Danke, lieber Gerhard...

Mittwoch, 29. Oktober 2008

Wir sind entrüstet! Da gratuliert der amtierende SPD-Vorsitzende dem ehemaligen Bundeskanzler für seine gute Arbeit, für die gute Zeit, die er den Menschen und unserer Demokratie beschert hat, und keiner von uns durfte sich dabei zu Wort melden. Dabei hätten wir soviel zu sagen, hätten unsere Gratulationen mit wahllosen Erlebnissen und Anekdötchen dieser ach so guten Zeit anzureichern, so dass eigentlich wir - und nur wir! - die wahrhaftigsten Gratulanten wären, wenn man uns nur ließe. Während der derzeitige SPD-Vorsitzende nur vom Schreibtisch aus, weit entfernt also vom herrlichen Wirken der schröderianischen Arbeit, herumphantasiert, kennen wir die Wirkungen haargenau, die uns unser Väterchen Deutschland, nun im Auftrage von Mütterchen Rußland, geschenkt hat. Auch wir wollen uns für diese köstliche Zeit bedanken, wollen dem Großen Vorsitzenden herzlichste Gratulationen zukommen lassen.

Wir, die Opfer der Agenda 2010, wollen ihm Huldigungen entgegenbringen. Durch ihn und mit ihm und in ihm, wurden wir für den Arbeitsmarkt aktiviert, wurden durch Repressionen und zwangsverordnete Hungermaßnahmen zu duldsamen Sklaven unmöglichster Arbeitszustände. Weil es ihn gab, dürfen wir heute arbeiten, dürfen ein Leben in Leiharbeit, in prekären Arbeitsverhältnissen fristen; weil dieser große Visionist für uns Politik betrieb, dürfen wir heute Probezeiten von bis zu sechs Monaten über uns ergehen lassen. Unser GröKaZ hat uns Sicherheit gegeben - die Sicherheit, dass nichts mehr sicher ist. Wir danken Dir, großer Schröder, dass wir keine Familienplanung mehr machen müssen, dass Du uns die Entscheidung eine Familie zu gründen dermaßen erleichtert, sie uns regelrecht abgenommen hast - weil Du warst, ist das kinderlose Familienmodell, gar das Einzelgängerdasein dank Arbeitsnomadentum, noch salonfähiger geworden. Ohne Dich wäre der mobile Wanderarbeiter bloß eine romantische Vorstellung aus Zeiten derbsten Manchester-Kapitalismus' - mit Dir wurde diese Anleihe an die Geschichte der Ausbeutung wieder Realität.

Und auch die sozialen Randgruppen wollen nicht wortlos am Rande stehen. Auch sie wollen dem großen Mann der deutschen Sozialdemokraite mit Ehrungen bedenken: Heiliger Schröder wir danken Dir! Unter Deiner Ägide wurden wir wieder öffentlich wahrgenommen. Durch Hatz, durch Diffamierung und Diskreditierung, durch Pogromstimmung hast Du die Augen der Öffentlichkeit wieder auf uns Rentner und auf uns Arbeitslose gelenkt. Endlich wurden wir wieder als lebendige Wesen wahrgenommen - allzu lebendig für manchen. Devot werfen wir uns zu Boden und lobpreisen Deine Weisheit, die sich darin äußerte, unsere Existenzberechtigung anzweifeln zu lassen, uns zu Freiwild zu machen, uns als Schmarotzer und Parasiten zu verunglimpfen - ohne diese Segnungen schröderianischer Arbeit wären wir womöglich unbeachtet oder lediglich von solchen beachtet, die es ja wirklich nicht gut mit uns meinen. Durch Deine Politik erkennt nun die Öffentlichkeit der Arbeitslosen Anliegen: Mehr Bier, mehr Faulheit, mehr Schmarotzertum! Du hast uns der Masse nähergebracht!

