkes Teufelswerk, alles Resultat einer naiven Weltsicht.

Teetrinkendes Selbstmitleid

Thomas Frank nennt das in seinem Buch Arme Milliardäre!: Der große Bluff oder Wie die amerikanische Rechte aus der Krise Kapital schlägt etwas zynisch Die politische Ökonomie des Selbstmitleids. Die bezieht er vorallem auf die amerikanische Rechte, auf die Republikaner und ihr zur Schau getragenes Selbstmitleid darüber, wie der Liberalismus der letzten Jahrzehnte dazu führte, die Vereinigten Staaten in eine Krise zu weisen, wie sie sie seit der großen Depression der Dreißigerjahre nicht mehr kannten. Die amerikanischen Konservativen schieben den Liberalen die Schuld in die Schuhe und wissen darauf nur eine Antwort: Mehr Deregulierung, mehr Privatisierung, mehr Freihandel - denn die Krise entstand nur, weil es zu wenig davon gab. Das kranke Weltbild der Liberalen und Progressiven, so behaupten sie, habe erst den Niedergang bewirkt.

Frank ist ein sachkundiger Chronist der Tea Party und der erstarkten Republikaner. Nach der Lektüre seines Buches muss man annehmen, dass ein Wahlerfolg Romneys gegenüber der sozialistischen Regierung in Washington, keine Überraschung wäre. Die Republikaner, so sagt auch der deutsche Buchtitel, haben Kapital aus der Krise geschlagen. Sie haben sie angefacht und ins Leben der Menschen gerufen und nun sind sie nicht nur Unschuldslämmer, sie zeigen mit nackten Finger auf jene, die schon vorher den Einhalt der Deregulierungsorgien forderten. Dass das nicht die Demokraten waren, die das forderten, stellt Frank jedoch auch ernüchtert fest. Weil es diese Regelungswut gibt, entstehen Krisen, behaupten die Konservativen - wenn der freie Markt, der reine Kapitalismus endlich zum Zuge kommen dürfte, dann wird sich alles zum Besten regeln.

Im Land der Verdichter und Henker

Was in den USA vorallem eine Frage der Ökonomie ist, nämlich die Selbstbemitleidung auf wesentliche Fragen ökonomischer Gestaltung zu lenken, ist in Deutschland etwas anders. Man hat den Deutschen schon vor Jahrhunderten nachgesagt, sie seien das Volk von Polyhistoren, von Universalgelehrten. In Zeiten konservativen Selbstmitleids ist das nicht anders. Während der amerikanische Konservative den gehemmten und in Schranken gewiesenen Kapitalismus betrauert, sich wirtschaftlich selbstbemitleidet, ist das deutsche Exemplar universeller, ist es allgemeiner, verdichtet es seine Denke, macht sich nicht nur zum Anklänger einer falsch betriebenen Ökonomie, sondern zum Henker eines Weltbildes, das ihm zu freundlich, zu nett, zu mitmenschlich dünkt. Warum nur die Ökonomie betrauern? Warum nicht gleich sich selbst bemitleiden, weil man in einer Welt steht, die nicht nur ökonomisch von den Linken verhunzt wurde, sondern in allen Facetten?

Was Thomas Frank umschreibt, dürfte überall ähnlich verlaufen sein. Mit Mentalitätsabstufungen versehen. Die einen eher krämerbeseelt, daher eher auf die Reinerhaltung des Systems fixiert; die anderen mit Hang zur Perfektion, zur Vollumfänglichkeit, daher an allen Ecken und Enden rudernd. Aber das Selbstmitleid ist die Konstante, die den globalen Konservatismus vereint. Eine Lebenseinstellung von Heulsusen und Jammerlappen, von angeblich unterdrückten und ständig verlachten, dennoch standhaften Recken, die gegen die Dummheit linken Zeitgeistes aufstehen und dafür nicht Anerkennung, nur Beleidigung ernten. Palin jammerte darüber in den USA, Sarrazin in Deutschland. Immer werden sie missverstanden, immer falsch interpretiert, der Zeitgeist ist gegen sie, die wirkliche wahre Wahrheit hat eben keine Konjunktur unter linker Vereinnahmung der Öffentlichkeit.

Die Geschichte des Konservatismus, der dem Neoliberalismus in die Knobelbecher half, damit dem Sozialabbau, der Privatisierung, der Entteilhabung der Menschen und der Unterwanderung von Bürgerrechten, ist nicht nur eine Geschichte der autosuggestiven Schuldverlagerung, sondern auch eine tränenreiche Geschichte des Selbstmitleids, mit der sich der Konservatismus nicht nur als Alternative, sondern sogar als einzige Alternative in der Alternativlosigkeit am Leben hält. Und Thomas Frank ist der eloquente Chronist dieses Phänomens.

Arme Milliardäre!: Der große Bluff oder Wie die amerikanische Rechte aus der Krise Kapital schlägt von Thomas Frank erschien im Verlag Antje Kunstmann.



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Facie prima

Montag, 22. Oktober 2012

Heute: Die in akademische Ungnade Gefallene, Annette Schavan

Sie galt stets als seriöse und ehrbare Politikerin. Ihr Ruf schlug sich in jenen Fotos nieder, die Artikel zu ihrer Person oder ihrem Ressort unterstützten. Als rechtschaffene Frau war sie da zu sehen; ernster Blick, nie aber wirklich verkniffen, nie hatte man boshafte Züge in die Ernsthaftigkeit eingerührt. Schavan war das Mauerblümchen des Kabinetts - und wie solche Gewächse zuweilen sind, erklärte man sie als anständigen Menschen, den man fotographisch überdies auch so inszenierte. Ob sie es denn nun wirklich ist - anständig -, wird hier nicht beantwortet werden. Nur ein kurzer Blick auf jene Schavan soll geworfen werden, die in eine Affäre um ihre Doktorarbeit stolperte. Seitdem ist die sonst so toughe Frau einer Wandlung unterlegen. Aus der geschäftsmäßig ernsten, pädagogisch anmutenden Schavan, scheint sich bildlich eine verwirrte, orientierungslose Person entwickelt zu haben.


