Internationalismus der Strohköpfe

Donnerstag, 12. Juli 2012

Alles klar, die politische Linke verrät sich dieser Tage selbst, wie man das momentan hie und dort liest. Schwört sie doch seit einem Jahrhundert auf den Internationalismus - und jetzt, da der ESM einen verwirklichen wird, da verteidigt sie den Nationalstaat. Die Linke sei somit politisch am Ende, weil sie sich selbst überflüssig macht! Weil Leute wie Gauweiler und Dobrindt, beide ausgewiesen reaktionär, beide bestechend national, dasselbe erzählen wie Wagenknecht! Wer so argumentiert, wer ein solch verstammtischtes Scheinargument in einen Diskurs mengen will, der ist nicht einfach nur linkophob bösartig, der ist vermutlich auch total geistesgestört.

Hat denn die politische Linke je einem Internationalismus das Wort geredet, in dem für das Kapital zentralisiert und gleichgeschaltet wird, in dem es Demokratieabbau für das big business geben soll? Hat sie nicht stets die Zentralisierungspolitik des real existierenden Sozialismus und dessen Bestrebungen, kominternistisch Einfluss auf ihre Brüderstaaten zu nehmen, kritisiert?

Die Idee, Europa noch besser zu verweben, es zu einer Art von Internationale zu machen, ist ja nicht falsch, ist ja nicht schlecht - und auch die politische Linke strebte dies an. Dabei war stets die Rede davon, das Europa der Konzerne, wie man es in der EU sah, abzumelden, um einem Europa der Bürger Platz zu machen. Ein Europa, das per ESM das Haushaltsrecht einsammelt, um es zentral anzuleiten, taugt nicht - ein Europa, das gleiche oder doch wenigstens annähernd gleiche Lebensbedingungen schafft, das verbindliche Kündigungsschutz- und Arbeitssicherheitsgesetze von seinen Mitgliedsstaaten verlangt, das wäre was! Wir brauchen kein Europa, das nur Zollfreiheit für Konzerne herstellt, sondern eines das Mindestlöhne garantiert und eine gemeinsame Strukturierung des Kontinents nach humanistischen Gesichtspunkten entwirft. Denn dieser Humanismus ist es, der abendländisches Erbe ist - das Christentum, wie das abendländische Konservative oft erklären, kann es nur teilweise sein; kann es nur sein, wenn man die Fürsorge Kranker neben Scheiterhaufen stellen will.

Gauweiler und Dobrindt und Wagenknecht sagen dasselbe! Ist das ein Beweis? Ein Beweis dafür, dass die politische Linke so nationalstaatlich denkt, wie es die Rechte immer tat? Klar war doch bei allem internationalistischem Traum immer, dass die Verwaltung eines internationalen Projektes nie von einer Zentrale aus geleitet werden konnte - nicht bei der Größe dieses Kontinents. Es bedarf föderalistischer Untereinheiten - das wären die jeweiligen Staaten. Entwürfe man eine gemeinsame europäische Sozial- und Arbeitsmarkt-Agenda, so könnte man auch vorerst nicht dieselbe Mindestlohnhöhe in Lettland einführen, wie es sie in Frankreich bereits gibt. Wer sollte denn dort so einen Lohn bezahlen können? Die Bereitschaft zu gleichen Prämissen ist zentralistische Aufgabe; die Ausführungen dieser Prämissen sind allerdings föderalistisch zu gestalten.

Was kann denn die politische Linke dafür, dass auch im rechten Lager Menschen gegen den ESM sind? Vielleicht sind sie es aus anderen Gründen - aber ist das irgendein Beweis für eine Linke, die rechtslastiger geworden ist, weil sie den Nationalstaat verteidigt, den sie angeblich immer abschaffen wollte? Wollte sie das jemals? Hat sie ihn nicht als historische Gegebenheit erfasst und ihn akzeptiert? Nur die Affekte, den Chauvinismus, die Überheblichkeiten, die sich aus ihm ergaben, die hat sie angegriffen und wollte sie verschwunden sehen!

Die politische Linke ist erschöpft, seit Jahren kämpft sie dagegen an, dass soziale Errungenschaften abgesetzt werden - sie hat kaum Zeit, eigene Konzeptionen zu entwerfen, weil sie beständig auf das reagieren muß, was der Neoliberalismus einzustampfen droht. Sie wird zu Maßnahmen gedrängt, die auf den ersten Blick gar nicht links wirken - so wie jetzt, da sie sich für das Primat des Staates einsetzt.