Erhöre auch uns, gesegneter Kanzler früherer Tage! Auch wir, die Opfer Deiner Deregulierungspolitik wollen nicht schweigen müssen, während Deiner so liebevoll gedacht wird. Das Prinzip der Deregulierung hast Du entfesselt wie niemand zuvor. In der Arbeits- und Sozialpolitik genauso wie auf dem Finanzmarkt. Maßlosigkeit hast Du zwar als Todsünde entlarvt, aber maßlos hast Du die Maßlosigkeit erst entfesselt. Steuersätze für Konzerne wurden beseitigt, Spitzensteuersätze herabgesetzt - Deiner Weisheit ist es heute zu verdanken, dass wir sicher in Unsicherheit ausharren, dass wir nicht mehr wissen, wo wir morgen unser täglich Brot verdienen dürfen, dass unsere Ersparnisse von einer gierigen Bankerschaft aufgefressen werden. Wir verdanken es diesem Politiker der ruhigen Hand, dass Heuschreckenplagen über unser Land zogen und noch ziehen; wir verdanken ihm den Ausverkauf gesellschaftlichen Besitzes; wir verdanken ihm PSA und legitimierte Leihsklavenschaft. Vorallem die Unsicherheit ist sein Erbe - Du, gütiger Sozialdemokrat, warst es, der in unsere Köpfe die Angst und Ungewißheit eingepflanzt hat, Du hast uns damit Beine gemacht und uns zur Unterwürfigkeit in allen Lebenslagen erzogen, hast uns Demut gelehrt, hast uns deutlich gemacht, dass wir keine Ansprüche mehr zu stellen hätten, dass wir selbst dem größten Ausbeuter vor die Füße zu fallen haben.

Friede sei mit Dir, Gerhard! Wir Pazifisten wollen in nichts nachstehen. In Deiner Amtszeit wurde die Bundeswehr wieder mächtig. Friedensarmee nanntest Du sie - und für dieses Wort muß man Dir pazifistisch-demutsvoll danken. Als Wegbereiter jungscher Pläne, war es Dir gegeben, uns Deutschen wieder einen Platz an der Sonne zu sichern. Der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr seit 1945, danach die Teilnahme am Angriffskrieg gegen Afghanistan und natürlich die große Friedensgeste, als der Irak nicht von deutschen Soldaten erobert werden sollte, zeichneten die Ära Schröder als friedvolle, auf Diskussion nicht auf Aggression bedachte Zeitspanne aus. Der Friede sei mit Dir, weil Du ein Friedensengel warst und bist, weil Du selbst in suspekten Staatsmännern "lupenreine Demokraten" witterst - soviel Liebe zum Menschen, auch Liebe zum vermeintlich Bösen, kommt einer jesuanischen Lebensauffassung gleich! Ohne Dich, wären wir zwar friedlich, aber militärisch unbedeutend auf dem Erdenrund.

Nun haben wir aber geradegerückt, was von der deutschen Sozialdemokratie nicht erläutert wurde, was der hochgeliebte SPD-Vorsitzende in seiner Eile wohl vergessen hat - er hat womöglich nicht viel Zeit, wie in letzter Zeit viele SPD-Vorsitzende nur kurz Zeiten in Anspruch nahmen -; nun haben auch wir uns bedanken dürfen für diese herrliche Zeit in Deinem Regime, welches das heutige Regime so erstklassig befruchtet hat. Soviel Mut und Entschlossenheit muß man einfach lieben, auch wenn die Wirkungen und Folgen von Schröders Arbeit uns nicht sehr liebevoll entgegenschlagen - er hat es ja trotz allem gut gemeint mit uns. Und wir wollen auch dem Stümper, der gute Absichten hatte, an denen er aber schlußendlich böse scheiterte, respektvoll dankbar sein. Es hätte ja schlimmer kommen können: Wir hätten damals weiterhin eine konservative Regierung haben können, die soviel Mut und Entschlossenheit niemals auf die Beine gestellt hätte. Daher: Hoch soll er leben, unser allseits geliebter Volkstribun, dieser maximo líder der deutschen Sozialdemokratie. Ganz im Sinne des derzeitigen SPD-Häuptlings: Pack' wieder kräftig mit an! Laß uns noch mehr Deiner Gütigkeiten zukommen! Wir können es kaum mehr erwarten...

