Vor dem Standgericht

Dienstag, 16. Februar 2010

Dass es der Anarchist schwer hat, dass er keine Solidarität erleben und erwarten darf - das ist die Konstante. Variablen sind nur seine Gegenspieler, seine Häscher. Heute Konservative, Liberale und linke Gruppen, die zum gemeinschaftlichen Kesseltreiben blasen - gestern Faschisten und Kommunisten, die die Treibjagd genossen. Der Anarchist hatte es allzeit schwer - und er hatte es deshalb stets leicht. Denn wer vorab weiß, dass seine Standpunkte eingekesselt und in Stahlgewittern verteidigt werden müssen, der muß sich keine nervenaufreibenden Gedanken darüber machen, mit wem er aus taktischen Gründen und zur strategischen Ausgestaltung, in mehrerlei Haltungen wippt und wackelt und keucht, mit wem er aus Kalkül heraus beischläft. Leichter und würdevoller ist es, nicht als Kokotte des gottgegebenen politischen und wirtschaftlichen Sachzwangs verenden zu müssen.

Freilich haben sich die Zeiten geändert - der Anarchist landet nicht vor Schauprozessen und Standgerichten. Er nicht! Aber seine Zusammenschlüsse, seine ins Leben gerufene Eigeninitiativen, seine syndikalistischen Versuche - die werden standgerichtlich abgeurteilt und in den Hinterhöfen staatlicher Justiz erschossen. So wie im aktuellen Fall, in dem der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) Berlins bei angedrohter Geld- oder Haftstrafe untersagt wurde, sich als Gewerkschaft zu bezeichnen. Ein einmaliger Fall in der Geschichte der Bundesrepublik - ein zugegeben nicht einmaliger (An-)Fall von regulativer Wut, bei dem erneut Eigenverantwortung, Emanzipation und Selbstwert zertrümmert wird, um koscheren Organisationen, staatlich gewollteren, geduldeteren Banden, zu ihrem Recht zu verhelfen. Der Aufschrei artverwandter Cliquen, der Aufschrei von ver.di und Linkspartei, er war über Städte und Flure, auf Bergen und in Tälern... ausgeblieben.

Unbewandert in Geschichte könnte man sich nun darüber echauffieren, so jämmerlich im Stich gelassen worden zu sein. Dabei war von Angebinn anzunehmen, dass auch artverwandte Gruppen unsolidarisch handeln, wenn nicht sogar selbst im Erschießungskommando des Hinterhofs einige Posten beziehen würden. Sie sind Teil staatlicher Präsenz, sind trotz aller Opposition zum Geist unserer Zeit, Bestandteil der staatlichen Apparatur - selbst die Linkspartei, die man immer wieder als Außenseiter beschreibt, gehört dem Staat. Solidarität mit denen zu üben, die den Staat zwar nicht deinstallieren wollen (und auch gar nicht können), die allerdings keine falschen Vertreterschaften aus gezähmten Organisationen befürworten wollen, eine solche solidarische Verbundenheit ist da einfach nicht vorstellbar. Die FAU, selbst eine, die (noch) wenig Einfluss hat, ist der wahrgewordene Alptraum etatistischer Rudel. Räuber sind jene, die den traditionellen, den verbürgerlichten, den überlieferten Räuberbanden ins Gehege kommen.

Der Frevel am Alpha und am Omega der politischen Tretmühle, führt zur Vereinsamung. Diese Lästerung am Grundprinzip war es stets, die Anarchisten isolierte. Denn in einer Sache waren sich Hitleristen und Stalinisten genauso einig, wie heute christliche und liberale Konservative, Sozialdemokraten, Sozialisten und Ökos: der Mensch braucht Führer, er braucht Anleitung, er kann nichts alleine organisieren und verwalten, schon gar nicht seine Interessen vertreten. An ein solches negatives Menschenbild mag der Anarchist einfach nicht glauben. Sein Ideal ist eine Gesellschaft, in der Menschen selbstbestimmt leben können - er begegnet dem Menschen mit Zuversicht, räumt der Skepsis nicht das Primat ein. Ob im Staat oder frei von Staat ist dabei irrelevant - denn ein Staat mit menschlichen Prinzipien, pazifistisch und verständnisvoll, sich der Hilfebedürftigen annehmend und wenig bürokratisch, einen unrealistischen Idealfall von Staat folglich, den könnte sich der Anarchist gefallen lassen - da ist er ganz pragmatisch. Menschen, die keinen Sprecher, keinen Abgeordneten, keinen Vertreter aus etablierten Gruppierungen mehr benötigen - da graust es selbst den liberalsten Esprit, da schütteln sich selbst ver.di und Linkspartei angewidert um die Wette. Denn mit Anarchosyndikalisten ist einfach kein Staat zu machen - jedenfalls keiner im heutigen Sinne.

