Kein Recht auf Behutsamkeit

Dienstag, 31. August 2010

Achtet man weniger auf das Timbre von Worten und konzentriert sich anstelle auf deren Inhalt und Aussagegehalt, so wird man dessen gewahr, dass die öffentliche Sprache, so wie sie in Redaktionen und Nachrichtenstudios vollzogen und auf der Straße imitiert wird, eine Sprache der Schönfärberei ist. Eine Sprache, die den Tod zwar beim Namen nennt, ihn aber sprachlich verschanzt. Eine Sprache letztlich, die todweiht, die jedes Mitgefühl, jede Anteilnahme, jedes Einfühlungsvermögen der Präfinalität überschreibt, sprachlich, alltagssprachlich ausrottet.

Soldaten fallen im Felde - hier wird der Tod, wie bereits an anderer Stelle behandelt, aus dem Satz geklaubt. Soldaten sterben nicht, sie erliegen im Dienst; sind dann zwar tot, folgen aber zuletzt der verschwiegenen Gewissheit, bei einem todbringenden Arbeitgeber angeheuert zu haben. Nein, Soldaten sterben nicht, jedenfalls nicht so, wie Ununiformierte - sie sterben keinen menschlichen Tod, zumindest nicht in erster Instanz: sie sind ein Verlust an den nationalen Humanressourcen eines Landes, werden wie Schachfigur vom Brett geklaubt. Somit ist eine emotionalisierte Wortwahl für den öffentlichen Raum relativ unnötig - sie wird für inszenierte Trauerfeierlichkeiten aufgespart, für zivilgesellschaftliche Totenmessen, bei denen den zivilen Korpussen unter den Uniformen gedacht wird. Es ist eine besonders beredte, zungenfertige Kunst, das unliebsame Substantiv auszugliedern, zu vergraben - eine wortgewandte Kunst, die Worte gewandet, so sehr verkleidet, dass sie gar nicht mehr zu erkennen sind. Zivilisten jedoch fallen nicht, sie sind ja auch nicht im Dienst. Mit ihrem möglichen Tod ist zwar im Kriege zu rechnen, allerdings nicht zu selbstverständlich. Dummerweise getötete Zivilisten verbirgt man entweder ganz, berichtet von ihnen erst gar nicht - oder aber man kann es nicht mehr vertuschen, muß über deren Tod öffentlich Rechenschaft ablegen und hat den hässlichen Umstand so zu heißen, dass er nicht mehr gar so grausig wirkt.

Zivilisten fallen nicht, bleiben nicht im Felde. Will man dem nach Neuigkeiten dürstenden, lechzenden Publikum beibringen, dass zivile Leiber im Kugelhagel zerrupft, deren Gliedmaßen durch Bombardierung in alle Winde zerstreut wurden, so heißt es: Zivilisten fanden den Tod. Ganz lapidar - sie fanden ihn! Hatten sie ihn vormals verloren? Haben mutige Soldaten ihnen beim Suchen geholfen? Erfolgreich geholfen? Sicher, das sagt man eben so, da ist doch nichts dabei, kein Hintergedanke - alles ganz harmlos. Man plappert es so dahin, wie Pfarrer das tun, wenn sie von der Kanzel herab vom Einschlafen oder Verscheiden eines lieben Bruders, einer lieben Schwester aus der Gemeinde berichten. Auch dann, wenn dieses Einschlafen ein elendes Verrecken, ein Sichsuhlen im unendlichen Schmerz, ein Bad in metastasierten Qualen ist. Da findet eine Sprache Anwendung, die die Wirklichkeit nicht abbildet; eine Sprache, die sich verweigert, das mit dem menschlichen Wahrnehmungapparat Registrierte, auch in den Kehlkopf, auf die Stimmlippen zu legen.

Die schönfärbende Formulierung erhält eine Konzession, wenn sie Schmerzen, die die Realität zeitweilig bereithält, zu betäuben trachtet. Man kann es einem solchen Geistlichen schwer verübeln, wenn er einen furchtbaren körperlichen Verfallsprozess, die Bewegungseinschränkung, die aufgedunsenen Glieder, die markerschütternden Schreie, das Liegen in den eigenen Exkrementen, dass er all diese Alpträume nicht beim Namen nennt, stattdessen auf das Entschlafen zurückgreift und nicht vom Verrecken, vom Krepieren spricht. Hier verkleidet Sprache pietätvoll, hier nimmt sie Rücksicht auf den Gemütszustand von Hinterbliebenen. Eine angebrachte Behutsamkeit, denn ein solches Sterben gestaltet sich im privaten Raum. Wo aber das Verrecken zur öffentlichen Sache wurde, zum Belang der res publica, da darf nicht pietätvolle Nachsicht walten - hier hat die Öffentlichkeit ein Anrecht auf Abbildung der Wirklichkeit. Zivilisten fanden den Tod!, ist inakzeptabel, weil es geübte Nachsicht an der Befindlichkeit der Öffentlichkeit ist. Falsche Rücksicht! Die Öffentlichkeit ist keine Trauergemeinde, die man nicht zu sehr brüskieren sollte: sie muß sogar kompromittiert werden, um der Realität auf die Schliche kommen zu können.

Falsche Behutsamkeit erzeugt falsche Konnotationen, falsche Nebensinne, falsche Schlüsse. Mit Menschen, die den Tod fanden, kann man leichter leben - man kann es ertragen. Mit zerfetzten, zertrümmerten, zerschossenen Leibern verständigt man sich weniger spielend. Schönfärbende Sprache, die von der privaten Trauerfeierlichkeit in den öffentlichen Raum gehoben wird, verpuppt das Mitempfinden und das Erbarmen. Sie hält auf Distanz, hält vom Leib, erlaubt Reserviertheit. Zwar findet das Wörtchen Tod Einzug in den Satzbau, doch in so zugeknöpfter, unnahbarer Variation, dass es beinahe schon wie eine Nebensächlichkeit klingt. Sie fanden den Tod, etwa so, als haben sie ihn gesucht - nichts von "aus dem Leben reißen", nichts von der Plötzlichkeit, davon, dass der Tod wie der Blitz einschlug und Menschen mit sich riss, die ihn - den Tod - nicht gesucht haben. Nicht gesucht, aber gefunden! Dieses Sie fanden den Tod! befreit davon, in Getöteten Opfer zu erahnen; der Status als Opfer ist aufgehoben, der ereilte "gefundene Tod" wird terminologisch zum unabwendbaren Schicksalsschlag, zum fatalistisch Hinnehmbaren.

Das ist erkaltete Sprache, die dem Tode näher steht als dem Leben. Eine Sprache, die nicht mehr lebensbejahend ist, weil sie die Realität nicht mehr abbilden möchte - der Drang nach Pietät, nach dem blut- und schmutzfreien Wort, erzeugt eine künstliche Weltanschauung; eine, die die Welt als bereinigten Ort in Worte fasst; eine Welt, die sprachlich gereinigt ist. In einem solchen Umfeld verendet das Mitleiden, geht die Gabe verloren, sich in Not und Elend hineinzudenken. Es ist die Sprache von Automaten, nicht die Sprache fühlender, emotionaler Menschen. Ermordeten diese letzte Würde zu rauben, über den Hergang ihres Todes nicht genau Rechenschaft abzulegen, sie nicht als zerfetzte, zerrissene, durchsiebte Leiber sprachlich zu erfassen, sie stattdessen den Tod finden zu lassen: das ist, eben weil sie der Gesellschaft pietätvoll dergleichen Grausamkeiten ersparen will, eine grausame, kalte Sprachkultur - eine Gesellschaft, die Soldaten in die Welt schickt, die Zivilisten als Nebenprodukt kollateral mittötet, hat kein Anrecht darauf, dass man ihr den Tod behutsam beibringt. Sie muß ihrem Werk offen ins Auge sehen - und sei es noch so grausam...



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Ein viel dringlicherer Tabubruch

Montag, 30. August 2010

Es ist ja nicht so, dass man grundsätzlich gegen grobschlächtiges, ruppiges Auftreten sein sollte. Das hat seine gute Billigkeit. Vorallem ist es das Anrecht des Tabubruchs - so einen muß man manchmal ungalant begehen. Problem ist dabei nur, dass der große Tabubrecher, diese schiefschnäuzige Karikatur einer Herrenmenschen-Parodie, überhaupt kein Tabu gebrochen hat. Er hat einfach nur den Stammtisch, den Kleinkrieg aus Mietskasernen und vom beruflichen Pausentisch aufgegriffen und in den öffentlichen Diskurs geschmettert. An jenen Plätzen qualmte nämlich schon immer dieser stinkende Sud aus sozialdarwinistischer und eugenischer Wissenschaftsramschware, aus rassistischer und nationalistischer Verranntheit, angereichert um faschistoides und barbarisches Heroentum - an den genannten Örtlichkeiten war all das nie tabu.

Diese schweigende Mehrheit, die man hinter dem ungestalten Tabubrecher vermutet, die gab es nie - das heißt, es gab sie schon als Masse, nur nicht als schweigende, sich bedeckt haltende Gruppe. An den richtigen Orten dampfte es seit alters her ordentlich, wurde immer schon gesagt, was gesagt werden musste - weils doch wahr sei. Das gilt nicht nur für das angebliche Tabu der Überfremdung - das gilt auch für die klassistischen Aussagen des "Klartext"-Politikers bezüglich Erwerblose, die für ihn eine funktionslose Klasse seien - eine Klasse, die folglich niemand brauche. Dergleichen war auch nie in die Stille verbannt, wurde an heimeligen Orten thematisiert, ausgegrölt, gut hörbar tremoliert.

Nein, da fand kein Tabubruch statt - dieser profilneurotische, offenbar an einem Aufmerksamkeitsdefizit nagende Herr, er ist nicht der Tabubrecher, er plappert nur nach, was irgendwie immer schon irgendwo von irgendjemanden gesagt, geflüstert, mindestens aber laut gedacht wurde. Und das wäre eigentlich schade, wenn es nicht so schön wäre. Denn Tabubrüche, die wären sicherlich entschieden geboten - es gäbe genug Tabus zu brechen in dieser Gesellschaft. Tabus, die der nichttabubrechende Tabubrecher vom Dienst nie zu brechen geneigt wäre. Da fehlte es an Substanz, an Schneid, an cojones, wie man im Spanischen und neuerdings auch im Deutschen sagt; cojones, die man benötigte, um dort Tabuzertrümmerer zu sein, wo einem auch Sturm blüht, nicht nur eine leichte Gegenbrise.

Ja, es gäbe genügend Tabus! Jenes beispielsweise, so zu tun, als ob Politik und Wirtschaft zwei gesonderte Posten seien - warum bricht man nicht dieses hemmende Tabu, entblößt die Politik als das, was sie ist: Wirtschaftspersonal mit Mandat. Wieso sind Berichte aus den Folterlagern der westlichen Welt tabu? Auch die Arbeitswut und der Arbeitfetisch der kapitalistischen Welt: warum tabuisiert man die, warum tabuisiert man des Menschen Recht auf Faulheit? Weshalb gilt es als Tabu, einem offensichtlichen Menschenhasser, einem Vernichtungsbürokraten in Lauerstellung, bei einer öffentlichen Veranstaltung nicht mit Häme begegnen zu dürfen? Warum gebietet es die diplomatische Gepflogenheit, auch so einem Kerl die Hand zu reichen?

Das klingt nach kleinem Tabubruch, nach Bagatelle, Pappenstiel. Jemanden nicht die Hand zu geben - das ist doch, wenn überhaupt, kein Tabubruch von Format. Aber das täuscht: genau das ist der Tabubruch schlechthin. Einem vor aller Welt die Hand zu verweigern, das seriöse Wort zu versagen, ihn eher anzuspucken als zu begrüßen - einem, der gegen Minderheiten hetzt und geifert, Menschen in wertvoll und wertlos katalogisiert, in dieser Weise den Respekt zu verwehren, ihn nicht als Gesprächspartner auf gleicher Augenhöhe anzuerkennen: das ist nicht Unbenehmen, das wäre ein weittragender Tabubruch. Man stelle sich vor, bei Anne Will würde man irgendwelchen Bankkantinenagitatoren den Respekt versagen. Mit Ihnen rede ich nicht! Mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch! Wäre das etwa kein Tabubruch in einer Gesellschaft, in der man sogar Eugeniker freundlich begrüßt und sie "sachlich" zu Wort kommen läßt? Aberaber, Arschloch sagt man doch nicht! Eben! Genau deshalb wankte da ein Tabu: bisher durften bestimmte solche nicht so geheißen werden!

Und was würde einem solchen Tabubrecher blühen? Nennte man ihn Klartext-Talker? Klartext-Talker bei Anne Will sagt, was Sache ist? Würde man berichten, dass er den von ihm mit einer Körpereinbuchtung bedachten Diskutanten hart rannahm, ihn des Rassismus, des Klassismus, der Volksverhetzung bezichtigte? Ihn deshalb verachten musste, wenn man nur noch ein Stäubchen demokratischer Ehre im Leib hat? Stünde irgendwo in einer Zeitung, dass man diesem Kerl mitteilte, dass es nur die gute Erziehung sei, die einen davon abhalte, wie ein tolles Alpaka durch die Gegend zu speien? Klartext-Talker vergisst Manieren, um Herrn X ebendiese beizubringen! - Würde man das irgendwo lesen können? Endlich sagt einer, was alle denken; endlich nennt einer Herrn X beim Namen! - Wo zierte dieser Satz das Feuilleton? Klartext-Talker bei Will: neunzig Prozent unserer Leser sagen, er hat recht! - Na, wer schriebe wohl dergleichen?

