Auf der Brück von Avignon

Mittwoch, 14. September 2011

Für einen kurzen Augenblick sah es so aus, als sei die Eurokrise behoben, als habe Griechenland den Sturm, den es derzeit erntet, überstanden. Für einen Moment hatte man das Gefühl, dass die Diskussionen über Anleger- und Investorenvertrauen bezüglich Griechenland perdu sind, verschollen in den Weiten der Weltnachrichten und vielleicht gar tatsächlich abgängig. Als bei Orange und Avignon Teile eines Nuklearzentrums explodierten und in den Nachrichten zu hören war, dass ein Atomkraftwerk teilweise detoniert sei, man über die Folgen aber noch nichts, außer einen Toten und einige Verletzte wisse, da schien es, als seien die Reden zum Euro und dessen Verfall endgültig geschichtlich geworden. Oder etwa nicht?

Ein atomarer Unfall im Herzen Europas würde Europa verändern. Teilweise jedenfalls. Und für eine Weile wäre nichts außer atomare Verseuchung das Thema. Griechenland wäre aus dem Schneider, man würde die Eurokrise womöglich schnell abspeisen mit schnellen und üppigen Zahlungen, wobei der Euro dann ohnehin nur Makulatur würde. Bräche die Wirtschaft ein, und nach so einem Unfall würde dies geschehen, wäre Geld erstmal ein Auslaufmodell. Wer zu wenig Phantasie hat, um sich ein solches Szenario auszumalen, der lese Pausewangs Wolke, in der eine atomar verunfallte Gesellschaft gedeihlich beschrieben steht.

Das Geldfragen sinnlos werden, tritt ein solches Szenario ein, das sind Allgemeinplätze und eigentlich nicht beredenswert. Sprechen sollte man lieber darüber, mit welcher Eile man in Frankreich ans Werk ging, den aktuellen Fall zu beschwichtigen. Stutzig machte einen ja die Aneinanderreihung der Details, die man erhielt. Die Atombehörde habe entwarnt, könne aber einen Austritt von Radioaktivität noch nicht ausschließen - das ist die hohe Kunst, zwei entgegengesetzte Positionen so darzustellen, als gäbe es keinen Widerspruch. Außerdem sprach man plötzlich von der Explosion eines Ofens, der schwach-radioaktive Rückstände verbrenne, während man von der Absperrung des Geländes sprach und zu erkennen gab, dass Atombehörde und Anlagenbetreiber scheinbar händchenhaltend miteinander arbeiteten. Beide im eifrigen Wettbewerb, die Situation herunterzuspielen. Diese Abschwächung zu schwach-radioaktiv, die erzeugt schon Staunen - das klingt wie: Es ist etwas geschehen, aber bitte bleiben Sie ruhig, es ist nämlich nur kaum etwas geschehen! Die Brückentechnologie zu Avignon, die hierzulande bald überbrückt ist, verabschiedet sich nicht nachhaltig, soll das heißen. Auf der Brück von Avignon, lasst uns tanzen, lasst uns tanzen...

Nun ist europäische Wahrheit, dass der Unfall ein einfacher Unfall war. Tragisch und traurig, das übliche Betroffenheitsblabla halt, aber in der Industrie ein häufiges Vorkommnis. Sonst sei nichts geschehen. Das kann man glauben, wie man es auch nicht glauben kann. Das dürfte eine Frage der persönlichen Veranlagung und des Charakters sein. Eine Frage darüber, ob man eher Ja-, eher Nein-Sager ist, ob man lieber abnickt oder den Kopf schüttelt. Die offizielle Seite jedenfalls, die so eilig um Beschwichtigung bemüht war, ist die Seite der Ja-Sager. Sie sagten damit auch Ja zum Euro und zum Hickhack um diese Währung, denn sie haben das Schlachtfeld, das soviel Panik erzeugt hätte, dass der Euro zwölftrangig geworden wäre, einfach verhindert. Vielleicht berechtigt, wie gesagt, doch im Augenblick, da die erste Beschwichtigungsaktion fiel, sicherlich noch nicht geprüft. Ins Blaue hinein entwarnt - so hält man Währungsfragen am Laufen.

Es wäre doch untragbar, wenn in Europa die Wirtschaft nuklear erkrankte und die Gläubiger in Griechenland nicht mehr an ihr Geld kämen. Vermutlich ist das allerdings zu pessimistisch gedacht. Denn der Kapitalismus ist eine krisenfeste Einrichtung. Jedenfalls dann, wenn er nicht mit systemimmanenten Problemen zu kämpfen hat. Währungsfragen unterhöhlen sein Fundament, weil die Menschen sie unmittelbar zu spüren bekommen - Umweltprobleme, AKW-Gefahren, Verfestigung der Dritten Welt, die kann er ignorieren und beiseitereden, die spürt man kaum und wenn, dann erst sehr spät. Den Kapitalismus in seinem Lauf, hält weder Tod noch Strahlung auf! Wir haben doch in Fukushima gesehen, solche Themen beschäftigen uns nur einige Wochen. Am eigenen Leib vielleicht sogar zwei, drei Monate, da dürften wir hartnäckiger am Ball bleiben wollen - eine Weile zumindest. Dann ist es aber genug! Dann muß es doch bitteschön weitergehen wie gehabt. Rubel müssen rollen, Arbeit muß getan, Bundesligaspiele müssen angepfiffen werden.