Man braucht gar nicht stutzen, wenn auch nun, da das Standgericht zur FAU in die nächste Runde geläutet wird, ver.di und Linkspartei schweigen oder womöglich sogar freudig ein Verbot begrüßen. Es sind eben Traditionalisten, die wie alle ihre Vorgänger keinen Bedarf an frei denkenden, frei handelnden, frei sich selbst verwaltenden Menschen haben. Eine Gruppe, die Menschen zur Eigeninitiative leitet, in einer Gesellschaft, in der Eigeninitiative lediglich bedeutet, ein Kreuzchen zu setzen oder einen monatlichen Mitgliedsbeitrag zu erstatten - eine solche der herrschenden Logik zuwiderhandelnde Gruppe, darf nicht auf Unterstützung hoffen. Wer frevelt, leidet einsam...

19 Kommentare:

Anonym 16. Februar 2010 um 01:27  

Hallo Roberto, kann deinem Beitrag nur wieder zustimmen!
Denken wir nur an der Lokführerstreik der "kleinen" GDL und die REAKTIONEN von den Ver.di -und IGM Häuptlingen, aber auch von dieser Transnet- Eisenbahner"Gewerkschaft", deren damaliger (hetzender)Vorsitzer nun im Bahnvorstand sitzt.
Sie alle diffamierten die Streikenden öffentlich, attestierten ihnen "Egoismus"..., "Schädigung" der "gemeinsamen Sache", der "Einheit der Gewerkschaften"....
Auch die Unterstützung durch die PDL war eher populistisch den ernsthaft.
So geht es ALLEN Arbeitnehmern, die es "wagen", ohne den Segen der staatstragenden "Arbeitnehmerorganisationen" für ihre Interessen einzutreten.
Ja, das mögen sie alle nicht, ob Faschisten, Konservatie, Christen, Liberale, Linke, Kommunisten, Stalinisten, denn sie alle sind im Grunde bei allen sonstigen Unterschieden eines gemeinsam: ETATISTEN!
Jeder Gedanke, dass sich Menschen ganz ohne große "anerkannte" Führer, "Persönlichkeiten", "mächtige" Vorsitzende, "bewährte" Ver(Zer!)treter organisieren und kämpfen ist ihnen ein Graus, sogar "Verrat"....
Ihnen kommt sicher nicht in den Sinn, dass alle ihre (staatstragenden)"Gewerkschaften", alle ihre "hauptamtlichen" Pfründe und Pöstchen Totenhallen von Karteileichen gleichen, aus denen jeder lebendige, kämpferische Geist schon seit Ewigkeiten entwichen ist.
Aber diese korrumpierten, gekauften, deshalb absolut staats- und kapitalhörigen "Arbeiter"-Bürokraten leben damit gut und fett, man sieht es ihren verfetteten Visagen schon von weiten äußerlich an.
Natürlich müssen sich die Leute organisieren, aber eben absolut gleichberechtigt, aus Überzeugung, ohne ewige Vorsitzende, Führer, Postenjäger aller Art, absolut basisdemokratisch.
Ob und wie lange gestreikt wird, hat kein "Vorstand" zu "beschließen" sondern allein die Menschen vor Ort, um deren Interessen es wirklich geht.
Klar, das alle "Hauptamtlichen" so etwas "Schädliches" wie diese Berliner FAO hassen, sie diffamieren, ans staatliche Messer liefern wollen!
Aber es ist gerade auch hier wieder mal ganz klar, WER die wirklichen VERRÄTER sehr vieler arbeitenden Menschen in diesem Lande sind.
Na ja, vor diesen Emporkömmlingen, Verrätern warnte mein "Ur-Ur-Urgroßvater" die Arbeiter und Bauern schon vor gut 150 Jahren...., und ER behielt leider immer wieder Recht, bis zu dieser Stunde...

mfg Bakunin

Ajax 16. Februar 2010 um 05:07  

"An ein solches negatives Menschenbild mag der Anarchist einfach nicht glauben. Sein Ideal ist eine Gesellschaft, in der Menschen selbstbestimmt leben können - er begegnet dem Menschen mit Zuversicht, räumt der Skepsis nicht das Primat ein."