Es wird so viel falsch verstanden, falsch ausgelegt und vermengt, dass man als einzige Internationale, die immer funktioniert hat, eine Internationale der Strohköpfe sehen kann. Die halbgare Dummheit, die sich aus Halbwissen, Bauchgefühlen und ideologischen Umdrehungen der Tatsachen destilliert, hat in jedem Land ihre Anhänger - eine andere Internationale des Kapitals macht sich nun auf, noch mächtiger zu werden, wie sie ehedem schon war - nur die humanistische europäische Internationale, das Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!, ist immer noch nicht absehbar. Wenn überhaupt, so kann man der politischen Linken Europas nur das vorwerfen: nicht emsiger für ein humanistisches Europa der Bürger gearbeitet zu haben...



9 Kommentare:

christophe 12. Juli 2012 um 09:00  

Hoch die internationale Solidarität!- Das gilt heute mehr denn je, allerdings nur für das Kapital. Die Linke hat dieser weltweiten Arbeitsteilung kaum etwas entgegen zu setzen. Mitterrand versuchte seinerzeit, bei der Einführung des Euro, ein soziales Europa einzuführen. Es blieb beim Versuch. Heute kann die Linke gar nichts anderes tun als die Reindustriealisierung Europas zu fordern, weil sonst das Proletariat schlicht abhanden kommt. Das dies auch Parteien wie der front national fordern, läßt sich nicht verhindern, ist aber kein Grund, dem Europa der (Finanz)Dienstleistungen nicht den Kampf anzusagen. Ganze Industrien und Fertigkeiten sind bereits ausgestorben, längst nach Fernost ausgelagert. Mélonchon hat das im französischen Wahlkampf mutig angesprochen...

Anonym 12. Juli 2012 um 13:37  

Spezifisch an Hochschulen (heute gibt es in Europa kaum mehr politischen Eliten, die nicht dort sozialisiert worden wären) werden die faktischen Mechanismen des personellen (Inter-)nationalismus systematisch vernebelt. Es gibt zahllose grosszügig angelegte Austauschprogramme und praktisch alle Studierenden pflegen internationale Kontakte. Eine Bekannte hat mir gegenüber mal angemerkt, dass die meisten Studierenden ganz einfach keine Ahnung davon hätten, dass die Schweiz (damals) gegen Immigration aus Osteuropa praktisch vollständig abgeriegelt war, sie hielten die (für Nicht-Studierende de facto nicht existente) persönliche Bewegungsfreiheit genauso für ein gegebenes Faktum wie die selbstverständliche Bewegungsfreiheit des Kapitals.

Bleiben die Leute nach Studienabschluss an der Uni, verschärft sich die Vernebelung, vor allem für die optimal Angepassten: Es winken Promotions-Stipendien und PostDoc-Stellen auf allen Kontinenten, die Bewegungs- und Arbeitsfreiheit wird nach Kräften gefördert und als Karriereschritt mit Reputation belohnt. Von einem Personalverleih hörte ich, dass die Beschaffung einer Arbeitsbewilligung für Leute mit Doktortitel auf dem Gebiet auch dann reine Formsache sei, wenn die Schweiz ansonsten für Immigranten aus dem Herkunftsland verriegelt und verrammelt sei.

Kurzum: Linke wie Rechte können inter- oder national denken und handeln wie sie wollen, sie sind qua Akademiker- und Elitestatus persönlich davon gar nicht betroffen, sie stehen sozial über den Grenzen. Das ist der „ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse“.