Verkniffen wirkt sie hie, seltsam entgleisende Gesichtszüge dort. Mit stierem Blick vor schwarzem Hintergrund scheint Schavan entrückt. Aus der vormals so seriös abgelichteten Frau ist eine gelichtete Gestalt geworden, eine bildlich hadernde, geknickte, auch verzweifelte Person. Die Falten tiefer als sonst, das Haar zerzauster, zähe Mimik. Dazu der erwähnte schwarze Hintergrund, als sei alles um sie herum für sie ausgeblendet, als sei ihr Umfeld in Dunkel gehüllt, als gäbe es für sie nur noch diesen Vorwurf und ihre Zerknirschtheit. Im Schwarzen zerstreut sie sich selbst, wirkt allein und isoliert, abgesondert von ihrem Alltag, herausgerissen aus ihrer Rolle als respektierte Politikerin. Der Vorwurf ist mit dieser bildliche Isolation zwar nicht verhärtet, sie trägt jedoch auch nicht dazu bei, ihn zu entschärfen.

So resignativ Schavan im schwarzen Orkus auch wirken mag, zuweilen flankiert eine um ihre Reputation ringende, mit den Händen fuchtelnde Frau die Vorwürfe. Aber ich habe es nicht getan!, scheint sie sagen und deuten zu wollen. Ist ein Dementi immer ein Dementi oder verbindet der Leser, der Betrachter damit das Eingeständnis? Ist die bildliche Dementihaltung vorauseilender Eifer, vorschnelle Entkräftung, die aussieht wie Dreck am Stecken? Wie man das letztlich sehen mag, ist die Mentalitätsfrage des Betrachters. Fraglich ist dennoch, weshalb die vormals so anständig aufbereitete Schavan nun rudert und schlenkert? Weshalb sie clownesk hantiert, warum sie eine tapsige und teils törichte Aura anphotographiert bekommt? Und weshalb schon ein in den Raum geworfener Vorwurf reicht, um den bildjournalistischen Ansatz umzuwerfen?



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Gegen das Vergessen

Freitag, 19. Oktober 2012

Ich muss dauernd an Kamenew denken. Manchmal auch an Trotzki. In letzter Zeit sogar ziemlich häufig. Erst neulich wieder sah ich das spitzbärtige Gesicht des Kamenew vor meinem geistigen Auge, obwohl ich es hätte nicht sehen dürfen, denn man hatte ihn ja von Fotos getilgt, sein Konterfei aus der Geschichte entfernt. Trotzki sehe ich seltener vor mir und wenn, dann stelle ich mir Joe Pesci in Good Fellas vor, denn beide Herren ähneln sich, wie ich finde. Winston Smith stelle ich mir gar nicht vor, den gibt es nur als Begriff - ich habe die Verfilmung von Orwells Roman nie gesehen; gleichwohl ich weiß, dass John Hurt ihn gespielt hat, schaffe ich es nicht, das dröge Gesicht dieses Darstellers mit Smith auszustatten. Er existiert als Begriff, so wie ich mir zuweilen Worte wie Hiobsbotschaft oder Glücksgefühl zunächst nur abstrakt denken kann, bis sie mit Inhalten gefüllt werden. Der begriffliche Smith wird derzeit fleißig mit Inhalten gefüllt - in meinem Kopf, inspiriert durch die Wirklichkeit.

Kamenew gab es eine Weile nicht mehr, er war aus der Geschichte hinausgeklittert worden; Trotzki ging es ähnlich, er ward nie geboren - und falls doch, als unbekannter Kulak verendet. Schuld daran war Smith, ein kleiner Beamter des Ministeriums für Wahrheit, dessen Aufgabe es war, die historische Wahrheit der Nachwelt so zu präsentieren, dass sie annehmbar wird. Was heißt: für die jeweils herrschende Ordnung annehmbar wird. Diese stalinistische Säuberung nach der exekutierten Säuberung benötigt heute keine Schauprozesse mehr. Und auch Miniwahr-Beamte sind rar gesät - des Personalabbaus wegen, der dem Mantra des schlanken Staates geschuldet ist. Aus Fotos schnipselt man ohnehin nicht mehr. Das kostet Zeit und Geld und gute Scheren sind teuer.

Schlechte Journalisten sind vermutlich günstiger als gute Scheren. Ich dachte an Kamenew, als ich wieder mal so einen Journalisten sah, der erzählte, der Kanzlerkandidat der Sozialdemokratie habe damals als Finanzminister die Krise geschultert. Er legte den schnodderigen, auf für ihn kleine Diäten gesetzten Rhetor einfach in diese Schablone hinein, schnitt die überlappenden Fetzen einfach ab. Auf einem dieser Fetzen stand zu lesen, dass dieser Krisenschulterer so gar nicht gegen die Regulierung der Finanzbranche war, weil er schlicht keinen Bedarf dafür sah. Eine Krise schien ihm auch dann noch ausgeschlossen, als sie schon heraufzog. Was die Schere nicht abschnitt war, dass der Mann ein Finanzexperte sei und Finanzpolitik sein Kernthema. Dass der Kandidat jedoch den Generallinien folgte, die die neoliberale Generalität vorgab, wurde auch einfach gekappt. Deregulierung, Privatisierung und Freihandel waren für diesen Finanzexperten jene Maximen, die zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten sollten. Kategorisch: sein reformerisches Verlangen danach; imperativ: das Timbre seiner Fistelstimme.