Ich kenn daa mit der FAU nicht. Vielleicht hab ichs mal gehört, aber bis gestern nicht bewußt.

Nehmts mir nicht übel. Ich sympathisiere mit dem individuellen Widerstand. Auch hab ich sicher auch eine anarchistische Komponente in mir. Aber der Anarchismus ist i.a. nur individuell und begrenzt zu leben. Sicher ein Individuum könnte es durchziehen, aber das muß dann schon sehr stark sein bzw. sehr günstige Bedingungen haben. Vielleicht schaffts auch ne Wongemeinschaft ne zeitlang. Aber Kommune1 hat auch nicht überlebt.
Das geht alles an den Konflikten zwischen den Einzelnen schon zurunde und das schon im Privatbereich.

Es könnte sein, das so was wie die FAU im Kleinen und für kurze Zeit eine Alternative sein kann, so wie wenn Arbeiter ihre Fabrik übernehmen.

Aber was passiert, wenn diese Strukturen sich ausdehnen und darauf bezieht sich ja der Artikel auch. Mit absoluter Sicherheit werden Sie irgendwann wieder bei dem landen, was wir heute haben.

Was denke ich immer wenn ein kleines Land seine Unabhängigkeit hat und zum ersten mal demokratisch gewählt hat und die Leute sich jubelnd in den Armen liegen? Es wird der Zeitpunkt kommen da werden Sie alle desillusoniert sein und gegen die dann Regierenden einen Generalstreik ausrufen usw.

Wie gesagt ich kann mich zur FAU nicht äußern, aber will diese allgemeine Anmerkung machen. Gegen die Sauereien unseres Systems angehen (und dagegen aus der Not eine FAU setzen) ja, aber zu glauben es gäbe irgendwann als Staat die "freie (funktionsfähige) Assoziation" der Individuen. Nein.

Zur Linkspartei kann ich nur sagen.

Ein Bekannter sagte mir vor der Wahl. Die wollen Hartz4 ja auch nicht abschaffen, die wollen nur auf 500 Euro erhöhen. Ja das wäre dann staatstragend und so seh ich die Partei auch.
Das was ich in mir fühle, ist auch in dieser Partei nicht. Und so wird es letztlich beim Einzelkampf bleiben. Aber natürlich kann man sich (es) ja den Anderen immer wieder anbieten.

Margitta 16. Februar 2010 um 08:35  

Tja, es gibt einfach zu viele Menschen, die abwartend danebenstehen, wenn Individualisten neue Formen des Zusammenlebens ausbrobieren.
Zögernd und zaudernd sehen sie dem Tun, derer die mit dem Istzustand nicht zufrieden sind und neue Wege suchen, zu und im günstigsten Fall denken sie: "Mal sehen, was daraus wird."
Wenn das Vorhaben wegen mangelnder Unterstützung scheitert, lehnen sie sich zurück und sagen: "Hab ich doch gewußt, das geht in die Hose, daraus wird nichts."
Was die Welt dringend braucht, sind mehr Pioniere und wenige Zauderer.

River Tam 16. Februar 2010 um 09:57  

@ Roberto:
Dein Gedankengang bezüglich der FAU ist mir durchaus sympathisch, gerade weil die großen Gewerkschaften - wenn überhaupt - mehr und mehr zur Interessenvertretung der noch angestellten Facharbeiterschaft werden und Leiharbeiter bzw. Hartz IV Empfänger ignorieren. Sie können sich das nur leisten, weil es keine Konkurrenz gibt, die ihre Postion unterminieren könnte.

Nur leider ignoriert er die andere Seite der Medaille: Wenn Gewerkschaften unabhängig von ihrer Größe und der Reichweite der von ihnen ausgehandelten Tarifverträge erlaubt werden, was glaubst Du wer davon zuerst profitiert? Es dürfte etliche Arbeitgeber geben, die nach einem Erfolg der FAU vor Gericht plötzlich ihr Herz für die Arbeitnehmervertretung entdecken und mal eben eine gründen (lassen). Was glaubst Du wohl wessen Interessen dann vertreten werden?