24 Kommentare:

Anonym 29. Oktober 2008 um 14:21  

um die große leistung von schröder mit weiteren heldentaten anzureichern, hier eine notiz von nebenbei bemerkt:
Fundsache: "Kombi- kontra Mindestlohn - eine paradoxe Kontroverse":
>>Früher galt die Norm, jemand müsse von einem Vollzeitjob eine Familie ernähren können. Heute dürfen die Firmen unterstellen, dass Vollzeitkräfte von den Familien miternährt oder eben vom Staat mittels Kombimodellen unterstützt werden. Was da pro Stunde gezahlt wird - Tarifverträge der IG Metall über 3,86 Euro brutto für das Sanitär- und Heizungshandwerk und über 3,06 Euro von Ver.di für das Friseurhandwerk in Sachsen sowie die 1,80 Euro für Zimmermädchen in einem großen Hamburger Hotel - markieren die derzeit bekannten Tiefpunkte. Dergleichen kann nicht mehr als Entlohnung bezeichnet werden, sondern nur noch als mageres Trinkgeld, als Bakschisch. Doch Kinderlohn zieht Kinderarbeit nach sich. Zwei Zitate aus einer Untersuchung der Input Consulting Stuttgart in der PIN-Branche illustrieren die soziale Realität in diesen Firmen: “bei den Fahrern, da kriegst du oft mit, dass da die Kinder mithelfen, also zehnjährige Kinder und […] schwere Kisten schleppen […].Und wo dann der Vater sagt, alle müssen zusammen helfen, sonst langt es nicht”. Und weiter: Da ist “auch so eine arme Frau, die […] von morgens um sieben bis abends um Viertel acht arbeiten muss und trotzdem nicht genug Geld hat […] und dann noch drei Kinder hat […] das ist wie vor hundert Jahren.”[11]<<
http://notatio.blogspot.com/2008/10/fundsache-kombi-kontra-mindestlohn-eine.html

Anonym 29. Oktober 2008 um 16:44  

Natürlich bedankt sich Münte bei Schröder. Er hat ja all diese Sauereien mit vorangetrieben. Er dankt sich also qusi selber für seine hervorragende Arbeit. Das ist wahre Bescheidenheit.
Ich hoffe und wünsche, die menschen in diesem Land erhalten irgendwann Gelegenheit sich richtig zu bedanken

Anonym 29. Oktober 2008 um 16:47  

Es gilt eben immer noch: "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!"

Vielleicht sollte man das mal klarstellen: SPD bedeutet keineswegs "sozial-demokratische Partei Deutschlands", sondern "Streber Partei Deutschlands". Denn es ist doch - bzw. war auch schon immer - so: in der SPD haben die zusammengefunden, die strebsam sind und gesellschaftlich aufsteigen wollen. Steinbrück hat es vor einiger Zeit in einem Interview doch auch offen gesagt: "Man muss nur die unterstützen, die es auch schaffen können." Sinngemäss aus dem Gedächtnis zitiert. Das er selbst als (Wahl-)Verlierer die Karrieretreppe hinaufgefallen ist - nun ja - das ist eben die Solidarität der Streber Deutschlands.

ad sinistram 29. Oktober 2008 um 17:10  

Das Zitat lautete:

„Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern.“

Joachim R. Pont 29. Oktober 2008 um 17:32  

Den einen loben sie, die andere machen sie fertig. Schröder ist zurück, würde ich sagen.

Anonym 29. Oktober 2008 um 17:39  

„Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun..."

Wie selbstlos! Wahrlich in münteferingischen Sinn!
Denn ich verstehe das so: Die Politiker rechnen sich selbst nicht mehr zum Kreise derjenigen für die Politik etwas tun muss!
Andererseits könnte ich mich täuschen... Denn es heißt ja nicht "...etwas positives für die Zukunft..."

Anonym 29. Oktober 2008 um 18:15  

@Roberto: Danke für das einstellen des Zitats.

Ein Hoch auf die Strebsamen?!?