Der Journalist, der die Schere in den Köpfen der Menschen anlegte, sie kräftig zudrückte, hieß gar nicht Smith, glaube ich. Aber er sah für mich wie einer aus; nur besser angezogen. War er es auch, der den einstmals so geschätzten syrischen Geheimdienst Assads umschnitt, um daraus einen Ausbund an Monstrositäten zu basteln? Ist er auch der Schnitttechniker hinter der neuen Anti-Atom-Standhaftigkeit, die das vergessen macht, was noch kürzlich war, nämlich die Laufzeitverlängerung?

Den Kamenew brachten sie um; Trotzki auch. Wenn ich meine, dass ich derzeit oft an beide denke, meine ich nicht, dass der Kanzlerkandidat der Sozialdemokratie wie einer der beiden wäre. Heute bringt man auch keinen mehr um - nicht hierzulande und nicht, wenn es nur um politische Sichtweisen geht. Kamenew und Trotzki waren standfest, kuschten nicht und hatten damit den Hinauswurf aus der Geschichte unterschrieben. Heutige Kanzlerkandidaten sind anpassungsfähiger, vorauseilend geschichtsvergessen, leiten ihre eigene damnatio memoriae inhaltlicher Prägung ein - aber nur inhaltlich, die Hülle bleibt zurück, sieht aus wie vorher. Es gibt auch keinen Stalin, der irgendwo drohend seinen Schnäuzer aus einem kremlartigen Gebäude hängen läßt, muss man fairerweise dazu sagen. Stalinistisch sind sie selbst in dieser Beziehung, sie umgehen den Schauprozess, überstellen sich persönlich dem Vergessen und tun so, als hätten sie immer gesagt, was sie gerade behaupten, bis dann behauptet werden soll, was derzeit nicht behauptet werden soll oder darf oder muss.

Erinnert sich noch jemand daran, wie die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlängert wurden, ehe man dazu überging, die Verlängerung immer mehr ins Vergessen zu verlängern und noch weiter hineinzuverlängern? Weiß man noch, wie ein Kanzler einem Lamettadespoten aus dem Maghreb freundschaftlich die Hand schüttelte, den man aber später als größten Hitler nach Hitler zeichnete? Und wusste schon damals jemand, als der Kanzler dem Despoten freundschaftlich die Hand tätschelte, dass noch einige Jahre zuvor klar war, dass dieser Lamettafreund der schlimmste Hitler seit Hitler sei?

Im Orkus der Pragmatik treibt auch immer das Entfallen mit; im Suppentopf der radikalen Sachbezogenheit schwimmen immer auch Nudeln mit, die aus Vergesslichkeit hergestellt wurden. Nur einmal nicht, als da eine Sozialdemokratin lapidar meinte, mit jener traditionellen Sozialdemokratie, die kurioserweise Die Linke heißt, würde sie nicht koalieren wollen, worauf sie es hernach doch getan hätte, weil die Wahl ein solches Vorgehen vernünftig erscheinen ließ - nur bei dieser einen Geschichte waren keine Nudeln im Suppentopf. Da konnte man nicht vergessen, da hat man das Vergessen einfach vergessen.

Smith ist der Urvater der Neoliberalen, auch wenn der schon aufgrund seiner Zeit gar nicht der war, nicht der sein konnte, der heute gemeint ist, wenn sie ehrfürchtig Adam Smith hauchen. Smith, der Urvater - Smith, der nicht pflichtvergessene Vergessenheitsverpflichtete bei Miniwahr. Auf Smith bauen sie. Und der andere Smith, der Mann in schwarz, der mit Tommy Lee Jones Außerirdische jagte, der konnte mit einem Stäbchen und einem daraus austretenden Blitz dem Vergessen überstellen. An diesen blitzdingsenden Smith denke ich auch häufig, wenn ich an den anderen Smith denke, an den, den Orwell erfand. Smitheinander die Welt vergessen machen.

Und morgen lesen wir, dass Clement ins Schattenkabinett aufrückt, weil er immer schon glaubte, dass nur ein straff regulierter Arbeitsmarkt dazu führe, Gerechtigkeit walten zu lassen. Und den Hubertus Heil loben sie dann als sozialen Mann; keiner erinnert sich mehr, wie er die Agenda beschönigt hat; er, der dem Seeheimer Scheiß so nahe stand, wird Sozialminister in spe. Ob Trotzki ein Amt bekommt? Und Kamenew? Gegen das Vergessen!, liest man so oft auf Steintafeln; politisch korrektes Sicherinnern an andere Tage. Wir bräuchten mehr solcher Tafeln. Andererseits: diese windigen Typen, die heute mehr sein wollen, als sie gestern noch waren, kann man wirklich getrost vergessen ...

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Klassenlosigkeit manifestiert Klassengegensätze

Donnerstag, 18. Oktober 2012

Die moderne Rechte lebt in einem anderen Biotop als es die klassische tat. Letztere stellte sich den klassenkämpferischen Impulsen innerhalb der Gesellschaft, erkannte an, dass es etwas wie verschiedene Interessen und gegeneinander abzuwägende Positionen gibt, die dann wiederum von der staatlichen Macht gelenkt und zusammengebracht werden müssen, um sozialen Frieden zu erhalten. Die moderne Rechte erkennt die klassenkämpferischen Stimuli innerhalb des Gesellschaftsgefüges nurmehr als verstaubtes Theorem an; sie leugnet hartnäckig, dass es etwas wie gegensätzliche Interessen auch nur geben könnte. Kommen sie doch als Tagesordnungspunkt auf die Agenda, so diffamiert man sie als Ausdruck ideologischen Denkens und altbackener Sektiererei.