Nichts wäre es mit Klartext-Talker! Ein ungezogener Kerl wäre man, jemand, der es übertreibe - unsachlich wäre man, weil man der personifizierten Dummheit nicht mit endlosen Sachdiskussionen beigekommen war. Ein Mindestmaß an Betragen würde man einfordern; auch der Hetzer hat Anspruch auf grundlegende Respektsbezeugungen! Hat er? Hat er! Selbstverständlich! Man ging ihm nicht gleich aufgeladen vor Wut an die Gurgel: das zeugt doch von Respekt! Das ist eine kulturelle Leistung, wenn man denjenigen, der ganze Volksgruppen in Verruf bringt, damit Lebensrealitäten noch erschwert, nicht gleich unzimperlich begegnet. Sich zu beherrschen: das zeugt doch von Respekt! Keiner würde einen solchen Tabubrecher als Tabubrecher bezeichnen. Sie sind doch kein Tabubrecher - Sie sind nur schlecht erzogen! Man würde ihm die Berechtigung aberkennen, weiterhin solchen Runden beizuwohnen - den Hetzer lädt man aber wieder ein: er hat sich schließlich anständig benommen!

Dabei wäre es ein vorzüglicher Tabubruch, denn niemals stünden neunzig Prozent hinter einem - und wo nur zehn Prozent loyal sind, da bohrte man eher in ein Tabu, in eine schwärende Wunde, als dort, wo Mehrheiten die Nachhut bilden. Wenn man solchen asozialen Eiferern mal mit dem nötigen Respekt, also der Respektlosigkeit die nötig wäre, begegnete, dann bräche man jenes Tabu, das Hetzer hofiert. Das wäre ein Bruch, der wirklich etwas bewirken könnte. Denn wo sich zusehends geweigert würde, mit Aufwieglern zu diskutieren, sie sachlich zu behandeln, da entzöge man ihnen ihre Legitimität, würde sie in die anrüchige, kriminelle Ecke drängen. Sie können mich mal!, wäre nur ein kleiner Satz für einen Menschen, aber es wäre ein großer Satz, den die Menschheit nach vorne machte...



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Ridendo dicere verum

Samstag, 28. August 2010

"Herr K. sprach über die Unart, erlittenes Unrecht stillschweigend in sich hineinzufressen, und erzählte folgende Geschichte:
Einen vor sich hinweinenden Jungen fragte ein Vorübergehender nach dem Grund seines Kummers. "Ich hatte zwei Groschen für das Kino beisammen", sagte der Knabe, "da kam ein Junge und riss mir einen aus der Hand", und er zeigte auf einen Jungen, der in einiger Entfernung zu sehen war. "Hast du denn nicht um Hilfe geschrien?", fragte der Mann. "Doch", sagte der Junge und schluchzte ein wenig stärker. "Hat dich niemand gehört?", fragte der Mann weiter, ihn liebevoll streichelnd. "Nein", schluchzte der Junge. "Kannst du denn nicht lauter schreien?", fragte der Mann. "Nein", sagte der Junge und blickte ihn mit neuer Hoffnung an. Denn der Mann lächelte. "Dann gib auch den her", sagte er, und nahm ihm den letzten Groschen aus der Hand und ging unbekümmert weiter."
- Bertolt Brecht, "Der hilflose Knabe" -

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Ein enttäuschender Schismatiker?

Freitag, 27. August 2010

Meine Güte, der Lapuente! Also sowas hätte ich nie von ihm gedacht! Schreibt der doch Sachen, die man als Linker niemals schreibe dürfte. Wie neulich, als er den Feminismus angiftete. Das sind wir von dem nicht gewöhnt. Jetzt spinnt er total! Lapuente, sag, drehst du durch? Manchmal kann man ihm nicht mehr folgen, manchmal gibt er seine sonst so vornehmen Positionen auf...

So oder ähnlich vernimmt man es zuweilen; so oder ähnlich gestalten sich Vorwürfe, mit denen man zu ringen hat. Natürlich sagt mir keiner auf den Kopf zu, dass man mir nicht mehr folgen könne - einerseits gibt niemand gerne Gefolgschaft zu, andererseits möchte ich nicht in der Weise verfolgt werden, wie man das hier verstehen möchte oder könnte. Man verfolge meine Zeilen, lese sie - aber man folge mir bitte nicht, mache mich nicht zum Anführer irgendeiner Gesinnung, zum geistigen Oberhaupt, der in geschmackvolle Worte packt, was man an dieser geschmacksarmen Welt verachtet.

Ich bin kein spiritual leader! Für niemanden. Dazu tauge ich nicht, dazu bin ich reichlich unfähig. Die eigene Leserschaft ist einem, das liegt im Wesen der Sache, besonders sympathisch. Ist es ein Affront, wenn man sie ab und an "brüskiert"? Wenn man ihr Texte reicht, die vielleicht nicht beliebt sind, weil darin Standpunkte aufgegriffen werden, denen nicht jedermann zugeneigt ist? So wie neulich, als ich den Feminismus kritisierte - oder so wie vor längerer Zeit, als ich manche elterliche Erziehung angriff, manche familiäre Selbstsucht? All das muß nicht gefallen - und es hat nicht mal Anspruch auf Richtigkeit. Wer bin ich denn, anzunehmen, immer recht haben zu müssen!

Was ich aber nicht will, das weiß ich ganz genau: ich mag es nicht, wenn man von mir enttäuscht ist! In der Art, weil ich doch sonst immer das Lebensgefühl mancher Leser träfe, jetzt aber offensichtliche Häresie betreibe. Seid doch nicht enttäuscht von mir! Ich bin auch nur ein Schmierfink, einer, mit mancher Flause im Kopf - bin oftmals Wirrkopf, jemand der sich irren kann: ein Irrkopf. Einer, der sich täuschen, der falsch liegen kann. Kein vergeistigter Wortjongleur, der immer und überall seiner kleinen Gemeinde mit Linientreue (welche Linie denn?) Freude bereiten muß - kein Auftragsschreiber meiner geschätzten Leser oder eines gewollten Dogmatismus. Wenn man mir vorwirft, befremdliche Töne von mir zu geben, dann wittere ich dahinter eine Gesinnung, die mich als absoluten Rechthaber, als allwissenden Propheten begreifen will. Bin ich aber nicht! Nie gewesen! Und bewahre, dass ich je annehmen werde, dergleichen zu sein!

Lapuente, du täuscht dich! Augenblick: De Lapuente, du täuscht dich - die Zeit für den Partikel will sein. Du hast unrecht, liegst falsch! All das kann ich ertragen. Aber, du enttäuschst mich, du befremdest mich!... neinnein, ich habe nie behauptet, immer richtig zu liegen. Das hört sich ja an, als wäre ich ein Abweichler. Aber wovon weiche ich ab? Welches Dogma beschmutze ich, wenn ich Dinge formuliere, die manchen nicht so sehr gefallen? Von Familie dürfte ich jedenfalls nicht zu intensiv schreiben, denn dann käme ans Licht, dass ich in dieser Frage eher konservativ eingestellt bin. Ich halte die Familie für eine relativ natürliche Angelegenheit, die dem Menschen zupass kommt - Familienmodelle auf andere Lebensentwürfe zu übertragen, halte ich für legitim und existenziell. Und freilich gibt es dort Hierarchien - ein Kind ist nicht angemessen mündig, um paritätisch an weittragenden Entscheidungen mitwirken zu können. Wovon ich nichts halte sind Versuche wie Kommunen oder ähnlich gearteten Lebensgemeinschaften, bei denen kreuz und quer gefummelt und hernach die große Eifersuchtslosigkeit geheuchelt wird. Die Eifersucht ist kein gesellschaftliches Produkt, sie schlummert im Menschen, wird von dort immer wieder mal aufbrechen. Offene Beziehung: bittesehr, wer es mag! Ich aber nicht - und deswegen enttäusche ich noch lange niemanden.

Du täuschst dich: ja! Das kann ich vertragen! Du enttäuschst mich: nein! Das riecht mir zu sehr nach: Du Schismatiker! Aber, ich wiederhole mich: abtrünnig von was? Wer zuweilen den Mut aufbringt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, der kann sich täuschen - aber enttäuschen eher nicht. Und mit der Israel- oder Palästina-Problematik, die in linken Kreisen sakrosankt ist, fange ich erst gar nicht erst an: ich würde nur wieder enttäuschen...



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Tabubrechende Idiotie

Donnerstag, 26. August 2010

"Es war tabu, darüber zu reden, dass wir als Volk an durchschnittlicher Intelligenz verlieren, wenn die intelligenteren Frauen weniger oder gar keine Kinder zur Welt bringen", erklärt Thilo Sarrazin gelehrt. Er kann dergleichen ganz unbefangen von sich geben, völlig ungefährdet, dafür auch wirklich angefeindet zu werden. Was er da in die gesellschaftliche Mitte überführt, sind eugenische Positionen, die weder menschlich noch wissenschaftlich bestehen können; humangenetischer Aberwitz aus der Giftküche eines mit Halbwissen ausgerüsteten Snobs, der von Erbanlagen sicher schon mal gelesen, offensichtlich aber nicht alles davon verstanden hat.

Nicht alles zu begreifen, das wäre keine Schande. Die Humangenetik ist ein weites, ein schwieriges, verwinkeltes Feld, dem Laien oft nicht erschließbar. Deswegen gebietet es die laienhafte Bescheidenheit, mit etwaigen Erkenntnissen nicht zu tollkühn zu balancieren - das Risiko, nur die Hälfte begriffen, von dieser Hälfte wiederum die eine Hälfte zu wortwörtlich und daher zu kompromisslos aufgefasst zu haben, ist einfach zu groß. Sarrazin läßt sich nicht abhalten, er addiert das von ihm Erlesene, diesen Sud aus halbgaren Erkenntnissen, und macht daraus eine populäre Stammtischwissenschaft, die vom Scheckbuchjournalismus gefällig aufgegriffen und publiziert wird. Nichts haben sie gelernt! Denn dergleichen Halbwissen prägte auch die Dekaden vor Hitler, in der unzählige Elaborate über Zuchtwahl kursierten, in der das geistig vorbereitet wurde, was später auch körperliche, materielle Formen annehmen sollte - damals meinten viele, den Schlüssel der Genetik in Händen zu halten, die Evolution bis in den letzten Winkel hinein erklären zu können; die Wissenschaft, oft ideologisch verblendet, trug auch nicht viel zur Wahrheit bei. Erst durch dieses Klima humangenetischer Halbbildung wurden Sterilisations- und Euthanasieprogramme möglich, erst auf dieser halbwissenden Grundlage konnten Bevölkerungsschichten der Ausrottung überstellt werden.

So weit ist es mit Sarrazin freilich nicht, wenngleich er demselben Halbwissen frönt, wie jene damals. Es ist daher darauf hinzuweisen, dass er über Pfade trampelt, die schon einmal in eine Katastrophe mündeten, dass er also Gefolgsmann einer Gesinnung ist, die Not und Elend, Verstümmelung und Tod mit sich brachte. Ein Idiot eben - das ist keineswegs beleidigend gemeint, sondern im Sinne des ursprünglichen Wortes, mit Bedacht darauf, wie der antike Lateiner den Idioten, den idiota im allgemeinen Sprachgebrauch anwandte: er meint damit einen Laien, einen unwissenden Menschen; jemanden, der seine Unwissenheit, sein Halbwissen hinausposaunt; jemanden, der verblüffende Ähnlichkeit mit einem Kerl hat, der dieser Tage lärmend um die Zuchtwahl schwadroniert. Jene Zuchtwahl, die in erster Instanz eine Würfelei mit Allele darstellt, die nicht kalkulier- oder steuerbar ist - und in zweiter Instanz als eine weltfremd absolutistische "Wissenschaft" auftritt, von sich selbst überzeugt, Fähigkeiten, Ausprägungen, Interessen eines Menschen ließen sich alleine genetisch festlegen und steuern, gleichwohl die Umwelt als prägender Faktor verleugnet wird. Sarrazin erklärt auch umgehend, nachdem er über intelligenten Nachwuchs intelligenter Frauen sinnierte, dass der Einzelne selbst für sein Verhalten verantwortlich ist, nicht die Gesellschaft - darüber zu reden, sei auch tabu gewesen; aber er, Stimme der schweigenden Mehrheit, mutiger Wahrheitsverkünder, spricht nun aus, was nicht mehr tabu sein darf. Das paßt frappant zusammen, denn die Eugenik wähnt sich als absoluter Prägestempel, läßt neben sich nichts gelten. Jedoch ist die Behauptung, jeder sei selbst für sein Verhalten verantwortlich genauso unangemessen, wie das Gegenteil, wonach immer im sozio-ökonomischen Milieu die Verantwortlichkeit zu suchen sei.

Wie ist eigentlich die Existenz eines Albert Camus erklärbar? Als Halbwaise einer Mutter, die nicht schreiben, nicht lesen konnte, wurde er später Literaturnobelpreisträger, eine der wichtigsten Gestalten der modernen Philosophie - seine Mutter, nicht nur Analphabetin, sondern auch schwer von Begriff, wie einige Biographen Camus' berichten, konnte zeit ihres Lebens nicht nachvollziehen, was ihr Spross da geleistet hatte. Der Nobelpreis, soviel begriff sie noch, schien eine wichtige Sache zu sein - wie wichtig, blieb ihr schleierhaft. Überdies litt Camus' Onkel, der Bruder der Mutter, unter einer Sprechbehinderung. Und aus dieser Brut, aus diesem Pool vermeintlich minderwertiger Gene, entstammt ein Literaturnobelpreisträger? Wie soll das zusammengehen, wenn Intelligenz nur das Produkt intelligenter Erzeuger sein soll?