Ich denke: die Gesellschaft sollte alle die unterstützen die Unterstützung brauchen. Aber das ist ja total von gestern. Der heilige Gerhard und sein Gesocks - ähem - ich meine seine Mitstreiter wie die beiden Steine und Münte zeigen uns jetzt wo's lang geht. Vorwärts Genossen! Es geht zurück zum Manchester-Kapitalismus.

Anonym 29. Oktober 2008 um 19:31  

beim Lesen hatte ich fast den Eindruck, bei "Neues aus der Anstalt zu sein" und Wilfried Schmickler zuzuhören - Klasse

Anonym 29. Oktober 2008 um 19:46  

Tja, man merkt auch am Schweigen des Entwicklungshilfeministeriums wie asozial der neoliberale Einheitsbrei in Deutschland ist - vor kurzem geisterte die Nachricht durch die Medien, dass nun schon 1 Milliarde Menschen hungern. Warum? Nein, nicht weil die Ernten schlecht waren, oder aus anderen tatsächlichen Gründen - das spekulieren auf Lebensmittel und Biokraftstoffe ist der Grund.

Tja, und wo bleibt da der Aufschrei der Öffentlichkeit? Müssen wir warten bis die ersten Menschen verhungern, weil die sich die hohen Lebensmittelpreise in der Dritten und Vierten Welt nicht mehr leisten können?

Wo sind die Grünen? Wo hier der Aufschrei? Sonst setzt man sich doch bei jeder Gelegenheit für die armen Länder ein. Warum jetzt nicht? Liegt es an der Bauchnabelschau von unseren "Eliten", die lieber für Armut - auch im eigenen Land - sorgen, und Arme statt der Armut weltweit bekämpfen?

Ich habe damals meinen SPD-Aufnahmeantrag verbrannt als Schröder salbaderte: "Es gibt kein Recht auf Faulheit." Womit er eine - seit 1945 einmalige Hetzkampagne gegen "sozial Schwache" einleitete. Ich roch damals schon den Braten, und habe meinen Nichteintritt in die asoziale SPD bis heute nicht bereut.

Wie es weiter heißt:

"Wer hat uns verraten? Die Sozialdemokraten".

Übrigen, auch damals fing der Geschichtsfälschungsdrang der SPD bereits an - der Verrat an der Novemberrevolution wurde von denen so gedreht, dass niemand mehr fragen sollte, wer den die Arbeiter zum Aufstand 1918/19 aufgestachelt hat und wer zuerst auf die kartäschen - sogar mit Giftgas - ließ:

DIE SPD mit ihrem NOSKE....

Gruß
Nachdenkseiten-Leser

PS: Heute wimmelt es in der SPD ja vor NOSKES, daher auch kein Wunder, dass dort nichts mehr hilft....außer einem Austritt aus der SPD.....

Anonym 29. Oktober 2008 um 19:49  

Noch was, der Historiker dem die SPD seither in Haßliebe verbunden ist, weil der - trotz Spd-Geschichtsfälschern - die wahre Schuld der SPD am Verrat an den Arbeitern damals entlarvte war der erzkonservative Historiker Sebastian Haffner.

Der selbe Historiker meinte auch einmal, dass auch Historiker Menschen mit eigenen Lebensumfeld seien, und Geschichte je nach Parteipräferenz schrieben - wie wahr wenn man an heutige neoliberal-konservative "Historiker" denkt, die eigentlich nur noch Geschichte fälschen...

Gruß
Nachdenkseiten-Leser

Anonym 29. Oktober 2008 um 22:27  

Du schreibst einfach gut, sehr erfrischend und exakt auf den Punkt gebracht.
Danke.

Anonym 29. Oktober 2008 um 22:56  

Schröder könnte auch der leibhaftige "Große Bruder" aus George Orwells Roman "1984" sein.

Anonym 30. Oktober 2008 um 00:20  

„Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – UND NUR UM DIE – muss sich Politik kümmern.“

Erschreckend solche Sätze in einer Gesellschaft lesen zu müssen die sich selbst für modern im Sinne von aufgeklärt hält. Da drängt sich unwillkürlich die Frage auf was mit den Kranken, Schwachen etc, also mit den Menschen die aus unterschiedlichen Gründen keine "Leistung für sich und unsere Gesellschaft" (mehr) erbringen können, passieren soll ??

