Ein für pessimistisch befundener Realist

Samstag, 19. Juni 2010

oder: zum Tode José Saramagos - ein Nachruf.


Nur wenigen Romanen wird die unaufhörliche Aufmerksamkeit des Lesers zuteil; nur wenigen Romanciers gelingt es, die Leserschaft so sehr an eines ihrer Werke zu fesseln, dass diese nicht mehr aus der Erzählung heraussteigen will. Nur wenige Erzähler vermögen es, den Leser wie gebannt ins gebundene Papier starren, ihn unablässig die Geschichte weiter und weiter treiben zu lassen. Noch ein Satz - noch ein Absatz - noch eine Seite - noch ein Kapitel! Wie im Akkord schuftet und schwitzt er sich durch das Buch, nur selten unterbrechend, selten pausierend. Es gibt nur wenige Autoren, die dem Leser das Weglegen eines ihrer Werke erschweren, nur wenige, die das Verlangen nach Weiterlesen schüren können, die es beherrschen, den Leser dazu zu drängen, möglichst gleich wieder dessen Nase in die Angelegenheiten des Romanciers zu stecken. Nur wenige Romane; nur wenige Romanciers! Ein solcher Roman ist die "Stadt der Blinden"; ein solcher Romancier ist... war José Saramago.

Plötzlich breitet sich Erblindung wie eine Epidemie aus. Ansteckende Blindheit! Nach und nach erblinden die Menschen und die Sehenden, die die noch sehen können (denn langsam ereilt jeden dasselbe Schicksal), internieren die Erkrankten in Lagern und zweckentfremdeten Gemäuern. Saramago beschreibt ein solches Internierungslager, in denen alle blind sind - bis auf eine Frau, die aus ungeklärten Umständen nicht erblindet, die sich aber nicht als Sehende zu erkennen gibt; nur ihr Mann und eine Handvoll Insassen wissen davon. Organisation scheint unmöglich, wenn man auch beseelt ist, das Lagerleben zu strukturieren. Schon bald bricht das Chaos aus, die hygienischen Zustände stinken zum Himmel, das Lager ist überfüllt und das Essen knapp. In diesem Klima aus Dreck und Mangel erwachen niederste Instinkte - eine Gruppe blinder Haudraufs eignet sich die wöchentliche Essensration an und erpresst die anderen Insassen. Hilflos aus der Welt der Sehenden verbannt, entsteht ein blinder Mikrokosmos innerhalb der Lagermauern - die Sehenden mischen sich aus Angst vor Ansteckung nicht ein. Die sehende Frau wird einzige Augenzeugin davon, wie der Tumult zum täglichen Leben wird: Diebstahl, Gewalt, Prostitution - es entsteht ein Gemeinwesen auf engstem Raum, in dem es keine ordnende Macht mehr gibt, in dem ethische Gesinnung zum Luxus wird, den man sich nicht leisten kann, wenn man überleben möchte. Die Sehende greift jedoch kaum ein, möchte nicht zum Blindenhund aller Erblindeten werden, damit sie ungehindert für ihren Mann sorgen kann.

Immer wieder wurde Saramago als Pessimist tituliert. In jener Stadt der Blinden sitzend, verwundert das nicht. Denn seine Parabel offenbart zunächst zweierlei: sie schlägt jenen Armutsromantikern ein Schnippchen, die stets selbstgefällig und verklärend behaupten, dass in Armut und Not zurückgelassene Gesellschaften zwangsläufig immer zur gegenseitigen Hilfsbereitschaft tendieren, zur brüderlichen Gesellschaft würden. Und sie zeigt auf, dass auf Hilfe einer Minderheit von Bessergestellten, die Hilfe einer sehenden Frau in jenem Fall, nicht zu warten ist. Ungehemmte Not, lehrt Saramago, treibt nicht zur gegenseitigen Hilfe - sie treibt zur Gewalt, zur Unterdrückung, zum Recht des Stärkeren. Und keiner kann die Welt alleine retten, schreit er uns zu, ein Sehender rettet die blinde Menschheit nicht - darf er nicht mal versuchen, wenn er sich und die Seinen nicht gefährden will. Pessimistisch fürwahr - doch nicht unabwendbar. Denn so überraschend wie die Blindheit über die Welt kam, so überraschend verschwindet sie am Ende der Erzählung wieder. Zurück bleiben Menschen, die Demut gelehrt bekamen - Menschen, die auf ihre Unzulänglichkeit, Verletzlichkeit, Endlichkeit zurückgeworfen waren, die ihre natürliche Nacktheit erlebten; Menschen, die sich im Dreck suhlten, wahllos kopulierten und vor aller blinden Augen - und dem Augenpaar der sehenden Frau und den geistigen Augen der Leser - schissen und onanierten, Lebensmittel verbargen und sich für solche prostituierten. Saramagos Pessimismus löst sich aber ins Gegenteil auf; aus jeder Krise erwächst vielleicht ein Neubeginn - aber Leid und Gewalt pflastern den Weg. Die Protagonisten seiner Erzählung erhielten Einsichten, obwohl sie keine freie Sicht hatten - zu sehen ohne zu sehen: auch das ist nicht unbedingt pessimistisch.