Und bei all diesem Gerede um Intelligenz ein kurzer Einwurf, denn es ist noch nicht einmal geklärt, was intelligent bedeuten soll. Die Intelligenz Zusammenhänge zu verstehen? Zu wissen, wo man günstig einkaufen kann? Die Intelligenz Arbeit zu haben? Oder etwa die emotionale Intelligenz, die für potenzielle Eltern nicht ganz uninteressant wäre? Intelligenz ist ein menschlicher Ausdruck, man könnte fast behaupten, ein zivilisatorischer Aspekt, der sich in einem von Naturalismus oder genauer: vom Evolutionismus geprägten Weltbild nur mühevoll einbetten läßt. Und Sarrazins humangenetischer Ausruf ist ja so ein evolutionärer Ansatz, der freilich auch nur auf Halbwissen baut - eine idiotische Annahme letztlich, wenn man nochmals den ursprünglichen Gehalt des idiota aufgreift. Die Evolution fragt nicht nach Intelligenz - sie fragt gar nicht, kann nicht fragen; aber lassen wir es der Veranschaulichung halber mal so stehen. Sie fragt nicht wie intelligent etwas ist, sie "interessiert" - auch das lassen wir vereinfachend so stehen! - sich für Überlebensstrategien - dumm zu sein, könnte man demnach mit evolutionärer Kaltschnäuzigkeit sagen, ist auch eine mögliche Strategie. Man denke nur an den braven Soldaten Schwejk, wie er sich blöde durch die Wirren des Krieges lotst, ihn überlebt, während besonders intelligente junge Männer, Akademiker und Dichter zum Beispiel, im Niemandsland zwischen den Fronten verbluteten. Anzumerken ist freilich auch, dass Dummheit ebenso ein Begriff aus der menschlichen Wahrnehmung und Bewertungsneigung ist und keinen natürlichen Anspruch erheben kann. Das vermeintlich dumme Huhn ist nur in Augen des Menschen dumm - dass dieses Geflügel noch als Spezies existiert, bedeutet nämlich vorallem, dass es sich so falsch im Laufe der Jahrtausende nicht benommen haben kann.
Wie auch immer, Sarrazin definiert nicht, was für ihn "intelligentere Frauen" sind - es bleibt vage und man kann mit etwas Phantasie annehmen - man kennt Sarrazin mittlerweile gut genug! -, dass er den Aspekt des beruflichen Erfolges mit der Intelligenz verquickt. Das wäre wieder nur eine einseitige Sichtweise, wiederum nicht besonders intelligent, aber wie gesagt, man kennt Sarrazin mittlerweile gut genug.

Doch zurück zur genetischen Vorbedingung. Natürlich beeinflussen Allele die "Zusammenstellung des Menschen", bedingen Haar- und Hautfarbe, aber auch die chemische, laienhaft ausgedrückt: die innerkörperliche Befindlichkeit, Hormonausschüttungen beispielsweise. Aber das wäre als Prägestempel unzureichend, denn der Mensch ist ein wahrnehmendes Wesen, bewegt sich in einer Umwelt, die Einflüsse auf ihn abwirft. Die durchschnittliche Volksintelligenz, um mit Sarrazin zu reden, richtet sich deshalb nicht nach dem Sexual- und Fortpflanzungsverhalten intelligenterer Menschen: sie orientiert sich viel stärker an dem, was die Umwelt zur Schaffung von Intelligenz bereithält. Eindrücke und Impressionen, die sich aufdrängen, sind maßgeblicher. Bildungsangebote, Förderverhalten, das Verhältnis einer Gesellschaft zu Wissen und Bildung generell, ob man salopp gesprochen, Bildung sexy findet - und es ist wesentlich, ob beispielsweise ein Mentor sich für einen noch formbaren jungen Menschen verantwortlich fühlt, ihn anleitet, hilft, motiviert. Die Intelligenz eines Menschen wird somit nicht im Schlafgemach gezeugt, nicht ausschließlich - sie bildet sich, formt sich im Werdegang des Heranwachsens. Auch das Kind vermeintlich kluger Eltern - das, was wir als klug erachten! - kann in Dummheit ertrinken, wenn es nicht gefördert wird. Genetisch vorgeformte Intelligenz, wenn es dergleichen überhaupt geben mag, verkümmert traurig, wenn sie nicht gefordert wird. Natürlich sind Erbanlagen nicht bedeutungslos, der Mensch ist nicht gänzlich tabula rasa - sie sind aber auch nicht derart absolutistisch, als dass sie ein ganzes Leben vorzeichnen könnten, als dass man den "intelligenten Menschen" züchten könnte.

Hätten solche, die wie Sarrazin vom "guten Geschlecht", also vom eu-genos, schwatzen, die Familie Camus' unter ihrer Fuchtel gehabt: sie hätten dem Nachwuchs als Rat in die Wiege gelegt, nicht zu weit hinaus zu wollen - es würde ja doch nur in Tränen enden, weil die geistige Kraft für mehr nicht gegeben wäre. Es handelt sich dabei nicht nur um Halbbildung, um gefährliche Tendenzen, an denen Sarrazin und einige seine Kollegen aus dem soziologischen Fach fleißig basteln - die falsche Auslegung der Humangenetik ist auch ein Unterdrückungsmittel, ein Instrument zur Kleinhaltung und zum Sozial- und Bildungsabbau. weil sie den Menschen vorab mit auf den Weg gibt, dass sich Engagement und Bildung nur wenig lohnen würde. Hier bauen jene "soziologischen" Lehren auf, die die Bildung für Unterschichten auf das Notwendige reduzieren wollen, weil sie ohnehin wenig brächte. Für was mit Textaufgaben und Aufsätzen quälen, wenn denen die Dummheit doch eh im Blut liegt? Ein negatives Menschenbild avanciert in die gesellschaftliche Mitte, ein Menschenbild, in dem der Mensch ein vorgezeichnetes Schicksal erhält, kafkaesk in seiner Bestimmung gefangen ist.

Letztlich muß man Sarrazin allerdings beipflichten: Deutschland wird immer dümmer! Denn es ist unbestritten: je mehr solcher Halbwahrheiten, solcher Idiotien publiziert werden, desto mehr Dummheit macht sich breit. Und es ist zu befürchten, dass mehr solcher "Erkenntnisse" veröffentlicht werden in den nächsten Jahren - der Schoß feuchtet sehr zurzeit. Denn wie schreibt Sarrazin: "Es war tabu..." - leider ist es nicht mehr tabu; er ist nun ausreichend mutig, durch den öffentlichen und journalistischen Zuspruch der letzten Jahre, dass er ganz siegessicher den Tabubrecher geben darf. Und Deutschland wird dümmer, weil solche Aussagen nicht mehr tabu sind, weil der Laie, der halbgebildete Mensch, der Idiot ein Forum erhält.



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Nomen non est omen

Mittwoch, 25. August 2010

Heute: "Coaching"
"Ich bin ja schon lange nicht mehr revolutionär unterwegs. Ich bin Aufklärer. Ich will, die Fackel der Wahrheit in die Menge tragen. […] Jeder Coach wird sich mit der Zeit seine zu ihm passende Klientenpopulation heraus korrespondieren."
- Dr. Wolfgang Looss, Begründer der deutschen Coaching-Szene am 23. April 2009 auf coaching-report.de -
Als Coaching versteht man eine personen-, prozess- und organisationsbezogene Beratung. Die Kombination aus individueller Beratung, persönlichem Feedback und praxisorientiertem Training, soll die Problemlösungs- und Konfliktfähigkeit der Coachees (die, die gecoacht werden) stärken. Nicht selten wird das coachen, auch als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden.

Eine eindeutige Definition was Coaching genau sei, gibt es nicht. Drei grobe Formen des Coachings lassen sich unterscheiden: das Langzeit-Coaching, das thematisch-umschriebene Coaching und das Krisen-Coaching. Coacher sollen beraten, unterstützen, motivieren, schulen, begleiten und viel nachfragen. Die Abgrenzung zum Erzieher, Berater, Therapeuten und Trainer sind hierbei fließend und schwammig. Coaches sind zudem eher ziel- und erfolgsorientiert. Ähnlich wie Unternehmensberater werden aber auch Coacher nicht nach Leistung bezahlt.

Ähnlich wie bei dem Begriff des Managements, wird heute alles und jeder gecoacht. Seien es Team-, Bewerbungs-, Unternehmer-, Fitness- oder Familiencoaches. Selbst Babys können gecoacht werden. Auch Fallmanager der ARGE, Arbeitsvermittler und Berufsberater werden als Coaches bezeichnet. Die Beratungs- und Erziehungswut kennt hierbei keine Grenzen. Coaching ist ein weit dehnbares Gummiwort, das positiv konnotiert ist.

Dabei sind Coaches nicht selten der verlängerte Arm eines Unternehmens. Unbequeme Entscheidungen, wie Entlassungen werden auf die Verantwortung eines Coaches abgewälzt, der nach einigen Sitzungen eh wieder verschwunden ist – mit seinem Honorar versteht sich. Ein ähnliches Prinzip wie wir es bei den Unternehmensberatern kennen: das Outsourcen der Unternehmensverantwortung auf externe Kräfte. Auch die scheinbare Neutralität und die Moderatorfunktion des Coachers lösen sich schnell in Luft auf, wenn man bedenkt, von wem sie bezahlt werden.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Hinter dem Hochglanzprojekt

Montag, 23. August 2010

Ein - von Roberto J. De Lapuente redigierter - Erfahrungsbericht und Gastbeitrag zum Thema Bürgerarbeit.

Die Ingolstädter Öffentlichkeit ist seit Wochen aus dem Häuschen: die oberbayerische Großstadt wurde zum Modellstandort für die Bürgerarbeit gekürt und darf ab 2011 vom Bund losgeeiste Gelder zur Finanzierung etwaiger Bürgerarbeitsplätze verwerten. Natürlich überschlägt man sich in den Berichten und Kommentaren, in Interviews und Analysen; etwas wie Aufbruchsstimmung breitet sich aus, endlich dürfe man ein imposantes Projekt initiieren. Eine Chance für Langzeitarbeitslose sei das, hier zeige sich der aktivierende Sozialstaat - darüber geben die wenigen Ingolstädter Medien ein gleichgeschaltetes Erscheinungsbild ab. Bürgerarbeit ist modern und fabelhaft, etwas das man erfinden müsste, wenn es nicht schon erfunden wäre.

Es entstand nebenher der Eindruck, als wäre aus dem hiesigen Jobcenter ein Hort des Lächelns und der Glückseligkeit entsprossen. Eine Stätte, in der man mit Langzeitarbeitslosen endlich etwas behutsamer, verständnisvoller, kurz gesagt: menschlicher umgehe. Da meine es jemand richtig gut mit den Leistungsempfängern, war zwischen allen Zeilen herauslesbar. Bürgerarbeit: der große, sanftmütige, sorgsame Wurf! Der Ein-Euro-Job, dieses entwürdigende Instrument zum Statistiklifting, sei quasi tot - es lebe das gerechtere Modell: die Bürgerarbeit von der Leyens! Der gute Ruf ist indes kein Zufallsprodukt, denn auf genau so ein poliertes, gewienertes Image ist man angewiesen, um diesen aufgemotzten Ein-Euro-Job, der mit allerlei für die Öffentlichkeit unsichtbaren Schikanen verbunden ist, ins rechte Licht zu rücken.

Tritt man aber dann ein in jene Informationsveranstaltung, die durch Einladung nebst Rechtsfolgebelehrung anberaumt wurde, erscheint man also dann am Ort des Geschehens, in der Cafeteria des Jobcenters nämlich, so ist von der Hochglanzfassade wenig übrig. Referenten nehmen einen in Empfang, Leute, die das Leid dieser Welt, und ihres Berufstandes im Besonderen, in grantige Gesichtsfurchen zu tragen scheinen. Mit arroganter Miene werden Anwesenheitslisten gefüllt und Teilnehmer auf Plätze verwiesen. Der menschelnde Sozialstaat tritt zurück, um knallharten Fakten Raum zu verleihen, die der Öffentlichkeit entweder gar nicht oder nur verfälscht mitgeteilt wurden. Das schöne Äußere bröckelt, wenn man hinter Schulbänken lümmelt, um von zwei Herrschaften, die bislang niemals in die Bredouille der Arbeitslosigkeit, des Wertloswerdens geraten sind, erklärt zu bekommen, was Bürgerarbeit für den Erwerbslosen konkret heiße, wie die eigene kurzfristige Zukunft aussehen werde.

