Sit venia verbo

Samstag, 11. Oktober 2008

"Die Worte "aktiv" und "passiv" sind jedoch sehr mißverständliche Worte, da sich ihre heutige Bedeutung grundlegend von jener unterscheidet, die sie von der klassischen Antike und dem Mittelalter bis zu der Zeit, die nach der Renaissance begann, hatten.
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Aktivität im modernen Sinn bezieht sich nur auf Verhalten, nicht auf die Person, die sich in einer bestimmten Weise verhält. Es wird nicht differenziert, ob ein Mensch aktiv ist, weil er wie ein Sklave durch äußere Mächte dazu gezwungen wird, oder weil er wie ein von Angst getriebener Mensch unter innerem Zwang steht.
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In der philosophischen Tradition der vorindustriellen Gesellschaft wurden die Begriffe Passivität und Aktivität nicht im heutigen Sinn gebraucht. Das wäre kaum möglich gewesen, da die Entfremdung der Arbeit noch kein Ausmaß erreicht hatte, das dem heutigen vergleichbar wäre. Das ist der Grund, warum Philosophen wie Aristoteles gar nicht klar zwischen "Aktivität" und bloßer "Geschäftigkeit" unterscheiden.
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Daß Aristoteles unsere heutige Auffassung von Aktivität und Passivität nicht teilte, wird unmißverständlich klar, wenn wir uns vor Augen halten, daß für ihn die höchste Form von Praxis, das heißt von Tätigsein - die er sogar noch über die politische Aktivität stellt - das kontemplative Leben ist, das sich der Suche der Wahrheit widmet. Die Vorstellung, daß Kontemplation eine Form von Inaktivität sei, wäre ihm unvorstellbar gewesen.
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In Spinozas Menschenmodell ist das Attribut der Aktivität untrennbar mit einem anderen verbunden: mit der Vernunft.
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Die Affekte teilt er in aktive und passive ein (actiones und passiones). Erstere wurzeln in den Bedingungen unserer Existenz (den natürliche, nicht den pathologischen Einstellungen), letztere werden von inneren oder äußeren deformierenden Einflüssen verursacht. Die ersteren sind in dem Maß vorhanden, in dem wir frei sind; die letzteren sind das Resultat inneren und äußeren Zwangs.
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Für Spinoza ist psychische Gesundheit in letzter Konsequenz eine Manifestation richtigen Lebens, psychische Krankheit hingegen ein Symptom der Unfähigkeit, in Einklang mit den Erfordernissen der menschlichen Natur zu leben. "Dagegen, wenn der Habgierige an nichts anderes denkt als an Gewinn und Geld, und der Ehrgeizige an Ruhm usw., so gelten diese nicht als wahnsinnig: weil sie lästig zu sein pflegen und für hassenswert erachtet werden. In Wahrheit aber sind Habgier, Ehrgeiz, Wollust usw. Arten des Wahnsinns, wenn man sie auch nicht zu den Krankheiten zählt" (Ethik, Teil IV, Erläuterungen zum 44. Lehrsatz). In dieser Äußerung, die dem Denken unserer Zeit so fremd ist, bezeichnet Spinoza Leidenschaften, die den Bedürfnissen der menschlichen Natur widersprechen, als pathologisch; er geht sogar so weit, sie als eine Form vom Geisteskrankheit zu klassifizieren.
Spinozas Auffassung von Aktivität und Passivität ist eine überaus radikale Kritik an der Industriegesellschaft. Im Gegensatz zur heute herrschenden Überzeugung, daß Menschen, die in erster Linie von der Gier nach Geld, Besitz und Ruhm angetrieben werden, normal und angepaßt seien, hält Spinoza sie für äußerst passiv und im Grunde krank. Der aktive Menschentyp in Spinozas Sinn, den er selbst verkörperte, ist inzwischen zur Ausnahme geworden und wird häufig verdächtigt, "neurotisch" zu sein, da er so wenig an sogenannte normale "Aktivität" angepaßt ist."
- Erich Fromm, "Haben oder Sein" -

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