Wenn FAU die sympathische Seite der kleinen "Anarcho-"Gewerkschaften ist, dann ist die CGZP die unsympathische - sozusagen die "dunkle Seite der Macht". Ich bezweifle, dass den wirklich Niedriglöhnern und Hartz IV Empfängern mit einem Anwachsen christlicher und gelber Gewerkschaften geholfen werden kann. -
Hier bleibt also nur die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Anonym 16. Februar 2010 um 10:22  

Irgendwie haben immer alle Recht, der Roberto ebenso wie der Ajax und viele andere.

Hier mal ein ganz anderes Beispiel für Bürgerbeteiligung:

http://www.amerika21.de/nachrichten/inhalt/2010/feb/raete-879203-venezuela/

Ob das klappt wird man sehen, aber alleine von dieser Idee könnten wir uns hier in D eine Scheibe abschneiden.

Auch habe ich in diesem Forum kürzlich schon mal mit einem Hinweis auf das "Ökodorf Sieben Linden" und die "Alternativen für Zukunft" versucht, auf eventuell menschenfreundlichere Lebensweisen hinzuweisen, bin aber sofort von verschiedenen Seiten abgewatscht worden.

Man muss das alles ja nicht gut finden, aber dann muss man wenigstens selbst konkrete Vorschläge haben, wie es für diejenigen, die einem solchen Vorschlag folgen, kurzfristig zu einem besseren Leben kommen könnte.

Andreas 16. Februar 2010 um 11:17  

@River Tam:

Du hast meinen Einwand bereits vorweg genommen. Was Roberto mit viel Worten umschreibt, geht am eigentlichen Problem vorbei. Das Verbot der FAU, auch wenn sich diese Organisation eindeutig positiv im Sinne der Arbeitnehmer positioniert, kann letztlich nur konsequent sein. Denn würde man sie zulassen, dann muss man auch die von dir bereits genannte CGZP zulassen. Und die produziert nunmal Gefälligkeitstarifverträge für die Arbeitgeber. Ich stimme ebenfalls damit überein, dass als Konsequenz plötzlich "Gewerkschaften" wie Pilze aus dem Boden schießen würden, gegründet von skrupellosen Arbeitgebern. Daher ist der Ansatz, eine Gewerkschaft an ihrer "Sozialmächtigkeit" zu messen, durchaus richtig.

Andererseits sind unsere großen, etablierten Gewerkschaften in der Tat "gezähmt". Sie sind zahnlose Tiger, politisch korrumpiert von einer SPD, deren politisches Ziel der Verrat an sich selbst, an den Arbeitnehmern und den Arbeitslosen war und teils immer noch ist.

Bestes, weil aktuelles Beispiel ist das, was derzeit in der Leiharbeitsbranche abgeht. Da hat ein Gewerkschaftsfunktionär des DGB mal eben im Hinterzimmer mit einem Vertreter der Leiharbeitsbranche unter Umgehung der Tarifkommissionen einen unannehmbaren Billigtariflohn vereinbart und unerträgliche, gesetzliche Regelungen (§8.6 MTV) unangetastet gelassen. Das erstaunt umso mehr, da vor allem die IGM permanent in der Öffentlichkeit heraus posaunt, sie sei für eine Abschaffung des §8.6. Weiterhin startete sie vor einiger Zeit eine groß angelegte Kampagne "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit". Und dann wird eben dieser Billigtarifvertrag vereinbart. Das passt doch irgendwie nicht recht zusammen. Oder doch?

Kein Wunder jedenfalls, dass die organisierten und engagierten Leiharbeiter dagegen Sturm laufen und immerhin inzwischen erreicht haben, das nachverhandelt wird.

Es stellt sich jedoch die Frage, was man mit einem solchen Bettvorleger von Gewerkschaft eigentlich noch soll. Die Gewerkschaften sind eingekeilt zwischen Arbeitgebern, die sie nach belieben mit Drohungen (Jobabbau) erpressen, einer prinzipienlosen SPD, die der Wirtschaft lange Zeit in den Allerwertesten kroch, und einer schwindenden Zahl von Mitgliedern, deren Wut auf diesen Funktionärsverein wächst.