Im Vorfeld zur Bürgerarbeit, während der sogenannten Aktivierungsphase, belehrte man das Publikum, müsse sich rege beworben werden. Kein neuer Erkenntnisgewinn - das regeln Eingliederungsvereinbarungen, regelt damit das SGB II, in dem von solchen Vereinbarungen salbadert wird, schon heute. Und um Kunden des Jobcenters, die schon seit Jahren nur auf der Couch sitzen um dem TV-Programm zu frönen - nein, das ist keine Flapsigkeit, so hieß es wortwörtlich! -, wieder Initiative einzuflößen, böte man außerdem unentgeltliche Praktika an. Vier Wochen lang treibe man dort den Müßiggang aus den müden Knochen.
Alleinstehende Erwerbslose haben sich überdies, ganz gleich wie alt sie sind, fortan bundesweit zu bewerben. Auf Ingolstadt alleine könne die Suche für diese Klientel nicht mehr beschränkt bleiben, hieß man die stutzige Zuhörerschaft. Auf Schautafeln mahnte man Flexibilität an, drängte man zur Bereitschaft, auch landesweit nach Stellen zu forschen. Denn die allerletzte Option sei die Bürgerarbeit, die nur jene zugeteilt bekämen, die nicht im regulären Arbeitsmarkt eingegliedert werden könnten.
Und erst einmal in Bürgerarbeit, erläuterte man letztlich, würde eine stetige Begutachtung des Kunden stattfinden. Wirkt er mit, engagiert er sich, zeigt er guten Willen? Die Androhung folgte stante pede: sollte die Mitwirkungsbereitschaft dann fehlen, sollte der persönliche Arbeitsvermittler Rügen seitens des Arbeitgebers mitgeteilt bekommen, so drohen Sanktionen. Überhaupt stünde man dann in noch engerem Verhältnis zu seinem Vermittler - der in der Öffentlichkeit angepriesene Motivationstrainer existiert nicht als solcher, er ist niemand anderes als der Arbeitsvermittler, den man bisher sowieso schon aufsuchen musste. Überhaupt werden Eingliederungsvereinbarungen auch weiterhin abgeschlossen - auch der Bürgerarbeiter muß regelmäßig seine Bewerbungsbemühungen nachweisen. Die wöchentliche Arbeitszeit, erfährt man ganz nebenbei, betrage zwischen 30 und 40 Stunden - von den der Öffentlichkeit genannten 20 bis 30 Wochenarbeitsstunden wollten die Referenten nichts wissen. So wie vom zu erwartenden Arbeitslohn auch - auch da wusste man nichts Konkretes zu erzählen. Mit gekonnter Schnodderigkeit beschlossen die Referenten die Runde, nicht ohne vorher noch Einladungen für den Folgetag auszuteilen - nebst Rechtsfolgebelehrung selbstredend. Schließlich habe die Aktivierungsphase umgehend anzulaufen!

Das ist also das moderne Antlitz der Bürgerarbeit! Arbeitslose, die man bundesweit vermitteln will, die man aus ihrem sozialen Umfeld rausreißen würde, weg von ihrer Familie, von Freunden, von der Heimat. Sanktionsandrohungen schon im Vorfeld, bevor man überhaupt in der Bürgerarbeit steckt. Die Furcht vor Repressalien wird zum behördlichen Mittel, zum Verwaltungsakt geradezu. Es muckt schon keiner auf, wenn man ganz schamlos von auf der Couch lümmelnden TV-Guckern spricht, anstatt von Beziehern von ALG II - da hockt das Häufchen Arbeitsloser zusammen und muß es erdulden, mit Stereotypen und Vorurteilen belegt zu werden. Man darf wahrscheinlich noch froh sein, dass der clementinische Wortschatz nicht bemüht, dass also nicht von Parasiten und Schmarotzern gesprochen wird. Potenziellen Bürgerarbeitern stellt man in Aussicht, bei etwaigen Ärgernissen, die dann und wann in jedem Arbeitsverhältnis auftreten können, die Klappe zu halten, um nicht sanktioniert zu werden - ein Bürgerarbeiter darf sich keinen Gerechtigkeitssinn leisten, Selbstvertrauen schon gar nicht. Denn das könnte ihm eine dreimonatige Sperre einhandeln. Mund halten und erdulden! Und abends Bewerbungen schreiben, obwohl das aussichtslos ist, denn genau das ist ja der Grund, warum man in der Bürgerarbeit landete: weil am regulären Arbeitsmarkt nichts ging!

Von der Leyens Konzept muß als gewaltige Gängelungsmaßnahme begriffen werden - in den Kommunen finden sich zweifelsfrei willfährige Helfer. Das moderne, fürsorgliche Sozialstaatskonzept, das von der Leyen persönlich wie anhand der Bürgerarbeit versinnbildlichen will, ist nichts weiter, als die Enthemmung letzter Barrieren, als die Anfachung von Sanktionswut, als Spurt-er-oder-spurt-er-nicht?-Gesinnungsschnüffelei! All das wird der Öffentlichkeit, die naiverweise in der Bürgerarbeit eine Chance für eigentlich Chancenlose wittert, vorenthalten - sie darf nicht wissen, wie man Erwerbslosen die Bürgerarbeit "schmackhaft" macht. Sie darf auf keinen Fall erfahren, durch welche Mittel der hohe Krankenstand bei Arbeitslosen zustandekommt. Durch Verängstigung nämlich, durch das Verursachen kafkaesker Aussichtslosigkeit, wie jener, bald drei Jahre unter vollen Rechtfertigungsdruck zu stehen - selbst im "Berufsleben". Und durch die Verschärfung despektierlichen Benehmens natürlich!

Die Bürgerarbeit ist tatsächlich eine Chance: eine Chance, Arbeitslose weiter in die Enge zu treiben...

Derjenige, der diese Erfahrung machen mußte und sie mir zur Aufarbeitung reichte, bittet indes darum, anonym zu bleiben.



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An Huren fehlt es!

Samstag, 21. August 2010

Das Wehgeschrei ist nun schallend, weil die Spendenwilligkeit im Falle des pakistanischen Hochwassers nur sehr gering ausgeprägt ist. Auf generöse Zeiten wird verwiesen - auf die schlechten alten Zeiten, in denen noch freimütig gegeben wurde. Schlechte alte Zeiten, die für Spendensammler gute alte Zeiten waren. Damals wars, als ein Seebeben den Indischen Ozean überschwappen und die Länder der westlichen Hemisphäre großzügig spenden ließ. Besonders Thailand hat es der damaligen deutschen Berichterstattung angetan - so ein wundervolles, schönwettriges, mit allen Vorzügen der Natur gesegnetes Touristenparadies, jetzt unter Schlamm begraben: da könne man doch nicht nur zusehen! Da müsse man handeln! Etwas tun! Etwas spenden!

Und genau hier lag der Hund, naja, eher die schöne Urlaubserinnerung, unter Schlamm begraben: Thailand hatte etwas zu bieten. Strände, Wälder, prächtige Paläste, noch prächtigere Hotelanlagen, dazu noch nette, stets lächelnde Eingeborene, hilfsbereites Hotelpersonal, flinke Masseurinnen - und natürlich nicht zu vergessen, die eigentlichen Starlets jedes profunden Thailandurlaubs: transsexuelle Stricherinnen und Mädchenhuren. Und all das, mit Ausnahme von Wäldern und historischen Prunkbauten vielleicht, wurde entschädigt und wiederaufgebaut. Touristenherz was willst du mehr! Ob nun Fischer Somchais Hütte oder Zimmermädchen Panyas Küche instandgesetzt wurde, war weniger bedeutungsvoll. Denn strömten erst wieder Touristen an siamesische Gestade, würden auch Hütten, Küchen, Fischerboote wieder aus dem Schlamm geschält: mit freundlichen Grüßen von Adam Smith! Denn so wirkt seine unsichtbare Hand...

Pakistan krankt nicht alleine an der Sintflut; es ist unpässlich, weil es an vorsintflutlicher Reputation leidet. Bettlägrig harrt man der Spenden, die nicht eintreffen wollen - wobei Bettlägrigkeit gerade das ist, was westliche Touristenlenden gerne spürten. Bettlägrig in wohligen Decken, bettlägrig entblättert, bettlägrig zwischen zwei Huren! Wer dergleichen garantiert, der sichert sich Spendenbereitschaft, wenn das Bettidyll einmal unter Wasser steht. Pakistan mangelt es an Mädchenhuren, an Transsexuellen, an gefügigen Sexgesinde - an Stränden und devot lächelndem All-inclusive-Personal natürlich auch. Ein mieses Image zeichnet die islamische Republik aus: Wüste, Dürre, bärtige Männer mit dunklem Teint, verschleierte Damen - so gewinnt man keine Freunde in einer genusssüchtigen Welt. Und obendrein ist man noch Atommacht! Nur: wo sind die Puffs? Die Peepshows? Man kann dort vielleicht dreizehnjährige Mädchen ehelichen - der einschlägige Tourist aus industriestaalichen Gefilden heiratet aber nicht; meist ist er das zuhause ohnehin schon. Er will keine Mädchen heiraten, er will sie... genau das!

Warum sollten Spendengalas das abendliche Schnitzel vermiesen? Was hätte der hiesige Bürger davon? Kann er in Pakistan urlauben? Faul am Strand flacken? Kann er dort seine sexuellen Neigungen befriedigen? Ausleben, was hier verboten ist? Nein, kann er nicht! Das ist es ja grad! Es war doch ein einwandfreies Arrangement, was die Industriestaaten mit dem Rest der Welt getroffen hatten. Die Leistungsträger dieser Erde würden ihre Urlaubsarmeen dorthin schicken, wo die Minderleister, ungerechterweise mit erlesen schönen Plätzchen von der Natur beschenkt, ihr Leben fristen. So würden sich auch jene einen Stellenwert schaffen, würden eine legitime Anstellung auf einem Erdenrund des Handels und der Geschäftemacherei einnehmen. Thailand hat das perfekt umgesetzt - und das gehörte seinerzeit belohnt. Dort konnten Sexurlaube gebucht werden, damit dem westlichen Gesellschaften ein Ventil geboten würde; allerlei Perversitäten waren irgendwo in Asien kanalisiert - und sind es mittlerweile wieder: Spenden sei dank! Aber natürlich sind nicht alle Gäste so - aber alle kennen wir welche, die von geilen Thaimietzen nur so schwärmen!

Sicher, man spendet, weil man Menschen in Not helfen möchte. Das ist die oberflächliche Definition von Spendenbereitschaft. Aber man ist um so vieles bereiter, wenn der Empfänger sympathische Züge aufweist. Die Spende ist nie Selbstzweck, sie will Gegenleistung. Offiziell nicht; offiziell gilt die oben genannte Definition. Doch man geht mit mehr Freude ans Spendenwerk, wenn potenzielle Empfänger gute alte Urlaubsbekanntschaften sind, Orte und Menschen, die man kannte, die man kennen könnte, wenn man dort mal gewesen wäre - nur war man eben bislang nie in Thailand. Dafür in Kenia, in der Dominikanischen Republik - in den anderen Fernreisezielen, die sich so rührend um die deutschen Touristen kümmern. Um die europäischen Touristen generell - Houellebecq beschreibt in seinem Buch "Plattform" ja den französischen Touristen, der dem deutschen Exemplar derart aus dem Gesicht geschnitten scheint, dass man von einer europäischen Gattung sprechen muß, wenn nicht gar von einer westlichen Spezies, die auch über dem Nordatlantik heimisch ist. Für Thailand wurde nicht nur weitherzig gegeben, weil es des homo touristicus' Terrain war. Es war nur sein potenzielles Terrain - ein mögliches zukünftiges Ziel, eine asiatische Spielart seines sonstigen Urlaubsdomizils in Afrika oder in der Karibik.

Wie soll Pakistan da konkurrieren? Der Spendenmarkt ist begrenzt - es ist nicht für jeden ausreichend Freimütigkeit vorhanden. Will man dort erfolgreich sein, braucht es mehr als die pure Not: man braucht Hotelmeilen, devotes Personal, leidenschaftlich Orgasmen vortäuschende Huren - davon ist Pakistan meilenweit entfernt. Da ist man wahrlich noch vorsintflutlich! Und das mitten im Hochwasser! Man muß sich schon anstrengen, will man von den reichen Ländern der Erde Unterstützung; man muß etwas bieten können. Hunger und Obdachlosigkeit, Krankheit und Tod, Witwen und Waisen beunruhigen zwar: aber das alleine ist immer noch zu dürftig. Was, wenn morgen ein Elysium des Urlaubs im Elend versinkt? Was, wenn morgen Bali brennt oder Djerba versinkt? Dann hat man das schöne Spendengeld nach Pakistan verfrachtet und muß erdulden, dass für wahrlich nutzvollere Orte die Mittel knapp sind. Das kann der deutsche Spender, der gleichermaßen Tourist ist - sich wenigstens als solcher wähnen könnte, wenn er mal wieder mehr Geld hätte, um einer zu werden -, niemals verantworten.

Pakistan, so wie schon andere unattraktive Katastrophengebiete, muß zurückstehen - wäre man beliebtes Reiseziel: ja dann! Säumten Huren die Promenaden Karatschis: ja dann! Stünde nicht Moschee neben Koranschule neben Moschee, sondern Puff an Puff: ja dann! Träumte hierzulande mancher von flotten Dreiern oder Genitalmassagen auf pakistanischen Hotelzimmern: ja dann! Dann wäre die Spendenbereitschaft angefacht, dann gäbe es Galas, dann gäbe es prominente Fürsprecher... dann wäre Pakistan im Herzen der westlichen Welt angelangt.