Die Auflösung des Klassenkampfes, schon in den Sechzigerjahren von Herbert Marcuse enttarnt, als er den westlichen Menschen und seine Gesellschaft als eindimensional bezeichnete, als er die Vermengung einzelner Interessen, klassenspezifischer Interessen genauer gesagt, zu einem einzigen Sud beschrieb und hierin eine industrielle Einheitsfront und eine Burgfriedenmentalität offenlegte. Partikularinteressen gingen demnach im allgemeinen Interesse auf, was nicht weiter sei, als die begriffliche Umdeutung der Interessen der Herrschenden. Der moderne internationale Konservatismus wirkt in dieser Form seit Jahren und entzieht sich des Klassenkampfes damit, seinen eigenen klassenkämpferischen Antrieb hinter der Leugnung des Klassenkampfes als seriöse Zeichnung innergesellschaftlicher Abläufe zu verbergen. Hierbei schmiedet er in den Industrienationen ganz verschiedene uniformierte Gesellschaftsbilder, in denen die Interessen ineinander verschwimmen und die Gesellschaftsschichten und -klassen übergangslos zusammenlaufen.

Großbritannien

In "Prolls: Die Dämonisierung der Arbeiterklasse" zerlegt Owen Jones die britische Variante der Interessenvermengung zugunsten eines Klassenkampfes von oben. Dass es etwas wie Gesellschaft gar nicht gebe, dass es nur Männer und Frauen und ihre Familien gebe, wuchs auf Thatchers Mist und war das Fanal zu einer Politik, die klassenspezifische Interessen in Abrede stellte, ein Allgemeininteresse formulierte, um letztlich die Interessen der herrschenden Kaste innerhalb Großbritanniens zu fixieren. Man kreierte eine Mittelschicht, in der alle Platz finden würden, so sie nur gewillt sind, sich anständig und fleißig hineinzuarbeiten. Diese Mittelschicht sei das breite Fundament der britischen Gesellschaft - sie ist jedoch natürlich nur sehr schwammig beschrieben, sodass sich allerlei Menschen aller sozialer Herkunft darin wähnen, gleichwohl sie von Dritten unter Umständen als ganz sicher nicht zugehörig eingestuft werden. Diejenigen, die man als nicht zur Mittelschicht zugehörig anerkennt, nennt man Chavs, eingedeutscht Prolls.

Mittelschicht ist allerdings auch derjenige, der eigentlich Teil der Oberschicht wäre, die es begrifflich aber nicht gibt. Menschen also, die aufgrund ihrer hohen Einkommen und ihrer angehäuften Vermögen gar nicht die üblichen Interessen und Probleme kennen, wie diejenigen in der Mittelschicht, die von ihrem Einkommen kaum über die Runden kommen. Politische Reformen wie Steuer- und Abgabesenkungen werden stets als Entlastung der Mittelschicht schmackhaft gemacht, also als Akt allgemeinen Interesses deklariert. Es läßt sich hingegen schwer sagen, wer Chav ist und wer Mittelschicht. Sagen läßt sich dagegen nur, dass es eine Arbeiterklasse begrifflich nicht mehr zu geben scheint. Dafür aber fleißig arbeitende Menschen, die dennoch als Chav gelten, weil sie in Sparten arbeiten, die man als Gesinde der Mittelschicht ansieht, in der Gastronomie beispielsweise oder die bei Discountern an der Kasse sitzen oder in Zeit- und Leiharbeitsverhältnissen ohne hinlängliche Sicherheit siechen.

Chavs sind nach allgemeiner Lesart faul, ambitionsarm und haben, falls überhaupt, lediglich einen Job, aus dem jemand aus der Mittelschicht sich schnell und zielsicher herausarbeiten würde. Zudem sind sie dumm und haben einen Hang zur Gewalt. Außerdem leben sie in Sozialwohnungen, die der britische Konservatismus (und hierzu zählt auch die Labour Party, die unter New Labour konservative Züge annahm) ihnen bei unsozialem Verhalten zur Strafe gerne entziehen würde. Sozialwohnungen sind das Attribut eines Chavs schlechthin - unter Thatcher privatisierte man die Sozialwohnungen dergestalt, dass man die Bewohner solcher Wohnungen dazu aufrief (und sie förderte), sich ihre Mietwohnung zu kaufen. So wurden aus Empfängern verantwortungsvolle Mitglieder der Gesellschaft, rückten sie in die Mittelschicht auf. Jedenfalls theoretisch. Die Sozialwohnungen die verblieben sind, verwahrlosten - neue soziale Bauprojekte sind rar.

Zusammengefasst: Die Gleichschaltung aller Interessen zur Kanalisierung klassenkämpferischer Umtriebe und zur Festigung der herrschenden Verhältnisse in Großbritannien entwarf eine Mittelschicht, die sich an einer Unterschicht konkretisiert, dabei aber dennoch vage genug bleibt, um für jedermann ein greifbares Ziel zu bleiben. Eine Oberschicht hingegen gibt es begrifflich nicht, sie geht in der Mittelschicht auf.

USA

In "Arme Milliardäre!" erzählt Thomas Frank die Geschichte der Neuen Rechten der Vereinigten Staaten, die sich in den letzten Jahren auch unter dem Label Tea Party formierte, die aber natürlich traditionell bei den Republikanern heimisch war. Auch Frank entblättert die "zweckdienliche Vernebelung von Klassenunterschieden" als "häufig eingesetzte Technik der neuen Rechten". Auch hier grenzt man eine breite Schicht, die die neuen Rechten gerne als schweigende Mehrheit bezeichnen, von einer kleinen Splittergruppe ab, die noch nicht begriffen hat, dass die Herrschaftsinteressen immer auch die Interessen aller Menschen sind. Deregulierung, Privatisierung und die Stärkung des freien Marktes dienten demgemäß nicht nur Unternehmen, sondern auch Angestellten und Arbeitern.