Ein wenig "Anarchismus" könnten sich die etablierten Gewerkschaften von FAU jedenfalls abschauen. Denen ist jeder Kampfgeist so gründlich abhanden gekommen dass es schon weh tut. Die regelmäßig veranstalteten Trillerpfeifen- und Fähnchenschwenk-Demos sind nur noch Folklore, um den Anschein einer mächtigen Gewerkschaft zu erhalten.

@Ajax:

"Zur Linkspartei kann ich nur sagen.

Ein Bekannter sagte mir vor der Wahl. Die wollen Hartz4 ja auch nicht abschaffen, die wollen nur auf 500 Euro erhöhen. Ja das wäre dann staatstragend und so seh ich die Partei auch."

Das mag ein Bekannter von dir gesagt haben. Richtig ist es dennoch nicht. Es geht darum, in einem ersten Schritt den Regelsatz auf 500€ zu erhöhen. Das Ziel der Linken ist eine Abschaffung von Hartz4 und des damit verbundene Repressionsregimes.

Die Katze aus dem Sack 16. Februar 2010 um 13:18  

Die geplante Demo der FAU, am 20.02. um 18:00, ist eine gute Gelegenheit zur aktiven Teilnahme. Es Bedarf immer einen ersten Schritt, um vorwärts zu kommen.

Anonym 16. Februar 2010 um 15:04  

Die Wahl in NRW ist im Mai.

Seit Monaten hören die Leute in den Medien nur noch den Lautsprecher Westerwelle.
Irgendwann schaltet man ab.
Leute, die so penetrant Recht haben wollen. Und dauernd den moralischen zeigefinger heben machen sich sehr unbeliebt.
Westerwelle hat einen schweren wahltaktischen Fehler begannen.

Pinkwart hat da mehr Instinkt.

Die Menschen sind Westerwellemüde.

Anonym 16. Februar 2010 um 16:41  

Lieber Roberto,

seit Längerem lese und schätze ich Deinen Blog. Ich habe selbst in den vergangenen Jahren nach der Lektüre einiger Werke verschiedener Anarchisten feststellen müssen, dass ich mit fortschreitendem Alter immer radikaler denke. Der Anarchismus stellt sich mir dabei als ideale Vorstellung einer Gesellschaftsordnung dar, in der Menschen im größtmöglichen Umfange befähigt sind, ihre Talente zum Wohle aller einzubringen, ohne sich dabei von Personen oder abstrakten Sachzwängen unter Druck setzen lassen zu müssen. Ein zutiefst humanistischer Idealzustand.

Und dann fahre ich einmal mit der U-Bahn durch Berlin und schaue in die grauen, leeren oder angststarren Gesichter der Menschen, lese einmal die hetzerischen Kommentare in den Online-Ausgaben der großen Meinungsmacher und bin der Verzweiflung nahe. Man sieht ja, dass mit den meisten Leuten in ihrer gegenwärtigen Geisteshaltung nicht mal ein Staat zu machen ist. Wie soll da die Idee überleben, es eines Tages sogar ohne Staat, nur mit Menschen zu schaffen?
Ich danke Dir dafür, dass Du den Mut nicht sinken lässt und die vielleicht auch bei Dir manchmal aufkeimende Verzweiflung wortgewaltig in Wut umwandelst!
Wenn Du mal nach Berlin kommst, kündige es rechtzeitig an, ich lad' Dich dann auf ein Bier ein.

Viele Grüße von noch so einem, der besser Deutsch spricht als viele Deutsche, seine ersten sechzehn Jahre aber als waschechter 'Ausländer' verbringen musste!

Anonym 16. Februar 2010 um 20:45  

Man muß nur das aktuelle Urteil vom Bundesverf.-gericht zu Hartz IV mit den Reaktionen auf die FAU vergleichen, dann erkennt man sofort, wie es um dieses Land bestellt ist bzw. woher der Wind weht.

Mein Respekt vor dem Mut der Menschen, die sich in der FAU organisiert haben und so konsequent wehren.

Anonym 16. Februar 2010 um 21:06  

Es wird immer Menschen geben, die andere dominieren wollen und damit funktioniert Anarchie halt einfach nicht.