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Die Infantilisierung der Volksverhetzung

Freitag, 20. August 2010

Kinder sind manchmal grausam. Und grausam ist jene elterliche Gesinnung, die diese kindliche Grausamkeit unterstützt, im Anflug von Laissez-faire-Pädagogik sogar für wertvoll erachtet. Eine Erziehungsmethode, die es stets in der einen oder anderen Form gab, die aber heute in ihrem Gewährenlassen oft tyrannische Züge annimmt - und das unterstützt und gewollt von den Eltern selbst. Ellenbogen anspitzen, sie einzusetzen lernen, gehört heute zum guten Ton bürgerlicher Kindeserziehung - sie müssen sich ja durchzusetzen wissen, die lieben Kleinen. Unbestritten ist das recht und billig: die dazugehörige Rücksichtslosigkeit gegen Wehrlose, gegen Schwächere, wäre damit aber eigentlich nicht gemeint. Dem entgegenzuwirken wäre der Auftrag einer aufgeklärten Pädagogik, die Bestimmung von Eltern und Lehrern, von Gesellschaft und Staat.

Kinder zu lehren, dass man sich durchsetzen muß, dass der Rechtsstaat Mittel kennt, einer Ungerechtigkeit nachhaltig zu begegnen; einfach auch mal Nein sagen zu lernen, Courage zu zeigen, sich selbstbestimmt zu verweigern, ohne erst auf Befugnisse und Anordnungen zu blicken: all das beinhaltet aufgeklärte Erziehungsarbeit. Seine Ellenbogen dann auch mal einzufahren, gerade bei solchen, die sich kaum wehren können, geriete dabei zur Selbstverständlichkeit. In einem solchen Klima könnte die als Nebenprodukt kultureller Teilhabe anfallende Brandmarkung einer Gesellschaftschicht, wenn schon nicht bedingungslos anerkannt, so doch zähneknirschend erduldet werden. Dort gefiele es zwar nicht jeden, dass Kinder aus Bedarfsgemeinschaften, vulgär Hartz IV-Kinder genannt, mit Bildungs-Chips ausgestattet würden, aber man hätte wenigstens die Gewissheit, dass solche Kinder nicht dem Spott anheimfielen, in eine Atmosphäre allgemeinen Verständnisses stolperten.

Wie gesagt, Kinder sind grausam - und anwachsend ist die Zahl solcher Eltern, die ihre Kinder zur Grausamkeit ermuntern. Setz dich durch!, rufen sie ihrem Nachwuchs zu. Trau dich! Hau auf den Tisch! Bis hierher wäre alles in bester Ordnung - das kann man meist unterstützen, muß man sogar, wenn man aufgeklärte Menschen formen möchte. Doch oft, viel zu oft, hört man auch: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern! Auf dieser Unverschämtheit gründet manches pädagogische Weltbild, gründet die Ablehnung neuer Schulmodelle - man denke nur an Hamburg. Du bist besser als die da! Bring uns so einen nicht heim! Kleinwüchsige Tyrannen werden da gezüchtet, Diktatoren des Schulhofes! In vielen Bundesländern könnte man sich damit trösten, dass der Kindersegen solcher snobistischen Familien bald schon vom hauptschulischen Schulhof verschwindet, um höheren Schulen seine Aufwartung zu machen. Gerade in höheren Gesellschaftschichten und in den wohlhabenderen Segmenten dessen, was man vereinfachend Mittelschicht nennt, geht eine Saat auf, die die Egomanie fördert und diese für den Antrieb des gesamten wirtschaftlichen, ja gesellschaftlichen Lebens erachtet. Ein pragmatischer Utilitarismus der kundtut, dass jeder auf sich selbst zu achten habe, wenn die Gesellschaft funktionieren soll - kümmert euch nicht um die Schwachen, um die Wehrlosen, sie behindern nur den Ablauf! Jeder schaut auf sich!, war schon der arg verkürzte, blinde Wahlspruch klassischer Utilitaristen. Jeder schaut auf sich und drängt zur Seite wen er nur kann!, ist die heutige rücksichtslose Erweiterung jener Losung. In so einem Milieu Kinder zu brandmarken, sie - metaphorisch gesprochen - mit kennzeichnender Armbinde auszustatten, ist kein Akt von kultureller Teilhabe, von aufgeklärter Politik, von Nächstenliebe gar - es ist die Infantilisierung allgemeinen Kesseltreibens, öffentlicher Hetzjagd gegen die Unterschicht, wie wir es aus den Gazetten, aus dem Fernsehen, vom Stammtisch her schon kennen.

Was hier manifest wird, ist die nächstenliebende Fassade, mit der diese Gesellschaft immer zielgerichteter Menschen den aufgehetzten Ressentiments der gesellschaftlichen Mitte und der Bessergestellten ausliefert. Man überstellt Kinder den Schmähungen und Lästerungen, den Erniedrigungen und Kränkungen ihrer Altersgenossen. Warum zahlt deine Mama alles mit Asi-Card? Man züchtet sich zwei Klassen Bürger heran: diejenigen, die schon von Kindesbeinen an lernten, dass der Spott gegen gut beschilderte Schwache Volkssport ist - und jene, die seit Anbeginn ihres Erinnerungsvermögens wissen, dass sie zum Gerümpel, zu beschimpfenswerten Inventar dieser Gesellschaft gehören; einer Gesellschaft, die Teilhabe mit Brandmarkung gleichsetzt. Der Bildungs-Chip, der eben nicht nur Museumsangestellten oder Vereinsmeiern sichtbar macht, dass das Kind ein Hartz-Sproß ist, er wird obendrein den Kindern aus anderen Gesellschaftsschichten sichtbar: er ist ein Anschlag auf die Würde des Kindes - ferner auch auf die Würde der Eltern, die ohnehin dem Bescheid entnehmen können, dass ihr Kind, dessen Kindergeld voll angerechnet wird und für dessen erstes Lebensjahr sie zukünftig nicht einmal mehr Elterngeld erhalten werden, einen Minderwert besitzt.

Man hat den Kindern der Unterschicht systematisch die Würde entzogen - der Bildungs-Chip ist die dazugehörige Kennzeichnung, die Krone dieses Vorgangs. Von der Leyen, die sich gerne als Mutter der Nation aufspielt, müsste es besser wissen - sie müsste als Mutter wissen, zu welcher Grausamkeit Kinder neigen können. Davor müsste sie Kinder eigentlich bewahren wollen. Drückt das Sozialministerium unter ihrer Ägide diesen Kindern ihr Hoheitszeichen in Form dieser Karte auf, ist das nicht nur ein Kavaliersdelikt: es ist der Leitfaden, der bereitete Einstieg in den Pogrom, speist Volksverhetzung - es ist, man muß es ruhig so sagen: ein krimineller Akt!



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Sit venia verbo

Donnerstag, 19. August 2010

"Ich habe kein Heimweh. Ich habe gelernt, daß das, was Heimat, was Vaterland sein sollte, eingepökelt und in Aktenmappen eingeheftet ist, daß es in Gestalt von Staatsbeamten repräsentiert wird, die einem das treue Heimatgefühl so sicher austreiben, daß nicht eine Spur davon mehr übrigbleibt. Wo meine Heimat ist? Da, wo mich niemand stört, niemand wissen will, wer ich bin, niemand wissen will, was ich tu’, niemand wissen will, woher ich gekommen bin, da ist meine Heimat, da ist mein Vaterland."
- B. Traven, "Das Totenschiff" -

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Alle Menschen sind gleich...

Mittwoch, 18. August 2010

Alle Menschen sind gleich, niemand darf benachteiligt oder bevorzugt werden – das Grundgesetz macht es möglich. Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben und Weltanschauung, Behinderung: nichts von dem dürfe zu ungleicher Behandlung führen. Jedenfalls steht es so auf dem Papier. Was man in der Aufzählung jedoch vermissen muß, das ist die eigentliche, die typisch kapitalistische Ausformung von Ungleichheit, das Fundament kapitalistischer Denkart, könnte man fast sagen: ob jemand Arbeit hat oder nicht!

Das ist beileibe kein nebensächliches Defizit des Grundgesetzes. Man beachte nur die Klänge, die aus dem medialen Äther tröpfeln. Da betrieb doch kürzlich ein bayerischer Innenminister befremdliche Auslesen, sprach von Zuwanderern, die man auch gebrauchen müsse, wenn man sie schon ins Land hineinließe. Das muß man sich schon auf der Zunge zergehen lassen: Gebrauchen! Etwa wie einen Schuh oder eine Tube Zahnpasta? Und was dem Schnabel des ehemaligen Berliner Senators entfleucht, damals als er von für den Arbeitsmarkt nutzlosen Kopftuchproduzenten sprach, ist ja beinahe schon das alltägliche Geschwätz deutscher Feuilletons. Hin und wieder erntet er für seine knorrigen Auslassungen Schelte, was prominente Zeitgenossen der Publizistik dazu ermuntert, ihm pflichtschuldigst beizuspringen. Wie neulich erst der Chefredakteur des Focus, der außerordentlich besorgt und beachtenswert erzürnt darüber war, daß da jemand nur dafür Ärger erhalte, weil er die Wahrheit formuliere. Freilich findet sich in diesem Geschwader erlauchter Verwertbarkeitsrhetoriker auch die Soziologie mit ein, die manchen namhaften Vertreter ins Gefecht schickt. Diese räsonieren dann im wissenschaftlichen Duktus darüber, ob es denn vielleicht möglich sei, daß in diesem Lande die falschen Leute Kinder bekämen. Eine scheue Fragenstellung, die die diversen Soziologen umgehend selbst beantworten – das wäre ja auch kein gescheiter Soziologe, kennte er keine unverbrüchliche Antwort!

Diese und weitere Zeitgenossen sind gar nicht so sehr Auswüchse einer nationalen Stammtischkultur, wie man etwas optimistisch vielleicht annehmen möchte. Sie sind vielmehr die Avantgarde einen selektiven Gedankens, der spätestens seitdem die Konkurrenz der Systeme zur Fußnote der Historie wurde, ungeniert zur vollen Entladung kam. Der Faschismus, so unkten manche, und tun es noch immer, sei letztlich die Perversion des Kapitalismus gewesen – aber man könnte dies auch bedenkenlos umdrehen und behaupten, daß der Kapitalismus zeitgenössischer Prägung eine überarbeitete, etwas kultivierter auftretende, wesentlich pragmatischere Abart der faschistischen Denkweise ist. Die selektive Essenz ist zweifelsohne erhalten geblieben, nur haben sich die Auswahlkriterien modifiziert. Es ist eher die Ausnahme im Lande politischer Korrektheit, daß jemand heutzutage aufgrund seiner Herkunft verunglimpft und ungleich behandelt wird; Frauen sind kein Anhängsel des Mannes mehr und weltanschauliche Fragen entscheiden nicht mehr über Gesellschaftszugehörigkeit – jedenfalls ist der Kapitalist in diesen Fragen ein Gleichmacher aus Leidenschaft; einige dumpfe Kahlköpfe, die Hitler für ihren Jesus halten, sind da natürlich anders gesittet. Der Kapitalist jedenfalls ist da wesentlich pragmatischer, bedeutend näher am Puls der Effizienz. Die aktuellen Machthaber in Wirtschaft und Politik – und zwar genau in dieser Reihenfolge! -, haben doch nichts gegen Ausländer und emanzipierte Frauen – sie dürfen nur nichts kosten, der Gesellschaft nicht auf der Tasche liegen, müssen Arbeit haben, sich als nützlich erweisen.

Jener Avantgardist dieses selektiven Grundgedankens, der früher einmal im Berliner Senat tätig war, jetzt im Bankenunwesen selbiges treibt, bringt diesen Gesichtspunkt ja meistens relativ deutlich zum Ausdruck. Der amtierende bayerische Innenminister machte es ihm kürzlich in derselben Deutlichkeit nach. Sie haben ja alle nichts gegen Ausländer: nur nützlich müssen sie sein, Arbeit haben, sich selbst rechnen. Emanzipierte Frauen sind auch toll: besonders, wenn sie sich selbst versorgen können. Moslems sind feine Leute, solange sie nicht auf dem Arbeitsamt katzbuckeln. Ausländerfeindlich oder gegen andere Kulturen seien sie mitnichten, entrüsten sich jene oben genannten Kreaturen des Effizienzprinzips dann bei entgegenschlagender Kritik – die eher selten vorkommt -, denn die Verwertbarkeit des Menschen im Produktionsablauf, gelte selbstverständlich auch für deutsche Bürger, für Frauen und Männer, für Religiöse und Atheisten – alle Menschen sind gleich: wenn sie nur Arbeit haben! Für sie ist letztlich die Frau dem Manne gleichwertig, und im idealen Falle gilt das sogar andersherum – nur Frau und Frau oder Mann und Mann sind eben nicht gleich, wenn das eine Exemplar Geschlechtsgenosse Erwerbsarbeit hat und das andere nicht.

Das Gleichheitsprinzip ist in Gefahr. Daß Menschen, die keine Arbeit mehr finden können, bereits heute despektierlich behandelt, als Schmarotzer ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt werden, kann kaum mehr ernsthaft bestritten werden. Gelegentlich vernimmt man dann sogar Vorschläge, bei denen es einen schaudern läßt, wenn schwelgerisch von eigenen Wohnvierteln oder Erziehungscamps für junge Arbeitslose phantasiert wird – der Schoß ist gewiss mehr als nur angefeuchtet, richtiggehend naß sogar. Weil in dieser ökonomisierten Welt immer mehr von Effektivität und Brauchbarkeit in Verbindung mit menschlichen Wesen gesprochen wird, weil der Mensch zuletzt zum Produktionsfaktor herabgestuft wurde, sollte diesem Bassin an überquellender Ungleichheit gesetzlich das Wasser abgegraben werden.