Gruss
Ein (um dieses Land besorgter) Leser

ad sinistram 30. Oktober 2008 um 08:14  

Lieber besorgter Leser,

aufgeklärt ist der Zustand dieses Landes nicht - das will man nur so darstellen. Viel eher hat sich ein Zynismus in die Institutionen hineingeschlichen - viele sagen, es sei ein Zynismus, der dadurch entstanden sei, dass die Revoluzzer von 1968 "ins Boot geholt" wurden, d.h. von der Wirtschaft und der Politik verpflichtet wurden, um den revolutionären Kräften von 1968 das Wasser abzugraben.

Sloterdijk stellt in seiner "Kritik der zynischen Vernunft" fest, dass dieser Zynismus ein Produkt gescheiterter Aufklärung ist. Da wir zwar meinen in aufgeklärten Zeiten zu leben, aber offensichtlich bemerken, dass die Aufklärung Grenzen haben muß, weil ja immer noch soviele unaufgeklärte Mißstände vorherrschen, legt sich der moderne Mensch ein dickes Fell, d.h. einen ungesunden Zynismus zu.

Auch ich neige zu Sloterdijks Ausführungen: Die Aufklärung - das "Siècle de Lumières" - ist famos gescheitert. Auch weil wir glauben, bzw. Glauben gemacht bekommen, dass das Höchstmaß derselbigen erreicht ist.

Anonym 30. Oktober 2008 um 10:17  

Ähnlich wie mit dem Falsch-Etikett Aufklärung verhält es sich mit dem Begriff Wissensgesellschaft, zu dem in Kassel letztes Jahr eine öffentliche und ernstgemeinte Veranstaltung der Uni stattfand. Treffender für den heutigen Zustand wäre der Begriff Verblödungsgesellschaft.

Anonym 30. Oktober 2008 um 10:31  

Roberto schrieb: "Die Aufklärung - das "Siècle de Lumières" - ist famos gescheitert. Auch weil wir glauben, bzw. Glauben gemacht bekommen, dass das Höchstmaß derselbigen erreicht ist."

Kant forderte in seinem berühmten Artikel Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (http://www.ub.uni-bielefeld.de/cgi-bin/neubutton.cgi?pfad=/diglib/aufkl/berlmon/122842&seite=00000513.TIF&werk=Zeitschriften+der+Aufklaerung) den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Diese Aufforderung ist heute aktueller bzw. notwendiger denn je. Das die Aufklärung gescheitert ist mag ich nicht glauben. Aber: es gibt noch viel zu tun. Z. B. bei meinem Lieblingsthema Demokratie: viele glauben, dass wir in einer Demokratie leben. Ich denke, dass wir in einer Aristokratie leben. Wäre solch eine Politik wie Schröder sie gemacht hat in einer Demokratie möglich? Wohl kaum.

D. Mokrat

Anonym 30. Oktober 2008 um 11:33  

Lieber Roberto j. de Lapuente,

als Freidenker kann ich dem nur hinzufügen, dass du richtig liegst, die Aufklärung ist famos gescheitert, aber es tut sich was, denn ausgehend aus dem humanistischen-freidenkerischen Spektrum wird nichts anderes verlangt als eine "neue Aufklärung".

In diesem Sinne hoffe ich, dass die "neue Aufklärung" dann nicht allein für Religionskritik gilt sondern sich eben auf weitere Felder ausdehnt...

Wie ich bereits erwähnte, es war ja auch 1789 so, dass dem ein "Zeitalter der Aufklärung" - auch mit dt. Aufklärern wie Kant - vorausging.

In diesem Sinne bleibe ich optimistisch, denn ewig kann es nicht so weitergehen...