Sorry Roberto, aber angesichts dieser unumstößlichen Tatsache, bedeutet Anarchie nur wieder die Herrschaft des Stärkeren. In meinen Augen unterscheiden sich Marktradikalismus und Anarchie nur darin, dass der eine von negativen (leider richtigen) Menschenbild ausgeht und der andere einer Idealvorstellung des Menschen nachhängt, die unrealistisch ist!!

Sollten wir mit solchen Debatten in dieser politisch kritischen Phase wirklich Zeit verplempern?

Ich meine nicht, dass wir uns erlauben können herumzuträumen, während uns von den Marktfaschisten der Boden unter den Füßen weggezogen wird.

Du bist bereits dabei, aufzugeben Roberto! Und um nicht verrückt zu werden, gibst Du Dich Illusionen hin! Das ist aber falsch, weil wir das Rad immer noch herumreißen können!!

Ich will nicht von einem Idealzustand träumen und sehenden Auges zusehen, wie sie meine Wertvorstellungen und Ideale, an die ich glaube, seit ich ein kleines Mädchen war, kaputtmachen! Demokratie! Gleichheit! Solidarität! Jeder ist ein wertvoller Mensch! Schwachen muss man helfen! Verantwortung! Rücksichtnahme! Soll das alles auf einmal nicht mehr gelten?? Wir müssen um unsere Ideale kämpfen, Roberto!! Aufgeben gilt nicht!!!!

Ich mag Dich sehr (obwohl ich Dich nicht kenne) und ich kann Dich verstehen, aber reiß Dich gefälligst zusammen!!! Betäube Dich nicht mit schönen und verlockenden Gedanken, sondern schaue der Scheiße ins Angesicht!

Mit uns machen die das nicht!!!!!!

ad sinistram 16. Februar 2010 um 21:54  

Der Anarchist betäubt sich mitnichten, er glaubt auch nicht an ein Leben ohne Regeln - aber das, was wir heute Gesetz nennen, was uns also vorGESETZt wird, kann nicht als Lebensgrundlage aller dienen. Natürlich kennt der Anarchismus Lebensgruppen, die sich Regeln setzen - daran kommt keine Gesellschaft vorbei. Aber Regeln erlassen die Menschen selbst, keine Gremien, Lobbygruppen, Parlamentarier.

Zudem sind Anarchisten pragmatisch - aber nicht in allem. unverrückbare Werte sind nicht verhandelbar. Der Zweck heiligt auch nicht die Mittel. Aber, wie im Text geschrieben, in einem Staat, in dem Würde gewahrt wird, kann auch der Anarchist leben - er will nicht den Staatssturz um jeden Preis; er ist aber auch nicht um jeden Preis darauf aus, den Staat zu erhalten.

Ich wußte nicht, dass hier psychoanalytische Studien betrieben werden, die meine Resignation darin erkennen wollen, dass ich Befürworter basisdemokratischer Prozesse bin. Leider liest man hier auch viele Kommentare, die sich auch so abkürzen könnten (frei nach Georg Kreisler): "Ich kann doch nicht leben, ohne den Staat."

Der Anarchosyndikalismus war jahrelang eine Größe der spanischen Politik, unkalkuliertes Streikverhalten, relativ spontane Maßnahmen im Arbeitskampf etc. haben der spanischen Arbeitgeberschaft schwer zugesetzt und den Menschen Stolz und Selbstbewußtsein bewahrt.

Wenn heute staatstragende Gewerkschaften Streiks lange vorher ankündigen, zu allem Überfluß auch nur dort streiken, wo sich der Schaden arg in Grenzen hält, dann hat dieses Organisationsungetüm seine Berechtigung verloren - Anarchosyndikalisten kündigen nicht an, sie tun, sie beschließen heute, dass morgen eine Stunde später am Arbeitsplatz erschienen werden soll und die Mitglieder folgen diesem Aufruf spontan - so wie seinerzeit eben in Spanien. Anarchosyndikalismus war kein Traum - und er muß auch nicht wiederbelebt werden, so wie einst. Aber man muß sich die nützlichen Aspekte aneignen und man muß erkennen, dass Basisdemokratie notwendig wird - das Funktionärsgehabe sichert den Menschen keine bessere Welt...