Wenn man dem Grundgesetz überhaupt noch ausreichend Vertrauen entgegenbringen möchte! Das ist ja heute nicht mehr unbedingt üblich. So könnte man dafür einstehen, Artikel 3 dahingehend zu verändern, auch – zynisch gesprochen! – die „ökonomische Verwertbarkeit“ mitaufzunehmen, was heißt, die Gleichheit von Arbeitenden und Arbeitslosen neben der Gleichheit der Geschlechter, Abstammung und so weiter einzureihen. Diese wäre dann, gelistet zwischen all den anderen Attributen, eine materielle Komponente, brechtisch intoniert: sie wäre das Fressen, alle anderen die Moral. Moral, die wenig kostet, die eher sogar was einbringt – doch jene vor ungleicher Behandlung zu schützen, die keine Arbeit haben, das könnte uns richtig teuer zu stehen kommen und nebenbei manchem Hetzer die Lebensgrundlage entziehen. Wir werden die Gleichheit zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen daher nie gesetzlich festlegen – und wir werden daher zukünftig ein Grundgesetz haben, daß zwar viele Gleichheiten gewährleistet, aber die wichtigste Frage der Zukunft, nämlich die Ungleichbehandlung ökonomisch nutzlos gewordener Menschen, stillschweigend übergeht.

Dieser Text erschien erstmals am 2. August 2010 im Blättchen.



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In eigener Sache

Dienstag, 17. August 2010

oder: wie angelt ein Millionär?

Endlichendlich Millionär! Noch nicht ganz, aber in einigen Stunden! Vom Tellerwäscher zum millionenfach besuchten Publizisten. Ja, ich bin nun Millionär: eine Million Besucher haben ad sinistram in knapp 32 Monaten aufgesucht - die werden sich ja nicht alle verlaufen haben, nehme ich an. Daher werte ich das als Auszeichnung. Eine Million Besucher, mancher davon sogar Leser, kühn gehofft: sogar regelmäßiger Leser. Ich bedanke mich herzlich!

So ein Millionär hat es schwer - überdies dann, wenn er gar kein pekuniärer Millionär ist. Nun habe ich mich kürzlich erst entschieden, von meiner Schreibe leben zu wollen, weniger optimistisch ausgedrückt: durch meine Klaue nicht sterben zu müssen. Mitnichten ein spielerisches Vorhaben! Dabei will ich nicht Millionär werden, Geldmillionär meine ich - Millionen Leser hätte ich aber, so unbescheiden bin ich dann doch nicht, schon gerne. Damit ich diese auch auf Dauer qualitativ befriedigen, mich der Schreiberei voll widmen kann, biete ich seit einigen Tagen - die regelmäßigen Leser werden es rechts, in der Seitenleiste unter dem Blog-Flattr bemerkt haben - die Möglichkeit einer Zuwendung, einer Spende an. Wer sich vor PayPal geniert, kann auf Nachfrage auch meine realen Kontodaten erfahren. Ich werde nicht Nein sagen. Für erwiesene und noch zugedachte Zuwendungen möchte ich mich schon jetzt - für schon erwiesene Zahlungen muß es heißen: erst jetzt! - bedanken.

Ein leidiges Thema, ich weiß. Einigen wird es nicht munden - wenn man sich aber entscheidet, mit der Schreiberei seinen Lebensunterhalt verdienen zu wollen, so neigt man zu jenem pikanten Thema. Heinrich Böll erklärte mal, dass es machen trösten mag, dass er möglicherweise Ewigkeitswerte schaffe. Ein Trost der unbenommen sei, so fährt er gefällig fort, solange er die sich organisierenden Schriftsteller nicht dabei hindere, sich im Hier und Heute Gedanken darüber zu machen, wie sie ihr Geld eigentlich verdienen. Das kann man so stehen lassen! Ewigkeitswerte sind wunderbar - wer ohne diese Absicht schreibt, wer die breite Öffentlichkeit mit seinen Werken nicht erreichen will, auch langfristig, sogar über den eigenen Tod hinaus, der hat seinen Auftrag verfehlt. Aber wenn er sich entscheidet, sein Leben diesem mehr oder minder vorhandenen Talent zu widmen, so soll er davon auch ein wenig zehren können. Reicht es nicht, dass seine Arbeit gemeinhin umsonst, also für die Katz' ist - muß es auch noch umsonst sein?

Ich hoffe auf Millionen. Millionen Leser. Eine weitere Million. Was würde ich mit einer Million Euro auch anfangen wollen? Das ist vermutlich das, was Böll als Ewigkeitswert bezeichnet: etwas hinterlassen zu haben, was viele Menschen erreicht hat und weiterhin irgendwie aktuell bleibt, sich in Zeitlosigkeit einreiht, ein Evergreen bleibt - wobei die Themen, die ich anreiße, weniger grün als grau sind, finde ich. Etwas zu schreiben, was seinen Weg in die Öffentlichkeit antritt, was Lob heraufbeschwört - man ist ja eitel; einen Schreiberling ohne Eitelkeit gibt es nicht. Flattr, Tantiemen aus Zweitnutzungsrechten, Provision für Bücherempfehlungen haben nichts mit dieser Eitelkeit zu tun - sie greifen sie nicht an, machen jene Eitelkeit, niemanden außer dem, was man für Wahrheit hält, verpflichtet zu sein, keinesfalls mürbe. Sie sind nur notwendiges Übel.

Auch als Millionär, Zugriffsmillionär, angelt man nach Einkünften, wenn man bei Kräften bleiben will. Ich würde meine Texte ja gerne gegen Semmeln oder Bratwürste eintauschen: nur fehlt es an Bäckern und Metzgern, die mit mir ins Geschäft kommen wollen. Daher Flattr, Tantiemen, Provisionen - daher sei dem gedankt, der auf mein Buch zurückgreift - daher schlussendlich die Möglichkeit, mir eine Zuwendung zukommen zu lassen. Sei es per PayPal, sei es konventionell nach Rückfrage bei mir: vielen Dank!



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In Plausch verkappte Produktplatzierung

Ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Netter Plausch, der keinem schaden, keinem übelwollen soll. Sendeformate wie jenes des MDR, Riverboat mit Namen, zielen auf angenehme Plauderei ab; ein wenig Information zu prominenten Gästen hier, Werbung für deren Bücher oder neue TV-Serien dort - und manchmal ist sogar spannender Besuch vorzeigbar. Buntscheckig war auch die letzte Runde, wo neben Schauspielern und einem Survival-Experten, die Koryphäen des unterirdischen Musikgeschmacks, die Amigos, gleich vis-a-vis der Koryphäe des flachen Feuilletons gegenübersaßen: Herrn Peter Hahne nämlich.

Bis hierher alles im Plan - so ist das eben gelegentlich; manchmal kommt die Runde nicht in Schwung, weil sie ein Qualitätsdefizit vorzuweisen hat. Kurios erscheint so eine Veranstaltung dann dennoch, wenn Schlagerheroen profunde Einblicke in ihr Herz und ihren Schmerz und ihrem obligatorischen Allerweltsschmalz gewähren oder Kolumnisten großer deutscher Sonntagszeitungen über vielerlei Themen fabulieren, von denen sie offensichtlich nichts verstehen, die sie aber dennoch behandeln, weil man sie eben explizit danach fragt. Ein nicht mal ansatzweise besonders nettes Schwätzchen gestaltete sich da am letzten Freitagabend. Hahne kam an die Reihe, er wie immer wortreich, sinnentleert, blumig, mit moralischem Zeigefinger schwenkend - und dann, als der Mann des leeren Wortes schloss: Auftritt Jan Hofer, der die traute Geselligkeit leitet.

Ein wichtiges Thema derzeit sei, so warf er Hahne vor die Lackschuhe, das Renteneintrittsalter. Die eine Partei wolle zurück zur Rente ab 65, die andere distanziere sich vor ihrer eigenen Entscheidung - wir haben, erklärte Hofer in journalistischer Ausformung, einen Experten befragt. Und schon bahnte sich ein Einspieler seines Weges. Die Rente mit 70, hieß ein Mittvierziger den Zusehern, sei ein optimistisches Zeichen - und freilich auch notwendig. Optimistisch sei sie, weil sie klarmacht, dass diese Gesellschaft über gesunde, einsatzkräftige Alte verfüge. Wir könnten mittlerweile auch Menschen jenseits der Sechzig medizinisch arbeitfähig halten. Mal abgesehen davon, dass eine solche Äußerung ganz schön unverschämt ist, weil hier Medizin als Wissenschaft zur Bewahrung der Arbeitsfähigkeit verstanden wird, so blieb doch vage, wer dieser Mann da eigentlich sei. Einen Namen nannte man, wurde eingeblendet: Michael Hüther.

Der Experte, er stammt aus dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft, das als Berater der Initiative Neue Sozialen Marktwirtschaft (INSM) und dem Roman Herzog Institut fungiert. Der Experte: ein Lobbyist! Aber davon keine Rede! Und wie er gekommen war, so verschwand er wieder. Hofer verlor kein Sterbenswörtchen mehr über diesen Einspieler und wandte sich zwei TV-Kommissaren zu, um mit denen über ihre Arbeit zu sprechen. Vergessen der kurze Einwurf zum Renteneintrittsalter - ein Einwurf, einfach so, ohne Bezug, ohne darauf eine Diskussion aufzubauen. Wieso der Einspieler, warum auf Hahnes Auslassungen, die sich mit Rente nicht befasst haben, diese kurze "Information" notwendig war, wurde nicht erläutert. Keiner aus der Runde fragte nach, es schien ihnen allen selbstverständlich.

So streut man sachte Botschaften aus, platziert neben den Schlager-Amigos, Kommissaren und Kolumnisten wirtschaftliche Aussagen, die einem breiten Publikum zugänglich werden. Mit dem Plausch selbst hatte Hüther nichts zu tun - aber so leise und unscheinbar, verkappt als unabhängiger Experte, Bulletins in die Öffentlichkeit zu werfen: dazu ist eine derart plauschige Runde und deren unbedarfte Zuseher exzellent geeignet. Wäre Hüthers frohe Kunde eine Dose, eine Flasche, ein Tetra Pak: man hätte laut und entrüstet von Product-Placement gesprochen. Aber ideologische Frohbotschaften fallen nicht unter diesen Verdacht - nicht mal dann, wenn sie besonders plump daherkommen...



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Facie prima

Montag, 16. August 2010

Heute: Die Suggestion, der wirtschaftliche Aufschwung


Hat die Presse zur Aufgabe, über wirtschaftlichen Niedergang, Abschwung und Krise zu berichten, so umrahmt sie ihre Artikel mit Fotographien, die die Verwitterung unterstreichen, untermauern sollen. Verödete Baustellen werden gezeigt, großräumige Arbeitsstätten, auf denen nur ein Angestellter zu sehen ist, womit die brachliegenden Arbeitsstellen evident werden, die hier wuchern könnten, wenn es wirtschaftlich besser ginge. Keine Bilder von anpackenden Handwerkern, keine laufenden Fließbänder - alles ist still, alles ruhig, emsiges Nichtstun. Es scheint, als habe die Republik der Stillstand ereilt - es soll ja auch so scheinen. Denn die Abbildung muß abbilden, was der dazugehörige Artikel vorbringt. Der kräftige Arbeiter kommt erst dann zum Einsatz, wenn man sich entschließt, die relativ traurige Realität auf dem Arbeitsmarkt, mit all seinen Fängen um Niedriglohn und Scheinbeschäftigung, zu einen Aufschwung zu verklären. Dann braucht es Bilder von stemmenden Kerlen, die dann auch vor der Landesflagge posieren dürfen, um eine nationale Stoßrichtung zu deklamieren.

Schreibt man vom Aufschwung, darf es funken und sprühen, muß es stieben und spritzen. Seht her, sollen solche Bildnisse rufen, jetzt wird wieder gearbeitet, malocht, geschafft! Jetzt geht wieder was! Bilder von verrichteter Arbeit umsäumen die frohe Botschaft aus Aufschwungserbauungsschriften. Wo noch vor einiger Zeit Ödnis herrschte, da glüht es heute, da glimmt es arbeitsam. Das Foto soll animieren, soll einstimmen, muß Gefühle einpendeln und regulieren. Die Leser etwaiger Aufschwungsberichte, diese oft mehr als trockene Texte, brauchen etwas fürs Auge, etwas zur schnellen Sinnerfassung. Daher einst Brachen auf dem Bau und in Werkshallen - daher nun Baustellen, die einem Ameisenhaufen gleichen oder Werkshallen, wo die Roboter und Maschinen nur so ranklotzen - überall prall gefüllte Arbeitsstätten, von Einsamkeit in Werkstätten keine Spur mehr. Man macht bildlich, was textlich langatmig, wenig attraktiv ist. Schwitzende Arbeiterheere, ratternde Maschinen, Blitze und Glut, ansehnlicher Funkenflug, volle Regale oder Parkplätze - alles zielt darauf ab, die Vitalität, den Schwung, die Dynamik zu versinnbildlichen. Alles ohne Anspruch auf Wirklichkeit, ohne Wahrheitsgehalt - alles nur als Metapher, als Suggestion.