Gruß
Nachdenkseiten-Leser

PS: Auf Frankreich hoffe ich da allerdings heute weniger, dort regiert ein französischer Berlusconi - er selbst nennt sich Sarkozy und unterdrückt eben wie sein italienischer Amtskollege die unabhängige Presse - wie man vor kurzem im TV mitverfolgen konnte....heute braucht man in Frankreich keine JournalistInnen mehr einzusperren, die Sache geht eher so, dass der betreffende Kritiker - egal wie hoch der als Journalist steht - um seine berufliche Existenz fürchten muss...ist zwar genauso schlimm, aber nicht so offensichtlich wie wenn man, als Sarkozy, Pressevertreter einsperren würde....

ad sinistram 30. Oktober 2008 um 12:39  

Lieber D. Mokrat,

ich möchte hinzufügen, dass ich nicht glaube, die Aufklärung sei gescheitert, weil in ihr der Keim des Scheiterns angelegt war - sagen wir es vielleicht anders: Die Aufklärung wurde jäh unterbrochen - durch Industrialisierung und Entfesselung des Kapitalismus. Vielleicht ist es so treffender umschrieben.

Anonym 30. Oktober 2008 um 14:48  

Lieber Roberto J. De Lapuente,

so - das das Scheitern bereits im Kern angelegt war - hatte ich deine Auusage auch nicht aufgefasst. Mir ging es um den Glauben, dass das Höchstmass an Aufklärung erreicht wäre. Dieser deiner Auffassung wollte ich auch gar nicht widersprechen, sondern nur daran erinnern, dass bereits Kant mehr eigenständiges Denken - und damit weniger glauben - angemahnt hat.

Das die Aufklärung (auch) durch die "Entfesselung des Kapitalismus" unterbrochen wurde sehe ich auch so. Der frühere Landadel (kann man das so nennen?) wurde durch den Adel der (Finanz-)Kapitalbesitzer abgelöst. Die liberalen (Besitz-)Bürger sind meiner Auffassung nach Aristokraten. Und sie haben keinerlei Interesse daran, dass die Bevölkerung sich ihrer Lage bewusst wird und diesen Zustand ändern will. Wenn die Bevölkerung Kants Forderung ernst nehmen würde wäre schon viel gewonnen. Aber statt dessen glauben sie lieber - obwohl sie es besser wissen - den Geschichten die sie von den derzeitigen Aristokraten erzählt bekommen.

Anonym 30. Oktober 2008 um 23:03  

@ Roberto

Mich würde interessieren, was du mit deiner Aussage meinst, wonach man erst die 68er-Revoluzzer in Wirtschaft und Politik geholt hat und damit dem gesellschaftlichen Zynismus des gescheiterten Aufklärungsprojekts Vorschub geleitet habe.

ad sinistram 31. Oktober 2008 um 08:38  

Lieber Markus,

ich möchte Deine Frage mit einem Zitat beantworten. Dieses entstammt dem Buch "Existenzialismus" von Thomas Seibert:

„Die Repression war jedoch nur der erste Schritt. Der zweite bestand in der Modernisierung der herrschenden Verhältnisse, in die nicht wenige „Errungenschaften“ der Neuen Linken einbezogen wurden. Tatsächlich ist die Modernisierung zum Schicksal der Generation von ´68 geworden. Schnell wurden die eingeholt, die sich auf den „Marsch durch die Institutionen“ begaben: Die tägliche Plackerei, die Enttäuschung über die mangelnde Resonanz und die Vergünstigungen der Beamtenexistenz führten die „Subversiven“ in die Gesellschaft zurück. Indem sie den Umbau der Erziehungs-, Sozial- und Justizbehörden organisierten und ihre besonderen Fähigkeiten und Bedürfnisse in den „kreativen“ Berufen der schnell wachsenden Kulturindustrie verwerteten, wurden zahllose Aktivisten der Neuen Sozialen Bewegungen und der Popkultur zur Elite einer umfassenden flexibilsierten Gesellschaft – zur „Neuen Mitte“ des Neoliberalismus. Die Motive der Revolte – Verachtung der Religion, Ablehnung der Arbeit, Ausbruch aus Ehe und Familie, Befreiung von subjektiven Wünschen – verwandelten sich in einen diffusen Zynismus, der alle Bereiche des Alltags durchdrang und den Vergesellschaftungsprozess in einem Konkurrenzkampf entfesselte, der kein Pardon mehr kennt.“

Anonym 31. Oktober 2008 um 22:27  

Wenn alles so trostlos wäre, lieber Roberto, wie Du das darlegst, müßte man Dir und mir und den anderen Schreibern und Kritikern der herrschenden Politik zurufen: "Andere könnt ihr kritisieren, aber selber wollt ihr nichts tun; oder euer gesellschaftskritisches Räsonieren und Monieren ist letztlich unangebracht, da sich ja doch nichts zum Besseren ändern läßt. Geht also nach Hause, ihr Populisten!"