Zur tiefgründigeren Erläuterung sei auf Horst Stowasser verwiesen.

Anonym 16. Februar 2010 um 22:14  

@Roberto J. de Lapuente

Deine Einwände in allen Ehren aber mich plagt da eine Frage:

Rennst du nicht selbst einem Führer nach, wenn Du statt Dich selbst einen "Horst Stowasser" als Richtungsweiser benötigst?

Und was den Anarchismus angeht, die Idee halte ich auch für gut, aber für stark mißbrauchgefährdet:

Es sei daran erinnert, dass die staatstragenden Parteien CDU/CSU/FDP/SPD/GRÜNE schon eine gewisse Art Anarchismus predigen - Der Neoliberalismus ist für Rechtskonservatvie bzw -extreme schon eine Art reinsten Wirtschaftsanarchismus geworden - Man braucht nur die zentralen Thesen der neoliberlalen Ideologie zu lesen, um zu sehen, die Thesen predigen einen reinen Anarchismus für Wirtschaftsbosse, selbsternannte "Eliten" und sonstige vermeintlich Freiheitliche (=Liberale) in Deutschland.

Die Linkspartei ist da die einzige, noch, positive Ausnahme, da sie sich genau diesem Anarchismus verweigert.

Was die linke Variante des Anarchismus angeht, da weiß ich nichts näheres über die Positionen der Linkspartei, aber die Sympathie ist auch mir gewiss, als jemand, der einmal Ken Loachs "Land and Freedom" sehen durfte ;-)

Mir geht es hier nur einmal darum das Mißbrauchspotential, dass auch der Anarchismus beinhaltet näher zu beschreiben - mit dem Hinweis auf den Marktanarchismus der Neoliberalen.

Gruß
Nachdenkseiten-Leser

Anonym 16. Februar 2010 um 23:46  

Ich bin sicher nicht gegen die Basisdemokratie (ich wäre ja schon froh, wenn wir nicht eine reine Show-Demokratie hätten) und gegen spontane Streiks und Menschen, die sich etwas trauen, bin ich keinesfalls! Ich finde dieses Funktionärstum übrigens auch Scheiße. Aber wie weit willst Du gehen mit der Basisdemokratie? Im Großen funktioniert das meines Erachtens nicht bzw. kann ich es mir nicht vorstellen. Was schwebt Dir vor? Sollen wir alle in einer Art Kibbuzim leben? Das beste Beispiel, das Basisdemokratie nicht funktioniert, sind doch die Grünen. Was für lächerliche Hosenscheißer sind die denn geworden? Die Basisdemokratie hört doch für die meisten Menschen auf, wenn sie das Gefühl der Macht bekommen. Und dann ist Schluß mit der Basisdemokratie, dann zählt nur noch der Eigennutz.

Ich bin - zugegebenermaßen - unschlüssig, wie die Zukunft aussehen soll - ich weiß nur, wie sie nicht aussehen soll!!! Roberto, was ich nicht verstehe: Du gehst in fast allen Beiträgen von einer großen Anzahl widerwärtiger, gemeiner, egoistischer Zeitgenossen aus. Andererseits traust Du der Menschheit zu, dass sie ein anarchistisches Modell leben könnte. Wie passt das für dich zusammen? Vielleicht ist das ja auch nur ein Definitionsproblem. Ich hätte gerne denkende, kritische, stolze, liebende Mitmenschen, die sich nicht aufhetzen lassen gegen Minderheiten, weil sie in sich selbst ruhen. Aber was macht die Anarchie mit den Arschlöchern, die nur ihren eigenen Vorteil suchen, die vielleicht sogar ihrem Mitmenschen nach dem Leben trachten? Spätestens dann brauche ich doch wieder eine Art Gerichtsbarkeit, oder? Und schon dreht sich das Rad erneut....

River Tam 17. Februar 2010 um 07:44  

@ Andreas:
Du hast mit Deiner Kritik an den großen Gewerkschaften natürlich völlig recht.
In diese Richtung zielte meine Bemerkung über die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Die Frage ist, wie man kleine Gewerkschaften, die Arbeitgeberinteressen vertreten, gesetzlich von solchen unterscheiden könnte, die Arbeitnehmerinteressen vertreten, und ob bzw. wie man letztere auf Kosten der ersteren fördern und schützen könnte. Hat irgendjemand eine Idee? (Wenn es geht eine mit der man auch im jetzigen System kreativ arbeiten kann? Denn - bei allem Respekt, ich habe im Moment nicht das Gefühl, dass eine Revolution "in der Luft" liegt. Das (will heißen: die Stimmung im Land in den Jahren davor) fühlt sich anders an.)