Wie sehr solche flankierenden Fotographien als Sinnbilder herhalten müssen, demonstrieren jene Bilder von zugeparkten Parkplätzen diverser Autohersteller. Die Üppigkeit solcher Abbildungen soll den Fleiß illustrieren, soll den Produktionsmarathon suggerieren - hier wird wieder so viel gearbeitet, dass der Parkplatz kaum mehr ausreicht!, soll ausgedrückt werden. Ob er aber etwa deshalb überbelegt ist, weil produziert und wenig verkauft wird, steht gar nicht zur Debatte. Denn es sind Bilder, die Gefühle anfachen sollen - nicht die Wahrheit dokumentieren. Selbst in Zeiten des Abschwungs findet sich in einer Massengesellschaft wie der diesen, keine absolute Ödnis - sicher verwaisen Baustellen oder Firmen, aber um die nächste Ecke wird weiterhin gearbeitet. Das Bild ist nur ein Ausschnitt, der aber im Kontext zum Bericht zur Ganzheit, zur Allgemeingültigkeit emporsteigt. Andersherum gilt es ebenso: in wirtschaftlich besseren Zeiten, werden zwangsläufig immer dennoch brachliegende Arbeitsstätten vorzufinden sein. Brache hat durchaus volkswirtschaftlichen Schaden zur Folge - aber so ohne weiteres im Alltag ist sie nicht immer erkennbar; die Krise, die auf Bildausschnitten spielend erkannt werden kann, ist in der Realität selten auf den ersten Blick zu erfassen.

Das Bild, das man den Berichten um Krise und Aufschwung zugesellt, es ist eines ohne Wirklichkeitsanspruch - es bildet nicht ab, es bildet aus: nämlich die Empfindung, mit der der Leser seine Zeitung zur Seite legen soll. Dergleichen kommt immer wieder vor, wenn beispielsweise bestimmten Politikern eine Tendenz anfotographiert wird - so drastisch wie im Falle des Auf- oder Abschwungs ist es jedoch nirgends.


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... damit alles so bleibt...

Samstag, 14. August 2010

"Es muss sich alles ändern, damit alles so bleibt, wie es ist."
- Giuseppe Tomasi di Lampedusa, "Der Leopard" -

Bin punktgenau angekommen. Ende 1922; erste Oktoberwoche, um genau zu sein. Räumlich stimmt es auch: bin ich München. Habe mir bereits zeitgenössische Kleidung besorgt - separater Stehkragen zu kragenlosem Hemd. Nicht bequem, aber unabwendbar, um die Mission erfolgreich umzusetzen. Wenn es nur einen Vatermörder um den Hals kostet, die Menschheit von diesem Herrn Hitler zu befreien, so will ich es ertragen.
Habe am kommenden Montag vor, "bei Hitlers" vorstellig zu werden - möchte in seine Chauffereska gelangen; möchte für ihn eines Tages vertrauensvoll genug sein, um ihm in trauter Zweisamkeit eine Kugel in den Schädel jagen zu dürfen.

9. Oktober. Komme eben von der Parteizentrale zurück. Bin zur eigenen Überraschung gleich ins Arbeitszimmer Hitlers geführt worden. Dort waren mehrere Männer anwesend, glaube Röhm erkannt zu haben - stank nach Schnaps. Hitler in zu engem Anzug. Auf seine Frage, wie mein Namen laute, hätte ich fast meinen wirklichen Namen spanischen Ursprungs genannt - um keinen Verdacht zu schöpfen, taufte ich mich eilig auf Erich Kempka, der augenblicklich erst zwölf Jahre alt sein dürfte, der aber ab 1936 wirklich Hitlers Chauffeur würde, gelangte meine Kugel nicht vorher in sein Hirn.
Es ist überhaupt schwer, als jemand mit dem Wissen der Nachkriegszeit, sich in diesen Jahren des Radikalismus zu bewegen. Man ist ständig geneigt zu spotten, zu lachen, sich an den Kopf zu fassen ob der Naivität jener damaligen, für mich nun gegenwärtigen Menschen.
Hitler fragte weiter, woher ich stamme. Sagte ihm, ich sei aus Posen - ich nannte diese jetzt polnische Stadt, damit es den Nationalsozialisten nicht zu einfach gelänge, nach einen Kempka zu forschen, den es in meiner Statur noch gar nicht gibt. Ob ich sehr traurig sei, weil meine Heimat nun polnisch sei, fragte er. Ich bejahte traurig. Das gefiel ihm. Er kniff mich leicht homophil in die Wange, ich solle übermorgen erscheinen, soll in der Parteizentrale auf Bereitschaft harren.
Lapsus: beim Verlassen des Raumes reckte ich meine rechte Hand gen Himmel. Dabei entfuhr mir ein Heil Hitler! Die anwesende Kamarilla staunte nicht schlecht; der, den ich für Röhm halte, hieß mich einen schleimenden Blödian. Hitler schmunzelte, das gefalle ihm ausgesprochen gut, meinte er erheitert.

26. Oktober. Seit über zwei Wochen im Dienst, meist nur Bereitschaft. Werde aber gebührenfrei verköstigt - für das Herumsitzen Gehalt einzuschieben ist der Werktätigen Himmel. Schlechte Arbeitgeber sind sie ja nicht, die Nazis. Noch nicht - ich weiß ja, dass es anders kommen wird, wenn Hitler nicht vorher verendet, noch bevor er der Führer dieser Bewegung wird. Denn ich habe übrigens mitbekommen, dass nicht alle in Hitler den Mann der Vorsehung erkennen, viele glauben Ludendorff würde es werden. Eine Minderheit wittert gar in Hermann Esser, in dessen Elternhaus meine Urgroßmutter mütterlicherseits noch vor einigen Jahren Köchin war, den Mann der Zukunft.
Die Mitschuld meiner Familie? Servierte sie ihm, im Stile der damaligen Zeit, in Mehlschwitze getunktes Gemüse, welches fabelhaft zum Briefbeschwerer taugte? So hat das Nietzsche mal irgendwo formuliert! Hat dieses bleierne Zeug, dieses Völlegefühl nicht nur Blähungen, sondern auch die Wut des damals noch kleinen Hermann angefacht? Ihn zu einen dieser Rededämonen aus Bierkellern gemacht? Oh, Urgroßmutter...
Hitler oder Ludendorff - oder der Kostgänger meiner Uroma: man scheint sich noch nicht ganz einig zu sein. Erinnere mich an einige Zeilen Joachim Fests, in denen er davon berichtet, dass Ludendorff für eine große Mehrheit als zukünftiger Messias galt.
Sehe Hitler täglich. Kein übler Kerl. Das ist zu viel gesagt: er ist keine Bestie, scheint niemanden wehtun zu wollen. Auf der Bühne wird er zum Tier - das ja! Aber privat ein ausgesprochen liebeswürdiger, durchaus aber auch farbloser, fader Typ. Er siezt mich, geht respektvoll mit Untergebenen um, läßt keine Allüren durchschlagen, obwohl er derzeit Oberwasser hat. Er wirkt wie einer von diesen Spießern, die man aus meiner Zeit auch kennt - der hier hat nur mehr Einfluss, mehr Möglichkeiten. Die späteren Spießer sind da zum Glück etwas eingeengter.

24. November. Mitten in der Nacht klopft mich ein Bote aus dem Bett. Hitler wünsche nach Ingolstadt gefahren zu werden. War sichtlich nervös, sollte also mit diesem gestiefelten Messias - hat das nicht Camus später über ihn geschrieben? Den kennt 1922 kaum einer! - in meine Heimatstadt kutschieren. Muß dort vorsichtig fahren, nicht dass ich im Morgengrauen meine noch nicht zweijährige Großmutter überfahre und damit meine spätere Existenz gleich mit. Makabere Situation. Zog mich eilends an, der Bote meiner wartend - wann gedenkt der Führer zu fahren, frage ich. Wer?, antwortet der Bote.
Stunden vergingen, Hitler tauchte nicht auf. In den Morgenstunden schlurft er in den Saal, setzt sich neben mich, entschuldigt sich aufrichtig. Es wäre etwas dazwischengekommen, von Ingolstadt sei keine Rede mehr. Er habe aber nun erkannt, was für ein treuer Paladin ich sei - steckte mir einige Reichsmark zu; Kaufen Sie sich was Schönes!, empfahl er. Und gehen Sie in die Schellingstraße, Osteria Bavaria. Sagen Sie, ich hätte Sie geschickt - man wird Sie dort auf meine Kosten bewirten. Er reichte mir die Hand, drückte mannhaft zu, sah mir tief in die Augen und lächelte sanft.
Das ist also der Menschenschlächter, der Auschwitz und Treblinka zu verantworten hat - zu den Seinen ist er (noch) gut...

26. November. Bin verwirrt. Soll ich diesen "netten Onkel" wirklich liquidieren? Röhm würde ich ohne mit der Wimper zu zucken erschießen - der ist ein Arschloch! Aber Hitler ist angenehm, manchmal geradezu nett. Die Frauen fliegen auf ihn; er ist für sie ein entzückender Onkel mit Witz und Charme. Habe mich entschlossen, ihn politisch auf den Zahn zu fühlen, damit ich etwas wie Abneigung gegen seine Person entwickeln kann. Wenn er gegen Juden und Untermenschen geifert, wird mir eine Kugel in seinem Kopf leichter vorstellbar werden.

Zurück in der Gegenwart. Habe ihn tatsächlich erschossen! Er wollte von mir ins Münchner Umland gefahren werden. Winterliche Ausflugsstimmung. Das war am 8. Dezember 1922. Hitler war munter, erzählte viel von sich und vom Kriege. Fragte ihn, wie er den Ersten Weltkrieg erlebt habe. Sie sind wohl Optimist, Herr Kempka!, gab er zur Antwort. Ob ich denn glaube, dass ein zweiter Krieg käme - der täte nämlich Not. Wer darauf hoffe, hätte gesunden Menschenverstand. Sprach ihn auf die Juden an. Er schimpfte. Jedoch weniger gewalttätig und derb, als man es als Kind der Zukunft von ihm gewohnt war. Überhaupt präsentierte er keine vorzüglichen Ansichten, alles borniert, eingefahren, wenig weitsichtig - jedoch nie so, dass man den Teufel in ihn erahnen konnte. Man hätte meinen können, mit dem Vertreter des rechten Flügels der Sozial- oder Christdemokraten meiner Epoche zu sprechen; halsstarrig und kratzbürstig, nicht aber diabolisch und mit Hörnern ausgestattet.
Fast wollte ich davon ablassen, die günstige Gelegenheit auszunutzen. Eine fatale Entscheidung wäre das gewesen! Denn wann würden wir wieder einmal zu zweit unterwegs sein? Er vertraute mir zwar, aber sein Zeitplan ließ solche Ausflüge nur selten zu. Fast hätte ich diesen eigenartigen, irgendwie aber doch so menschlichen Kerl laufen lassen. Nur dann, so fiel mir plötzlich ein, wäre ich gezwungen, weiterhin diesen elenden Vatermörder zu tragen - denn an eine Rückkehr in meine Zeit, wäre nicht mehr zu denken gewesen. Man hätte mich aufgrund von Arbeitsverweigerung verklagt. Nein, ich wollte keinen Vatermörder mehr, keinen drückenden, zwickenden Stehkragen, nicht zurückbleiben und mit etwas Pech in Stalingrad verbluten müssen - als er dann an eine starke deutsche Eiche pisste, habe ich ihn erschossen. Feige von hinten - wollte nicht in sein Onkelgesicht blicken müssen, nicht von seinen Onkelaugen angestarrt werden. Ein Schwall aus Blut und Gehirnbröckchen ergoss sich irgendwo südlich von München. Seinen Leichnam ließ ich liegen, flüchtete schnurstracks Richtung Jetzt...
Einige Minuten später war ich zurück. Auftrag erledigt! Ich würde gerne sofort erfahren, wie sich die Geschichte nun anders entwickelt hat, wie der Frieden Europa und die Welt veränderte. Aber wenn ich den Stift aus der Hand gelegt habe, werde ich mich zunächst zur Ruhe betten, den tiefen Schlaf des Mörders schlafen.

Nächster Morgen. Ausgeschlafen. Der Führer, der noch gar kein Führer war, ist seit beinahe einer Nacht und einem Jahrhundert tot. Mache mich auf den Weg zur Stadtbücherei - Geschichte neu erleben. Neugierig wie ein kleiner Junge!
Zurück. Den Bücherregalen entwichen, stellt sich Ernüchterung ein. Der Führer lebte bis 1937 weiter - er nannte sich Erich Ludendorff. Zwar konnte man auch mit dem ehemaligen Generalquartiermeister reichspolitische Weihen vorweisen, ein Kanzler kam aber nie aus Reihen der NSDAP. Bis hierher wäre alles gelungen. Es gab 1933 keine Machtergreifung, die Macht behielten diejenigen, die sie vormals schon hatten. Brüning, Papen, Schleicher - danach varierten diese drei Köpfe, jeder von denen brachte es auf mehrere Amtszeiten, die allerdings nur einige Wochen oder Monate dauerten. Im Juni 1934 stabilisierte Brüning eine Regierung. Er war es auch, der eine Art Ermächtigungsgesetz entwarf - Gesetz zu Bewahrung der Demokratie, nannte er es. Er brauchte keinen Reichstagsbrand. Nach dem Tod Hindenburgs im August '34 arrangierte sich Brüning mit Hugenberg - dieser versprach den Kurs der amtierenden Regierung durch seine Medienpotenz zu unterstützen, dafür griff man seiner Kandidatur zum Reichspräsidenten unter die Arme. Er wurde dann auch Ersatzkaiser! Kampagnen zum großen Wurf jenes Gesetzes, das Arbeits- und Erziehungslager für Erwerbslose, politische Aktivisten und allerlei Nonkonformisten genauso vorsah wie die Auslese volksfremder Rassen, erfüllten das damalige Deutschland. Wahlen wurden ab 1937 ausgeschlossen, um der Kontinuität und dem Aufschwung nicht im Wege zu stehen - Du bist nichts, dein Volk ist alles! sonorte die Wochenschau, gleichzeitig ein weise dreinblickender Hugenberg nickte und die Arme weit ausstreckte, als wolle er sein Volk an sein sperrangelweit geöffnetes Herz drücken. Die Verpflichtungen des Versailler Vertrages wurden nicht schnodderig verworfen, sondern nach und nach, sittsam demokratisch gewissermaßen, gelockert oder ganz gelöst. 1942 wurde der innere Druck und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung allerdings so immens, dass man nach außenpolitischer Kompensation suchte - das gespannte Verhältnis zu Polen war ein trefflicher Kompensator. Die Arbeitsämter schickten Armeen zur Reichswehr, die dann um des lieben sozialen Friedens willen, in den Krieg ziehen durfte.