Saramago einst im Interview: "Jeder sagt, Sie sind ein Pessimist! Aber ich antworte immer: Nein, nein, ich bin kein Pessimist. Es ist die Welt die so schlecht ist!" Er befand sich nicht als Schwarzmaler, er glaubte die Welt so zu sehen, wie sie war und ist. Ein Realist schlussendlich - was auch die Schwedische Akademie 1998 befand, als sie ihm den Literaturnobelpreis verlieh. In der Laudatio hieß es damals: "für sein Werk, dessen Parabeln die Menschen die trügerische Wirklichkeit fassen lassen"... nicht ihn, den Erzähler, trügt der Schein; nicht er betrügt sich mit einem literarischen Pessimismus selbst - nein, die Wirklichkeit ist zuweilen trügerisch. Sie einzufangen, das Trugbild aufzulösen: das war Aufgabe für einen, der Realist war; war Aufgabe Saramagos! Was konnte er denn dafür, dass die Welt so schlecht war, immer noch so schlecht ist? Und es ist auch nicht seine Schuld, dass sie es bleiben wird, wie er unter dem Vorwurf, wahrscheinlich nun doch ein Pessimist zu sein, vor einigen Jahren noch in einem Interview anklingen ließ: "Ich weigere mich zu akzeptieren, dass die Welt so sein muss. Ich weigere mich. Für mich ist das nicht wichtig, ich bin 84 Jahre alt, in zwei oder drei Jahren, vielleicht noch weniger, bin ich nicht mehr da. Also könnte mir das alles egal sein. Aber es ist mir nun mal nicht egal. Ich bin in eine ungerechte Welt hineingeboren worden und ich werde eine ungerechte Welt verlassen."

Es wurden noch drei Jahre - auch hier war er nicht pessimistisch; er hat realistisch betrachtet und Recht behalten. Was von ihm bleibt sind Geschichten voll erzählerischer Tiefe, gespickt mit jenen Einsichten, die er in seinem langen Leben ansammelte. Es sind die Sichtweisen eines Atheisten und Sozialisten (der Vatikan protestierte, als man ihn mit dem Nobelpreis auszeichnete), der niemals dogmatisch seine Überzeugungen vertrat, der sich jedoch freidenkerisch und mit viel Poesie zu den Problemen seines Landes äußerte. Ein Autor, der nie vergessen hat, worin seine Stärken liegen: im Schreiben! Einer, der sich nicht künstlich zur politischen Figur erhob, der bei seinen Leisten blieb. Aber einer, der sich immer wieder in den öffentlichen Diskurs einmischte - der personifizierte Beweis dafür, auch am Schreibtisch wesentliche Arbeit zur Gestaltung der Welt leisten zu können. Eine Welt, die schlecht ist - der man sich aber so, wie sie jetzt ist, verweigern kann.

José Saramago hat gestern, so wie er es angekündigt hatte, eine ungerechte Welt verlassen.

7 Kommentare:

Geheimrätin 19. Juni 2010 um 01:00  

oh ja, Danke, das ist ein wunderschöner Nachruf Roberto!

Manul 19. Juni 2010 um 09:05  

Schöner Nachruf über einen Autor, den ich bisher, ehrlich gesagt, kaum kannte und beim Lesen mich die ganze Zeit fragte warum ich nie etwas von ihm gelesen habe. Das wird nun bei der nächstbesten Gelegenheit auch nachgeholt.

klaus baum 19. Juni 2010 um 12:45  

danke für diesen nachruf.

Anonym 19. Juni 2010 um 15:58  

Sehe, dass ein Licht aufgeht in blinder Dunkelheit

Ein Seher, der hinter die demokratisch-kapitalistischen Potemkinscher Fassaden schaut, der sieht, wo andere blind sind.
Was uns zum Sehen angeboten wird, ist allzu oft nur die halbe Wahrheit, wenn nicht gar gänzlich die Unwahrheit.
Sehe mit dem Herzen, denn Verstand ist und macht blind.

Rezensionen
„Die Stadt der Sehenden“
http://www.rezensionen.ch/buchbesprechungen/die_stadt_der_sehenden/3498063847.html
„Das Zentrum“
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5022&ausgabe=200206

maguscarolus 19. Juni 2010 um 18:00  

Sehr, sehr neugierig bin ich geworden. Demnächst werde ich etwas von ihm lesen.

Anonym 19. Juni 2010 um 19:04  

Merci Roberto,

dieser Nachruf weckt in mir die Lust die Werke dieses Autors zu lesen.

Anhänger des 04.08.1789

Thomas Trueten 22. Juni 2010 um 09:44  

Vielen Dank für den Nachruf.

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