Letzthin musste ich mir selbst die einschlägige Strohkopf-Diagnose stellen: Bei den üblichen „Where do you come from?“-Smalltalks in einer „Was, du traust dich dort rein?!“-Disco fiel mir auf, dass viele hartnäckig nur mit „from Africa“ antworteten, und ich missdeutete das als „Sie gehen davon aus, dass Weisse eh keinen Schimmer von afrikanischer Sozialgeographie haben“ (was ja durchaus stimmt). Ein Bekannter, der lange mit einer Afrikanerin verheiratet war, klärte mich dann auf, dass „aufgrund der härteren Gangart der Behörden“ viele ihre Papiere vernichten und ihr Herkunftsland verheimlichen müssen, um ein Ausschaffung hinauszuzögern - und dass mein ehrliches Interesse durchaus als existentielle Bedrohung von einem möglichen Agenten wahrgenommen werden kann. Erstere Tatsache war mir durchaus bekannt, aber auf die Schlussfolgerung zu kommen, war mein unvermögender Verstand nicht in der Lage, ohne sich der Leitung eines anderen zu bedienen. Das Sein bestimmt eben doch das Bewusstsein…

Stefan Rose 12. Juli 2012 um 14:23  

Der neoliberal-rechte Diskurs bedient sich seit jeher der Panikmache:
Wenn nicht gespart/gekürzt/der Gürtel enger geschnallt wird, dann ist der €uro in xx Tagen/Wochen/Monaten Geschichte!
Wenn die Linken an die Macht kommen, dann bricht das Chaos aus!
Sozialtranfers stehen grundsätzlich unter Betrugsvorbehalt, Steuerhinterziehung dagegen ist ok, weil der linke Transferstaat uns enteignen will!
Weil das bei den Teilen der Mittelschicht, die sich immer noch darauf hoffen, irgendwann zur Oberschicht zu gehören, auf fruchtbaren Boden fällt, ist das auch so erfolgreich und so schwierig, dagegen anzuargumentieren.
Ein schönes Beispiel ist die Wahlkampfbroschüre der österreichischen ÖVP, in der nachdrücklich vor Rot-Grün gewarnt wird:
http://images.derstandard.at/2012/07/11/Folder_Rot-Gruen_10x21cm_END2.pdf

garfield 13. Juli 2012 um 00:21  

guter Artikel.

nur eines der Totschlagargumente pro EU... für jede Zielgruppe gibt's ne spezielle Version:
was für Konservative das Horrorszenario geo-strategischer Bedeutungslosigkeit, ist für Liberale die Versklavung durch China... auf jeden Fall alternativlos, diese EU.

Linke, oder die es sein wollen, werden mit platter Ideologie auf Kurs gebracht.

Natürlich die Gelegenheit, zu zeigen wie "progressiv" man ist...
Egomanen wie Augstein jr., die links sind weil hipp, bloggen pro US of E und erklären Skeptiker zu "rückwärtsgewandten Nationalisten".

Gut daß ich keinen Ruf zu verlieren hab - ich kann mir erlauben, rational zu denken.
Ideologie in allen Ehren, aber um zu glauben von dieser EU würde auch nur irgendwer außer den Bonzen profitieren, muß man jeden Realitäts-Bezug schon komplett verloren haben.

Anonym 13. Juli 2012 um 00:32  

Ein Reaktionär ist jemand, der auf sich ankündigende oder bereits erfolgte gesellschaftliche, technologische oder sonstige zivilisatorische Änderungen negierend reagiert und die Zustände von früher restaurieren will.
Dann bin ich gerne und mit Inbrunst Reaktionär, der sich gegen den Zerfall auflehnt.