Frank meint, die Perforation zwischen Einheitsfront und denen, die noch nicht verstanden hätten, dass es keine Partikularinteressen gibt, sondern nur das eine, das einzige Interesse, habe sich mit Eintritt der Tea Party in die amerikanische Öffentlichkeit verschoben. Vorher hatte sich der Mittelstand oder die Mittelschicht, wie man die konzipierte Klassenlosigkeit programmatisch nannte, vorallem an denen abgegrenzt, die Sozialhilfe bezogen und in Ghettos wohnten. Zu denen gesellte man in den letzten Jahren so genannte Intellektuelle, die man als liberale Regulierungswütige zeichnet, die dem Sozialisten im Weißen Haus in die Hände spielten. "Nach dieser Denkart ist man entweder ein produktiver Bürger oder eine Art Snob, Professor vielleicht, oder Bürokrat der Umweltbehörde. Verglichen mit der scharfen Trennlinie zwischen Intellektuellen und nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft verblassen alle anderen Unterscheidungen", schreibt Frank. Die neue Rechte gibt heute vor zu wissen, dass Amerika "von ganz normalen Menschen" gemacht sei, "von Arbeitern, Holzfällern, Farmern, Soldaten, Erntearbeitern und vielen anderen, die ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts verdienten, besiedelt, aufgebaut und verteidigt" hätten.

Um uramerinkanische Qualitäten markant zu unterstreichen, zieht man gerne den kleinen Unternehmer heran, der alles in sich vereint, was das Land groß gemacht habe. Der Kleinunternehmer steht gegen die Banden der Intellektuellen, die sein Leben schwer machen wollen, die Regularien entwerfen, um ihn um seine Gewinne zu bringen. Dieser Kleinunternehmer steht für den Mittelstand, er steht dafür, dass es keine Klasseninteressen gibt, sondern nur die Wirkungsweise des freien, des deregulierten Marktes, der nichts weiter ist als das Interesse der oberen Kreise, ihre Profite zu maximieren und ihre Monopole zu erhalten.

Man darf aber nicht dem Irrtum anhängen, über Klassenfragen würden in den USA nicht gesprochen. Innerhalb der Tea Party-Bewegung, einer elitären Aufbruchs- und künstlichen Erweckungsbewegung, die sich proletarisch anstreicht, um die elitäre Grundierung zu übertünchen, spricht man durchaus zuweilen von der Ausweglosigkeit des Klassenkampfes. Damit gemeint ist jedoch der gegen den Staat und gegen das Primat der Politik - letzteres gehört laut Tea Party in die Klauen der Wirtschaft. Nach Lesart der Teefreunde gibt es nur das Interesse des kleinen Unternehmers, das man als das Interesse der Arbeiter und Angestellten darstellt, was es jedoch nicht ist - es ist das Interesse der herrschenden Ordnung.

Zusammengefasst: Die Zusammenlegung diametral entgegengesetzter Interessen in den theoretischen Entwurf des Mittelstandes, der rhetorisch als Befürworter eines deregulierten Marktes angeführt wird, weicht alle Klassengegensätze im Klassen- und Ständestaat des USA auf. Auch hier wird so getan, als sei es im Interesse von Arbeitern und Angestellten, von Erwerbslosen und Rentnern, die Vorgaben aus der Wirtschaft zu übernehmen; auch in den USA tut man so, als zöge die Gesellschaft an einem Strick.

Deutschland

Auch in Deutschland wird mit der Mittelschicht oder dem Mittelstand kokettiert. Auch hier ist sie nicht in concreto gefasst, sondern eine Worthülse, die für jeden frei auslegbar und interpretierbar ist. Zum Mittelstand gehören in jedem Falle aber auch die, die man im Vorfeld der Occupy-Bewegung mit dem einen Prozent kennzeichnete, die Wohlständigen und Reichen, die die üblichen Sorgen normaler Arbeiter und Angestellten nicht mal erahnen können. Deutsche Chavs sind Hartz IV-Empfänger und prekäre Gelegenheitsbeschäftigte - sie sind nicht Mittelschicht, alle anderen irgendwie auf irgendeine Weise irgendwo schon. Schlechterdings bedient sich die deutsche Variante der Mittelschichtigkeit rassistischer und eugenischer Spielarten. Etwas, das laut Owen Jones in Großbritannien eher marginalisiert auftritt, das man den Chavs allerdings gezielt in die Schuhe schiebt, eher aber innerhalb des harten Kerns der Mittelständigen zu finden ist. Dort aber auch nicht mit der rassistischen und eugenischen Chuzpe, die man in Deutschland vorfindet.

Es gibt keine offizielle deutsche Tea Party, die die Showeffekte der amerikanischen Politikszene imitierte, dafür formiert sich die neue Rechte aber in Massenmedien und formuliert dort teils reaktionäre Positionen. Laut Thomas Frank ist die amerikanische Tea Party besonders an Ökonomie nach ihrer Fasson interessiert, am freien Markt also, an Deregulierung und Privatisierung. Die moderne Rechte in Deutschland geht darüber hinaus, sie ist nicht nur ökonomisch, sondern präsentiert ein in sich geschlossenes Gesellschaftsbild, in dem auch gleich Fragen zu ausländischen Mitbürgern, Überfremdung und zu Erwerbslosen beantwortet werden sollen. Natürlich drohen Ausländer und Arbeitslose, nach rechter Meinung, die Gesellschaft zu zerstören. Beide Gefahrenherde dürfen daher nicht zimperlich behandelt werden, Ausweisungen sollen an der Tagesordnung stehen, Zwangsarbeitsgelegenheiten und Sanktionen verschärft werden. All das beruht auf dem breiten rechten Konsens, dass wir es a) mit minderwertigen Völkern (vulgo: Rassen) zu tun haben und b) etwaige genetische Zusammenspiele gepaart mit sozialer Mildtätigkeit dazu führen, dass es solche Gefahren und notorische Mittelschichtsverweigerer überhaupt gibt.