RiverTam 17. Februar 2010 um 08:26  

@ Roberto:
"was uns also vorGESETZt wird, kann nicht als Lebensgrundlage aller dienen"
Dazu fällt mir der Spruch von Shepard Book aus "Firefly" ein: "Government is a body of people - usually notably ungoverned." - Womit wir bei dem bekannten Problem sind, dass Politiker sich weniger am Allgemeinwohl, denn an ihren eigenen Interessen orientieren, wenn sie mit ihren Gesetzen Realität weben.

Der "Anarchosyndikalismus", den Du beschreibst, könnte sicher dafür sorgen, dass gerade institutionalisierte Vertreter von Interessengruppen wach bleiben für die Interessen ihrer Gruppen und sich daher etwas weniger stark um ihre eignenen kümmern - aber das würde ich nicht als "Anarchie" bezeichnen.

Was diese betrifft, teile ich nämlich die Sorge von Anonym - dass nämlich "Anarchie" zum "Recht des Stärkeren" wird, wenn jemand seine Interessen nur stark genug durchsetzen will - oder, wenn die Gruppe dem vorbeugen wollte - eine abweichende (Minderheiten-) Meinung/ Haltung/ Idee um keinen Preis toleriert werden kann, um das Gesamtkonzept nicht zu gefährden. Beide Möglichkeiten führen in die Tyrannei. (Ich schätze, das hat Dostojewski gemeint, als er einen seiner Protagonisten sagen ließ: "In dem ich in unbeschränkter Freiheit beginne... ende ich in unbeschränktem Despotismus.") - Ich halte das für wenig wünschenswert.

Margitta 17. Februar 2010 um 11:55  

Jaja, immer das "Haar in der Suppe" suchen und es schnell wieder reinwerfen in die Suppe. Dies geht nicht und das ist auch nicht machbar...blahblahblah.

Sicher sind die Einwände und Argumentationen eines jeden berechtigt. Das ist auch nicht das Problem. Das Prolblem ist, dass die meisten sich nicht einmal auf die andere Seite begeben und versuchen mit den Augen der Gegenseite zu sehen. Jeder schöpft nur aus seinen eigenen Erfahrungen. Dabei wäre es so wichtig, Erfahrungen auszutauschen, mit der anderen Seite in Kontakt zu treten.

Seine Erfahrungen in Frage stellen, andere Erfahrungen in sein Denken einbeziehen, das nenne ich Weiterentwicklung.

Klar es kann all das eintreten, was viele Kommentatoren zu Robertos Einträgen zu bedenken geben. Den Beweis was Realität wird, kann nur das Handeln erbringen.

Um neue Wege zu gehen bedarf es Mut Fehler zu machen und wieder aufzustehen um neue Fehler zumachen.

"Ich bin nicht entmutigt, weil jeder als falsch verworfenen Versuch ein weiteter Schritt nach vorne ist." (Thomas Alva Edison)

Liebe Grüße
Margitta

ghost 18. Februar 2010 um 06:51  

Wenn Anarchie und Basisdemokratie nicht funktionieren sollen, weil die Mehrheit der Menschen "schlecht" ist, drängt sich mir sofort folgende Gegenfrage auf: Warum sollten dann andere Gesellschaftsformen besser funktionieren? Oder anders formuliert: Warum sollte dann ausgerechnet die Regierung/Führung aus "guten" Menschen bestehen?

Dominik Hennig 24. Februar 2010 um 02:45  

Und als Anarcho-Libertärer im Geiste von Thoreau, Lysander Spooner, Gustave de Molinari, Benjamin Tucker, Josaiah Warren, Karl Hess, Samuel Konkin III. und Murray Rothbard wird man auch noch von nicht-libertären Anarchisten und von nicht-anarchistischen Libertären (klassischen Liberalen) der Meute und ihrem Staat zu Fraß vorgeworfen! ;-)

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