Wir dürfen uns in unserer Freiheit nicht beschneiden lassen, sagt dann die freiheitlich-demokratische Gesellschaft, die dann nicht mehr nur freiheitlich und demokratisch, sondern auch noch nuklear verunreinigt ist. Die Angst vor der Verstrahlung, die Furcht vor dem massenweisen Krebs, darf uns nicht lähmen. Denn das wäre der eigentliche Super-GAU. Wenn keine Profite mehr entstehen, wenn nicht mehr verkauft wird, wenn die Angst uns unwirtschaftlich werden läßt. Ja, das wären die allerschlimmsten Folgen eines nuklearen Unfalls. Und da heißt es dann zusammenhalten, Solidarität zeigen. Nicht mit den Gezeichneten, mit den Verstrahlten, die versorgt man natürlich, aber nicht zu solidarisch mit denen sein, denn die erinnern uns an die Sache, machen schlechtes Gewissen. Solidarisch mit unserem System sein, ist damit gemeint. Die Publizistik hat solidarisch mit der Wirtschaft zu sein, Funk und Fernsehen auch. Beschwichtigen, vertuschen, entkräften! Eine Atomunfall-Krise kann man leicht ersticken. Das hat damals schon der brave Westen getan, als im bösen Rot-Osten ein AKW barst - da war man vereint im Kleinhalten der Folgen, legte den Kalten Krieg ad acta, hat die Bürger eingelullt mit Ausreden, die den Fortlauf der westlichen Atomindustrie gewährleisten sollten.

Hoffen wir, dass das, was da zwischen Avignon und Orange war, ohne radioaktiven Austritt geschah. Aber selbst wenn, bald spräche niemand mehr darüber, man würde darüber nicht sprechen, wie damals unsere Großeltern nicht vom Hitlerreich sprachen, in dem sie vormals lebten. Auch das beschreibt Pausewang in ihrem Büchlein. Mund halten, weitermachen - so kann man es besser ertragen. Und Kind, bedecke deine Glatze, empfiehlt dort, bei Pausewang, die Tante ihrer verstrahlten Nichte. Muß man denn seine Mitmenschen derart vor den Kopf stoßen?, fragt sie. Mach es allen leichter, bedecke deinen Kopf! Selbst wenn es geschehen wäre, verdrängen wir mal, dass es ja noch nicht ganz ausgeschlossen ist... selbst wenn, die Griechenland-Frage wäre stets wichtiger, auch im Angesicht des Todes.



5 Kommentare:

Sonderbar 14. September 2011 um 15:34  

Im Namen des schwarzen Goldes sind abertausende Menschen gestorben, sterben immer noch, und niemand gedenkt dem Öl als Geissel des Kapitalismus' wie der Atomkraft...

Anonym 14. September 2011 um 16:24  

Hm, ich habe die letzte Woche kaum Nachrichten gesehen oder gehört. Da wäre das französiche Beinahe-Fukushima doch glatt strahlend und unbemerkt an mir vorbeigezogen. Ts, Ts.

Anonym 15. September 2011 um 11:58  

Dabei könnte es evtl. theoretisch bald soo sauber vonstatten gehen:
http://www.heise.de/tp/artikel/34/34400/1.html

T.Klein 20. September 2011 um 16:30  

Weshalb verwenden Sie den marxistischen Begriff Kapitalismus? Marx hat das "Kapital" geschrieben, jedoch diesen Begriff nicht erklärt. Eine Kapitaltheorie suchen wir bei ihm vergeblich. Wer nicht weiß, was Kapital ist, kann auch nicht erklären, was Kapitalismus sein soll. "Kapitalismus" ist ein Hirngespinst, eine Worthülse, ein leerer Begriff, der nur Verwirrung stiftet.
Wie soll der vermeintliche Kapitalismus unser Problem sein, wenn wir seit hundert Jahren von erklärten Antikapitalisten regiert werden? Wir werden durch Fiskalsozialismus, Schuldenmacherei und Papiergeld-Sozialismus zugrunde gerichtet. Was ist daran "kapitalistisch"?

ad sinistram 20. September 2011 um 17:06  

Ja, wirklich, der Bolschewik geht um...

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