flavo 13. Juli 2012 um 09:51  

Es ist wahrlich ein PAradox. Die Internationale Solidarität ausgerufen und dann mitten im Rufen rechts vom Kapital überholt und eine Globalisierung serviert bekommen. Dann war Entstation. Die Linke, wie sie mit dem Impetus seit Marx entstanden ist, ist in einer unaufhaltsamen Zerfallsbewegung. Es mangelt überall.
Der Prozessdenker weiß, dass etwas wirklich zerfallen muß, dass das Nichts eine Weile anhalten muß und dass dann vielleicht etwas Neues entstehen kann. In Widerstreit mit der hegemonialen Weltanschauung ist die Linke grosso modo unfähig sich zu lösen von dieser Anschauung und reproduziert all zu oft dieselbe. Der Internationalismus der Linken west heut zu tage bei den Linken als Konkurrenz der Belegeschaften. Wir machen sie fertig, diese Belgschaften jenseits der Staatsgrenze, jenseits der Unternehmensgrenze. Das Konkurrenzland oder -unternehmen soll mal niederkonkurriert werden. Da haben wir den Arbeitsplatz und den dessen Belegung gesichtert. Man kann keinen anderen Schluß daraus ziehen: seit mindestens 20 Jahren wird der Neoliberalismus globaistisch forciert, aber alles Linke, von Partei bis Gewerkschaft, ist außerstande transnational und transunternehmenal zu kooperieren. Die stümperhaften Koordinierungsversuche eines sog. europ. Gewerkschaftsbundes hätte man sich besser erspart: die Differenz wäre gewesen die dann nicht erlittene Schmach. Es tröpfeln Sammelbehälterwörter von den Agierungspitzen herab, mehr nicht. Schläfrig werden Parolen urgiert, während jüngere den Gesamtzusmammenhang nicht mehr verstehen und alles bestehende Linke als Karrierepfade betrachten: heute bei Societe General, morgen beim DGB, halbtags bei Allianz und übermorgen bei Greenpeace. Ein Gott müßte einmal hineinblaßen in diese modrigen Linksbürokratien, er würde die Welt mit einem Hauch in Staub ersticken. Hier der smarte ThirdWayLinke, dort der verkorkste Ostblockbürokrat. Dazwischen ein paar Gewerkschafter, die sadistisch die Belegenden dirigieren wollen. Mehr gibt es derzeit Links nicht. Vielleicht ein paar Linksintellektuelle, die vorsichtig den Neoliberalismus evaluieren, von dessen aktivierender Junbgbrunnenmentalität trinken und genußvoll sich vom Sub-jekt zum Pro-jekt gewandelt haben.

Anonym 13. Juli 2012 um 12:13  

Es ist bis heute tief verstörend und unfassbar, wie es in Deutschland zu jenem Faschismus kommen konnte. Es war daher durchaus immer ein linkes Anliegen, dass die nationale deutsche Souveränität sich besser von einem übergeordneten Gefüge auflöst.
Freilich will man das Gefüge, auf das es nun hinausläuft, auch nicht haben. Das links-politische Ziel des Abbaus nationaler Souveränität, der das traumatisierende Grauen entsprang, wird jetzt auf andere Weise erreicht, als es sich die Linke vorstellte.

garfield 13. Juli 2012 um 16:29  

@ christophe
Mitterrand versuchte seinerzeit, bei der Einführung des Euro, ein soziales Europa einzuführen

daß die Euro-Einführung jemals irgendwelche "sozialen" Ziele hatte, bezweifele ich aber ;-)

@anonym 12.13
"nationale Souveränität" aufzulösen als Ziel der Linken - über Utopie-Status hinaus ging sowas wohl nie. Wie bei Anarchisten die "Gesellschaft ohne Ordnungskräfte". Schöne Worte, aber in der Praxis...

Die Kommunisten haben das auch nicht mehr versucht. Die Ostblockstaaten waren souveräner als die (zukünftige) EU, wenigstens auf dem Papier.

MMN ist das sowieso keine Frage von rechts oder links. Das hat nichts mit Ideologie zu tun, sondern einfach mit Logistik.
Daß ein Mega-Staat > als die USA, aber ohne "Muttersprache", im Interesse der europ. Bevölkerung wäre, kann ich mir nur schwer vorstellen.

garfield 13. Juli 2012 um 19:38  

was den ESM angeht, setz ich aufs BVG wenig Hoffnung.
Ich bin jetzt kein Jurist, aber so wie ich das sehe, ist die Hintertür im GG doch schon eingebaut.
Vermutlich wird zuerst der ESM durchgewunken, danach dürfen wird über ein europ. Finanzministerium abstimmen... vorher könnte man ja noch vernünftigerweise 'Nein' dazu sagen.

Das Schlimme ist, mit diesem 'Verordnen von Oben' werden nationalistische Tendenzen erst noch geschürt. Dieses Ich-Chef-du-Nix ist schon in der Erziehung wenig erflogversprechend...

@flavo

was den Gesamt-Zustand angeht stimmt das schon... aber die Sache ist halt auch bei vielen "Linken" hat sich rausgestellt sie waren gar nicht "links". Der Rest wird klein gehalten wo's nur geht.
Nach der Wende war Sozialismus "gescheitert" und tot. Aber ich denke das ändert sich wieder. Gemeinsamer Nenner muß nicht unbedingt Marx sein, 'sozial' reicht schon.

Aber sind schon "interessante" Zeiten, wo eine "kommunistische" Großmacht die Kapitalisten mit Dumpinglöhnen unterbietet...

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