Ähnlich wie in den USA verdichtet die moderne deutsche Rechte die Mär, wonach für die sozialen Probleme im Land, für die angebliche Überfremdung und für das nachlässige Schulsystem, die politische Linke und die 1968er Schuld tragen würden. Sie hätten moralingesäuert alle einstigen Werte umgekehrt und letztlich völlige Orientierungslosigkeit und eine naive Menschenfreundlichkeit hinterlassen. In den Vereinigten Staaten wirft die Tea Party das den Linken und Progressiven auch vor, nur versteift sie sich mehr auf ökonomische Gutmenschlichkeit - soziale und moralische Fragen wirft sie dabei eher nicht in den Ring, denn die lenken vom Ziel und vom Erhalt des deregulierten Marktes nur ab.

Politik hat sich den Belangen dieser nur flüchtig konkretisierten Mittelschicht anzunehmen, liest man in Deutschland oft und wurde auch mal so vom derzeitigen Kanzlerkandidaten der Sozialdemokratie erläutert. Gewollte Reformen werden stets als Entlastung, ungewollte Vorhaben als Belastung der Mittelschicht gekennzeichnet und somit einer Interessensvertretung für die breite Basis überstellt, die aber nicht weniger ist, als das Interesse der herrschenden Ordnung und ihrer Moral. Die Mittelschicht ist das Ziel diverser TV-Sendungen und Magazine, dort wird ein einheitliches Interesse thematisiert. Das Interesse in ihr wird gleichgeschaltet und als Fiktion in politische Debatten geworfen. Die Begriffe des Klassenkampfes oder des Klasseninteresses sind dabei völlig tabuisiert. Wer sie im Munde führt, gilt als gestrig und rückständig.

Zusammengefasst: Die Vermassung verschiedener Interessen zu einer einheitsfrontlichen Interessensauslegung, macht jegliche Verbesserung der Lebenswirklichkeit prekarisierter Schichten so gut wie unmöglich. Bevor Reformen im Sozialwesen überhaupt thematisiert werden, schaltet sich das Mittelschichtsinteresse ein und fragt, was es den anständigen Bürger und Steuerzahler, den Mann und der Frau aus der Mitte, kosten wird, wenn man reformiert. Erleichtert wird diese Kaltschnäuzigkeit damit, dass man xenophobe Affekte schürt, rassistische Verallgemeinerungen entwirft und genetische Unzulänglichkeit heranzieht, um die Profiteure sozialer Reformen zu diffamieren und unbeliebt zu machen. Die Klassengegensätze sind so starr wie nie, weil man vorgibt, dass es keine Klassen mehr gibt.



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Die Wacht am Rhein

Mittwoch, 17. Oktober 2012

Die deutschen Medien zeichnen ein halbseidenes Bild von Hollande. Nicht freiweg und vollmundig, meist verblümt und andeutungsweise. Selten sind Berichte seiner Politik neutral; ein Nebensatz als Seitenhieb fällt immer. Überheblichkeit ist garantiert, so als wüssten schließlich alle, dass die Art von Verteilungspolitik, die Hollande zumindest theoretisch zu favorisieren vorgibt, nicht klappen könne. Hier urteilen die deutschen Medien aus der in Deutschland herrschenden Wirtschaftsideologie heraus. Laut der sind Steuererhöhungen und insbesondere die Besteuerung von Reichtum als Häresie am freien Markt eingeordnet. Hollande ist dabei der Häretiker, den man rhetorisch auf den Scheiterhaufen stellt. Die deutschen Medien spielen den neoliberalen Inquisitor.

Tragisch daran ist, dass Hollande kein linker Hardliner ist, sondern das vertritt, was man vor einiger Zeit noch als sozialdemokratische Politik bezeichnet hätte - bevor Schröder die hiesige Sozialdemokratie rückstandslos in den Neoliberalismus führte. Schon eine solche sozialdemokratische Politik, schon solche Rezepte genügen demnach, um die Berichterstattung von journalistischer Neutralität loszueisen, sie süffisant polemisieren und die rhetorische (und vielleicht auch umgesetzte?) Richtung von Hollandes Politik bespötteln zu lassen.

Auch Magazine im öffentlich-rechtlichen Fernsehen tendieren zur inquisitorischen Herablassung. Dort konnte man nun schon mehrmals aus dem neuen französischen Schattenreich hören; natürlich fand keine Diabolisierung statt, wie das Venezuela, Bolivien oder der Iran erdulden müssen in der westlichen Wahrnehmung und seinen systematischen Apparaturen. Aber so ein Giftpfeil, eine Stichelei vernahm man mehrfach. Dass die Finanzierung des Sozialstaates teuer sei, dass Hollande aber dafür die Reichen hätte, die er zur Kasse bete - das war beispielsweise so eine sarkastische Bemerkung. Oder einfach nur, dass sein Vorhaben, Reiche höher besteuern zu lassen, nichts einbringe, außer der Herzen der Armen. Die Reglementierung der Energiekosten sei auch so eine populistische Maßnahme. Gegen Regularien muss man fürderhin doch sein, weiß man doch, dass nur Deregulierungen Regeln schaffen, die annehmbar seien.

Jede Maßnahme, die nicht dem Konzept des amtierenden Neoliberalismus entspricht, wird popularisiert, zur populistischen Aktion gedrechselt. Ein Nebensatz nur und schon ist die Tendenz geschmiedet.

Das sind nicht mal besonders konservative Journalisten, die konservative Leitmotive als journalistisch verkaufen. Sie malen das Schreckgespenst eines Sozialismus an die Wand, der in Deutschlands Nachbarland die Verelendeten füttere, während die Leistungsstarken darunter litten. Umverteilungsmechanismen über Steuererhebung und -erleichterung, eigentlich ganz ordinäre fiskalpolitische Instrumente moderner Staatsführung, werden zu sozialistischen Enteignungsprogrammen umgeschrieben und es wird die obligatorische Angst geschürt. Hollande leidet darunter nicht wie Chavez, wie Morales oder Correa. Die haben sich von der Hörigkeit zum Washinton Consensus, zu neoliberalen Reformvorschlägen, von Sozialabbau und Privatisierung, von Deregulierung und Freihandelsabkommen gelöst, suchen einen eigenen Weg, führten natürliche Ressourcen in den Besitz der Allgemeinheit zurück und finanzieren Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsprogramme und ernten dafür just von der westlichen Medienwelt die Bezeichnung Diktator, Tyrann oder Faschist. So schlecht geht es Hollande freilich nicht, mit einem französischen Präsidenten geht man gepflegter um.

