Sit venia verbo

Donnerstag, 29. Oktober 2009

"Der heutige Liberalismus, sagte er, kombiniere einen fundamentalen Pessimismus hinsichtlich der menschlichen Solidarität mit der Auffassung, das Individuum müsse so frei wie möglich sein. Doch entweder sei man Pessimist und für eine aufgezwungene Ordnung, oder Optimist und dann für die Freiheit. Beides zugleich sei unmöglich. Man könne nicht den Pessimismus des Sozialismus mit dem Optimismus des Anarchismus kombinieren. Doch genau das tue der Liberalismus. Es sei eigentlich ganz einfach, sagte er, man müsse nur wissen, ob man Pessimist oder Optimist sei. Was er denn sei? Anton hob kurz den Blick, senkte ihn dann wieder und sagte: "Pessimist."
Also wählte er die Sozialdemokraten, wie sein Onkel, der zu den vornehmeren Parteimitgliedern gehörte, aus denen in der Regel die Bürgermeister und Minister rekrutiert wurden. Erst Jahre später begriff Anton, daß fast niemand ausschließlich rational und überlegt wählte, sondern ganz einfach aus Eigeninteresse, oder weil er in einer bestimmten Partei den eigenen Nestgeruch vorzufinden glaubte oder der Spitzenkandidat vertrauenserweckend aussah. Es wurde eigentlich "physisch-biologisch" gewählt..."
- Harry Mulisch, "Das Attentat" -

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