Eine weitere Nacht wie besinnungslos geschlafen. Alles ist anders - alles ist gleich. Es hat sich alles geändert, damit alles gleich bleiben konnte. Dieser Gedanke macht mein Gehirn mürbe.
Gemeinsam mit Frankreich, England und später den USA marschierte Deutschland gegen Stalin, gegen den Kommunismus, nachdem Deutschland mittels der Eroberung Polens zum äußersten Bollwerk der "freien Welt", zur Mark des Freihandels geworden war. Der italienische Faschismus schloss sich diesem Menschheitskampf an. Alte Fotos gehen mir nicht mehr aus dem Sinn: der Duce, wie er Brüning herzt, dessen Wangen küsst; der Duce zu Tisch mit Roosevelt; der Duce, wie er der Zentrumspartei Zentrale einen Besuch abstattet. Und Churchill, nicht als Premierminister abgelichtet, der er nie wurde - Churchill als Anführer einer kleinen Splittergruppe: den englischen Faschisten. Haffner schrieb ja mal, dass man Churchill in den Zwanzigerjahren für den kommenden Mann des europäischen Faschismus gehalten haben könnte - so weit kam es nicht, er blieb der Herr des englischen Faschismus nur: einer überschaubaren Clowneske.
Letztlich gewann keiner den Krieg - nur Verlierer; alles blieb beim Alten. Die NSDAP existierte weiter, focht mit anderen Parteien für die Wiedereinführung des Wahlrechts. Was irgendwann nach Brünings Tod auch geschah. Von da ab zog man regelmäßig als Oppositionspartei in den Reichstag. Das Hakenkreuz wedelt ganz legal in Berlin vor dem Ludendorff-Haus - die Parteizentrale einer aggressiven, darwinistischen Partei, der es aber an Format fehlt; der Hitlergruß ist indessen unbekannt. Nur ein gewisser Kempka, ein Chauffeur und Mörder, so berichtet eine Anekdote des siechen Röhm, habe mal vor diesem frühen Trommler der Bewegung salutiert; vor einem gewissen Hitler, der viel von Putsch und Märschen sprach, ansonsten aber nur quer durch die Bierkeller brüllte. Der Hitlergruß als eine Fußnote, die nur in penibel geführter Fachliteratur zu finden ist!

Ich bin verzweifelt. Da bin ich doch aufgebrochen, um der Welt den Frieden zu sichern, indem ich die Bestie Hitler ermorde, nur um jetzt erkennen zu müssen, dass das, was sie uns in der damaligen Welt gelehrt hatten, nämlich dass Hitler und seine Entourage Monstrositäten seien, ausgesprochener Käse war. Sicher, Juden haben sie in dieser Welt nicht geschlachtet - in Lager steckte, und stecken sie noch immer, Nonkonformisten. Keine Vernichtungslager, Zermürbungslager aber allemal. Die eine Bestie habe ich abgemurkst, nur damit sich andere auf bestialische Pfade machen konnten. Ist die Welt ohne Hitler besser geworden? Für die Zeitgenossen stellt sich diese Frage nicht, sie kennen Hitler nur, wenn sie besonders belesen sind; selbst Geschichtsfexe müssen nachblättern, wer dieser Hitler eigentlich war. Aber sie glauben, in einer guten Welt zu leben - sie leben im Angesicht von Arbeits- und Erziehungslagern, in denen auf Raten gemordet wird; Todesfälle seien ein Versehen, heißt es dann bedauernd, absichtlich käme dort niemand zu Tode.
Die Hölle sollte aus der menschlichen Erinnerung getilgt werden - nie wieder Dachau, schon gar nicht Auschwitz, nicht in Zukunft, nicht in der Vergangenheit: das habe ich mir vor meiner Reise stets vorgebetet, um mir Mut zuzusprechen. Und nun bin ich zurück: der Teufel ist tot, aber die Hölle konnte ich nicht abwenden. Auschwitz lebt, wenn nicht als wirklicher Ort des Grauens, so doch als Synonym - und niemand stößt sich daran. Diejenigen, die in meiner Welt Demokraten waren, die die politische Mitte bildeten, sind in diesem Weltentwurf die Herren der Zermürbungslager. Eine erstklassige Fehldeutung, in Hitler den Schöpfer der Hölle geahnt zu haben - jetzt wüssten meine damaligen Zeitgenossen, dass es nicht an Hitler lag, sondern an seiner Zeit. Hitler hat es angetrieben, hat zur Eile gedrängt - die Demokraten, die später in seinem Geiste dasselbe mit etwas mehr demokratischem Gestus umsetzten, legten nur mehr Gemütlichkeit an den Tag. Sie brachen nichts zu schnell übers Knie; aber übers Knie brachen sie es irgendwann dann doch.

Hitler töten!, lautete die Stellenanzeige, auf die ich mich damals spaßeshalber meldete. Ich habe es getan - und, zynisch gesprochen, eine bessere Welt erschaffen. Eine bessere Welt, in der man sich nicht mehr über Auschwitz ereifern muß - in der man mit Straflagern friedlich und gelassen leben kann. Eine bessere Welt, weil man in dieser seinen Frieden mit der Unterdrückung, mit der Straflagermentalität gemacht hat; weil man in dieser, um es sich nicht zu schwer zu machen, um es sich zu erleichtern, einfach alles mit Demokratie betitelt, um nicht unnötig in Gewissenskonflikte zu geraten. Im Namen des Volkes, ruft diese Zeit, so wie auch meine Zeit dasselbe ausrief; sie nennt sich Demokratie wie meine: sie wäre das bevorzugte Zeitmodell der Demokraten, die ich in meiner Welt einst kannte. Denn in ihr nennt sich der tiefste menschliche Abgrund Demokratie. Wenn Demokratie das erreicht, macht sie sich zum Liebkind der Machthaber. Demokratie bedeutet nicht, so wie man es mir in meiner Welt beibrachte: Auschwitz verurteilen; Demokratie bedeutet: seinen Frieden mit der Hölle machen. Die Beseitigung Hitlers war ein Clou - jetzt haben sie die Staatsform, die sie immer wollten, aber nie haben konnten, ohne in den Ruch der Braunheit zu geraten. Hitler musste sterben, damit die Diktatur zur Demokratie modelliert werden konnte.
Ohne Hitler wäre das, was ohnehin damals in der Luft lag, eher toleriert worden - die Machthaber aus meiner Welt, das erkenne ich heute, waren Hitler nie böse, weil er ein Massenmörder war; sie verurteilten ihn, weil er ihnen Herrschaftsmittel entzogen hat, die ohne seine Übertreibung legitim geblieben wären. Als ich nach 1922 reiste, hallten mir noch jene Demokraten in den Ohren, die auf Hitler schissen und munter das predigten, was man auch 1922, 1929 oder 1934 hätte predigen können: man sprach wieder von Ballastexistenzen, zog über angeblich ethnische Spezifika her - ganz ungeniert. Ich glaubte, wenn ich ihn töte, hätte sich eine solche Denkweise nie durchgesetzt - schön naiv war das! Jetzt ist sie etablierter denn je - jetzt kann man sagen, was man in meiner Zeitlinie nicht mal mehr denken sollte. Ganz ohne Gegenwind...

Nachtrag. Nach einigen Wochen in dieser schönen neuen Welt den Entschluss gefasst, nochmals zurückzureisen. Ich werde Kempka erschießen... das heißt, ich würde ihn erschießen, wenn ich zurück könnte. Meine damaligen Auftraggeber, die mir die Reise ermöglichten, scheinen in dieser Welt nicht zu existieren - ohne sie existiert auch keine Reise...



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Kocht der Koch, so schmort er

Freitag, 13. August 2010

Macht man sich des Terrors schuldig, wenn man Terroristen verköstigt? Werden Falafel und Kuskus, Kirchererbsen und Hartweizengries zu gefährlichen Waffen, weil sie den Magen eines Terroristen, eines Terrorfürsten gar, füllen? Leerer Bauch terrorisiert nicht gerne - und prompt landet der Koch Bin Ladins, verurteilt nach allen Regeln der unabhängigen Jurisprudenz, von einer Militärjury nämlich, für vierzehn Jahre im Gefängnis. Kebab als Tatbestand - diejenigen, die damals Stinger-Raketen und automatische Handfeuerwaffen lieferten, sind nicht nur weiterhin über jeden Verdacht erhaben: sie sind obendrein des Kochs Kerkermeister.

Ist man also selbst schon Terrorist, wenn man einen Terroristen bekocht? Die Militärjury hat das eindeutig bejaht. Wer den Kopf mittels Bauch bei Laune und bei der Arbeit hält, stillt damit nicht nur existenzielle Bedürfnisse - er ölt damit den Keilriemen des Terrormotors. Kochen ist die eine Sache - für einen Terroristen zu kochen bedeutet aber, sich schuldig zu machen. Kuskus als Waffe gegen die westliche Welt! Wäre Constanze Manziarly, die Köchin des Zweifingerbarts, nicht im Straßenkrieg Berlins ums Leben gekommen, hätten sich vermutlich ihre Nudelgerichte zu Nürnberg verteidigen müssen. Wer dem Führer Köstlichkeiten zubereitete, rührte im Töpfchen gleich noch das Leid der Welt an - den Diktator kulinarisch zu verzärteln bedeutete, die Gaskammern weiter anfachen. Eine Köchin mit Courage, hätte ihre so banale, doch so existenzielle Kunst, nicht für diesen Brotgeber hergeben dürfen. Ein Koch, der kocht, der einen derartigen Garst bekocht genauer gesagt, muß selber schmoren - einer, der was auf sich hält, läßt seinen widerlichen Herrn verhungern: im Namen der Welt.

Man kann es auch übertreiben - freilich kann man es nicht so einfach abtun, einst Smutje eines Massenmörders gewesen zu sein. Das blitzt nicht golden aus Lebensläufen heraus, entblößt den gastronomischen Fachmann außerordentlich; entblößt ihn als Menschen. Sicher, er hat nur seine Arbeit getan, das was er kann, was er gelernt hat. Zwischen Töpfen, Pfannen, Auflaufformen hat er jedoch sicherlich erkannt, wes Brot er bäckt. Nur war es ihm halt einerlei. Das ist fürwahr kein Qualitätsetikett, was man sich da anhängt - aber ein Grund zur Haft ist es mitnichten. Koch und Friseur, Arzt und Schneider - alle bieten sie seit jeher Dienstleistungen auch denen an, die der Schattenwelt entstiegen sind. Das ist traurig und keine besonders exzellente Werbung. Man mag es moralisch verurteilen - juristisch jedoch nicht. Das geht zu weit, zumal wenn es vierzehn bevorstehende Haftjahre sind, die zur Sühne notwendig sein sollen.

Die Militärjury, so könnte man frech annehmen, krankt an einem Abwehrmechanismus, den die Psychoanalyse Projektion nennt. Diese sei, so Sigmund Freud, das Verfolgen eigener Wünsche in anderen - andersherum formuliert: sie ist das Erahnen eigener Komplexe, eigener Schuld in anderen. Gut denkbar, dass die Jury, stellvertretend für eine ganze Gesellschaft, den banalen Küchenmeister verurteilte, weil sie tief in ihrem Innersten ahnt, dass es die banalen Zeitgenossen sind, die mit ihren gewöhnlichen, alltäglichen Handlungen das große Unrecht absegnen. Sie ahnen, dass es Köche, Friseure, Kellner sind, die Regime und Repressionen dienstleistend dulden; sie ahnen, dass es die banalen Alltagsmenschen sind, die sich mitschuldig machen, weil sie Verfassungsbrüche und Kriegsgeschrei leise vor sich abnickend unterstützen.

Sie projizieren diese Schuld, die eine ganze Gesellschaft ereilt, auf jenen Koch... er hat zu büßen, weil er Terroristen bekochte. Er muß büßen, damit sich ein aufbegehrendes Gewissen nicht allzusehr sträubt; er muß büßen, weil der Haareschneider industriestaatlicher Kolonialherren nicht belangbar ist; er muß büßen, weil man den Fleischer des Vertrauens etwaiger Sozialstaatsfeinde nicht einkerkert; er muß büßen, weil man den freundlich grüßenden Nachbarn von Kriegsbefürwortern nicht vor Gericht bittet - mit der ganzen Chuzpe der Psychoanalyse könnte man also sagen: sie brauchen einen Prügelknaben, dem sie seine Schuld des Alltags aufladen - eine Schuld, die sie schamhaft bei sich selbst vermuten...



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