Die vierte Gewalt, die Publikative, sie gestaltet sich als Bewacher der ökonomischen Lehre, als Verfassungsschutz des Wirtschaftssystems, als quasi-pastoraler Gralshüter, der über ganz normale Prozesse gesellschaftlicher Umverteilung wacht, um sie als unrein und ketzerisch zu brandmarken. Sie spielt die Wacht am Rhein, die besorgt und Ängste einflössend hinüberlinst; sie will des Stromes Hüter sein, ganz nach dem alten Kampflied - jenes Malstromes, der sich aus Privatisierung, Deregulierung und Freihandel zusammenbaut, damit das lieb Vaterland ruhig sein kann - sie alle wollen des Stromes Hüter sein, wie der Gassenhauer einst schloss, das ist auch der Traum heute noch; der wird nur entkörpert, nur vergeistigt wahr, auf Terrain des Ungeistes, den man erhalten will, nicht mehr auf körperlichen Schlachtfeldern. Lieb Vaterland magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein. Vaterland ist hierbei die reine, die deregulierte, die freihändlerische, die privatisierte Lehre.

Von journal, dem französischen Wort für täglich, leitet sich der Journalismus her. Vermutlich ist damit gemeint, dass täglich über die Ideale und Maßstäbe, über die Verfehlungen und Entgleisungen gewacht werden soll - auf Basis der ökonomischen Sittenwächterei. Das alles ist nicht neu, das geschieht in diesem Lande schon seit vielen Jahren. Dass die Alternativlosigkeit aber bereits so weit fortgeschritten ist, dass jede andere Richtung schon ansatzweise für suspekt und fadenscheinig erklärt wird, zeigt wie fest verankert der Neoliberalismus ist. Ohne einen Journalismus, der untertonslos und ergebnisoffen berichtet, wird die Alternativlosigkeit auch weiterhin die Alternative des westlichen Welt bleiben. Die Alternativlosigkeit bleibt genau so lange alternativlos, wie darüber berichtet wird.



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Ridendo dicere verum

Dienstag, 16. Oktober 2012

"Wir stehen am Grab des Wortes. Es ist nicht schön gestorben. Es ist nicht vom Zensor erwürgt worden. Es ist als leere Worthülse im Brackwasser der Beliebigkeit ertrunken."

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Was man heute sagt, wenn man es sagt

Montag, 15. Oktober 2012

Die Sprachregelung, die die neoliberale Agenda in den öffentlichen Raum installierte, ist eine selbstsüchtige. Sie ist es nicht nur, weil sie etwaige Egoismen der Teilnehmer fördert und letzthin sprachlich verwurstet hat. Sie ist es auch - und viel mehr! - weil jede Aussage, jeder Vergleich und jeder Verweis zur überprüfenden Selbstbestätigung des neoliberalen Gesellschaftsentwurfes herangezogen wird. Wie eine selbstsüchtige Freundin oder Bekannte, die fragt, wie es einem gehe, die die Antwort noch kurzatmig abwartet, sie jedoch kaum noch vernimmt, um just mit der Ausbreitung der eigenen Befindlichkeit anzufangen. Die neoliberale Sprachregelung nutzt bestimmte Aussagen als Stichworte, um das eigene Wohlergehen zu loben, um sich selbst weihevoll in Szene zu rücken.

Spricht man beispielsweise die griechischen Missverhältnisse an, die es durchaus gibt, dann heißt das automatisch auch, dass diese Form von Missverhältnissen in diesem sauberen System hierzulande nicht existieren. Fakelaki zu benennen heißt vor allem, dass über Korruption in Deutschland nicht gesprochen werden muss. Die Rangliste der Korruption von Transparency International stimmt dem auch zu. Ist es denn kleinlich festzustellen, dass die Korruptionsquote in Deutschland auch deshalb so niedrig liegt, weil sie dank Regierungsprogrammen wie "Moderner Staat - moderne Verwaltung" kanalisiert werden? Dabei handelt es sich um ein Programm, bei dem Angestellte aus der Wirtschaft in Ministerien arbeiten und bei Gesetzesentwürfen mitwirken dürfen, wobei sie weiterhin von ihrem Arbeitgeber aus der Privatwirtschaft bezahlt werden. Fakelaki anzumahnen und für falsch zu befinden, wäre ja eigentlich richtig - aber die Sprach- und Konnotationsregelungen im neoliberalen Deutschland machen, dass die Verurteilung von Fakelaki zur Gratulation der eigenen innerpolitischen und wirtschaftlichen Konstitution führen. Wie gesagt, es scheint wohl kleinlich zu sein darauf hinzuweisen, dass wir Fakelaki als Regierungsprogramm und als mittlerweile übliche Praxis in Ministerien haben.

Dafür gibt es viele Beispiele. Sagt man im Neoliberalismus, dass es den Menschen in Griechenland oder Spanien oder Portugal nicht gut geht, so sagt man eigentlich: In Deutschland geht es uns besser! Sagt man, im Sudan wird massenhaft gelitten, so besagt die Sprachregelung: Froh sein und Arbeit haben, das ist unser Glück! Sagt man, Putin ist ein Despot, so sagt man damit mehr, als man artikulierte, denn man sagt auch: Über Despoten sind wir hierzulande hinweg! Die Sprachregelung lehrt, dass was gesagt wird, immer auch anders begriffen werden kann. Sie ist stets die Regelung darüber, wie man zu empfinden hat - Worte und Sätze nähren oder töten, fördern oder würgen Gefühle.

Bleiben wir mal aktuell. Wenn man sagt, dass die Energiewende kostspielig wird, dann ist das keine Aussage, es ist die Einleitung zu einem lobbyistischen Programm, zu schüchtern gestellten Fragen, ob man nicht doch noch etwas am Atomstrom festhalten soll, ob man nicht zu blauäugig war. Jede Äußerung über den möglichen Preis einer solchen Wende, ist gleichzeitig schon das Einfalltor für die, die weiterhin an Reaktoren verdienen wollen. Der neoliberale Verständniskodex macht, dass objektive Aussagen zu ihrem Gegenteil werden, zu affirmativen Satzfetzen.

Natürlich ist der Islam auch archaisch. Das kann man gar nicht leugnen. Vieles scheint nicht in die moderne Welt zu passen, wobei zu sagen ist: nicht in die moderne Welt, wie sie sich der Westen denkt. Nur kann man dergleichen wie mit den archaischen Affekten nicht sagen, ohne gleich Konnotationen wachzurütteln. Die lauten dann dergestalt, dass der Islam brutal sei, blutig und gewaltbereit, unaufgeklärt und freudlos, gemein und hinterlistig. Das Fremde ist immer das Schlechte - gerade dann, wenn dieses Fremde die Dreifaltigkeit aus Privatisierung, Deregulierung und Freihandel, also den Washington Konsens, nicht inbrünstig lebt. Im öffentlichen Diskurs des Neoliberalismus gibt es keine Abstufungen mehr, kritisiert man Aspekte innerhalb des Islam, so sagt man im Neoliberalen eigentlich damit: Der Islam ist ein Auslaufmodell und unserem westlichen Lebensentwurf gehört die Zukunft.

Bei Ingo Schulze findet sich eine Passage, die vortrefflich ausdrückt, wie die Sprach- und Verständnisregelung heute funktioniert. Er schreibt: "Heute wäre ich vorsichtig mit diesem Begriff. Nicht weil ich meine Meinung über das Gesagte geändert hätte, ganz im Gegenteil. Aber im politischen Kontext der Gegenwart und zweiundzwanzig Jahre nach dem Ende der DDR ist "Unrechtsstaat" eine zu undifferenzierte Beschreibung. Heute bedeutet er vor allem: Über einen Unrechtsstaat brauchen wir gar nicht erst zu reden, das hat sich erledigt!" Das ist auch der Grund, warum sich Linke weigern, den Begriff auf die DDR zu münzen - nicht nur, weil die DDR eben nicht vergleichbar war mit dem NS-Staat, wie man das teilweise schon lesen musste. Sondern eben auch, weil mit Verunrechtsstaatlichung der DDR gemeint ist, dass es in der heutigen BRD kein Unrecht mehr gibt. Die DDR ist der Prellbock, sie übernimmt das Unrecht und die Ungerechtigkeit in ihre Annalen und streicht sie von der gegenwärtigen Agenda des Neoliberalismus.

Wenn man im Neoliberalismus beispielsweise iranische Politiker kritisiert, dann kritisiert man nicht einfach aus neutraler Warte aus, man füttert mit solchen Äußerungen den ihm immanenten Imperialismus. Vergessen sei an dieser Stelle, dass man iranische Politiker kaum kritisieren kann, weil man im Neoliberalismus nie weiß, was wahr ist und was verwahrheitet wird, also zur Wahrheit modelliert - die Systempresse macht Kritik lächerlich, weil sie wahr sein kann oder nicht, weil man somit Wahrheiten kritisiert oder eben Redaktionsphantasien.

Er giert nach Aussagen, um daraus seine eigenen Wahrheiten zu stanzen; jede Aussage, selbst - und gerade! - eine neutral gemeinte, kann verwertet werden. Das neoliberale Weltbild ist eines, in dem alles verwertbar ist. Menschen sind es, Ressourcen sowieso - das Leid von Menschen kann Mehrwert bringen, Krankheit ohnehin. Mit leidenschaftsloser Verwertungsdenke reißt er sich selbst wertfreie Aussagen unter den Nagel und nimmt ihnen ihre Wertfreiheit, um sich wertvoll zu machen - wertvoll für die eigenen Absichten und Ziele, für die eigene Reinwaschung und Rechtfertigung, zur Selbstbestätigung und Relativierung seiner Schuld.

Der Neoliberalismus erlaubt und fördert daher nur Radikalopposition - Positionen, die dazwischen lavieren, arten stets zu seinen Gunsten aus. Er ist auf dem Feld der Worte und Sätze, was er materiell ist: ein Hegemon und Tyrann. Sagte man nun, dass auch der Kapitalismus Entwicklungen fixierte, von denen wir heute profitieren können, so sagt der Neoliberale darauf: Siehste, es gibt eben doch keine Alternative! Wer denkt schon noch an Marx, der den Kapitalismus als Vorstufe zur Vergesellschaftung ansah? Und wer denkt schon daran, dass der real existierende Entwurf seinerzeit diese Vorstufe nicht kannte, sie aber gebraucht hätte und ausgleichen musste? Das sind Prämissen, die die neoliberale Kommunikationsstrategie außerdem tunlichst totschweigt.

Die Sprach- und Kommunikationsregelungen in diesem System sind ein loses Gewirr an Stimmen, die abgeschnitten und dumpf klingen, die aufgreifen, was sie hören und darunter verstehen wollen. Es gibt keine Sprache im Neoliberalismus und es gibt dort auch keine Kommunikation - all das fühlt sich nur zuweilen so an. Es sind Fassaden von Verständigung mit einer Wirklichkeit, die es nur als Fassade gibt, nicht als Fundament.



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