Zweifellos ist die in dem gebrachten Zitat geäußerte massive Kritik an den "zynischen 68er" berechtigt. Sind die Revoluzzer von `68 nicht aber auch an ihrer eigenen Maßlosigkeit, Besserwisserei und Naivität gescheitert und nicht nur an den Zwängen und Verlockungen des Systems, das sie einst revolutionieren wollten?

Warum sollte dieses Scheitern aber einer möglichen neuen-alten Aufklärung im Wege stehen und, anstatt mit "skeptischem Optimismus" einen weiteren reformerischen Anlauf zu nehmen, in unpolitisch-politischer Opposition jenseits und außerhalb der staatlichen Institutionen enden?

Anonym 2. November 2008 um 15:33  

Dito.
Was ich auch traurig finde ist, dass gerade die junge Generation, deren "Aufgabe" es doch eigentlich sein sollte, zu rebellieren- gerade gegen Missstände wie sie heutzutage offensichtlich ja existieren- sich kaum noch für Politik begeistert, geschweige denn dazu bereit ist, gegen das momentane System zu protestieren.

Ich kann mich selbst als eher politikverdrossen bezeichnen, und weiß dass es es wesentlich bequemer ist, nicht zu hinterfragen, was in den Massenmedien propagiert wird (natürlich ist Bequemlichkeit keine Entschuldigung- aber dennoch ein Grund).

Schließlich muss man, nachdem man sich Gedanken gemacht hat, doch auch Schlüsse für sein eigenes Handeln ziehen. Damit meine ich zum Beispiel bewusster zu konsumieren, politisch aktiv zu werden.

Die 68'er sind in meinen Augen nicht komplett gescheitert- da sie Spuren in den Köpfen der Leute hinterlassen haben- aber sie wurden auch durch den Kapitalismus untergraben, indem sie einfach, wie alles andere auch, vermarktet wurden.
Es ist ja noch heute "cool", in "alternativer", "hipper" Kleidung herumzulaufen- und viele fühlen sich dadurch individuell obwohl sie gerade dadurch wieder Teil einer uniformen Gruppe werden.
Für mich nur ein Grund mehr, dass an dieser profitorientierten Mentalität unbedingt etwas geändert werden muss!

Anonym 2. November 2008 um 18:59  

Wenn's nach Götz Alys "Unser Kampf.." geht sind die 68er nichts anderes als verkappte Nazis - im Ernst, dieser erzkonservative "Historiker" meint es wirklich so mit seinem neuesten Buch.

Seltsam finde ich, dass derzeit nirgends - weder im Netz noch bei "Historikern" - eine geschichtliche Tatsache erwähnt wird, die man an den GRÜNEN sehr gut nachverfolgen kann:

Der Marsch durch die Institutionen ist zwar erfolgt, aber die 68er haben nicht "das System" verändert sondern die Sache lief genau umgekehrt - Das System veränderte die 68er, wie man sehr gut an Joschka Fischer, Jürgen Trittin und anderen ehemaligen Revoluzzern nachlesen kann, die bürgerlich gewendet wurden, und zwar so, dass die heute die neoliberale Variante der FDP mit dem GRÜNEN vertreten.

Frau Künast (GRÜNE) hört das nicht gerne, aber es ist eine auf der Hand liegende Tatsache, die dank der erzkonservativen Medienhoheit in Deutschland - derzeit noch - totgeschwiegen wird, während das Restvolk schon darüber tuschelt....man könnte einen Spruch neu schaffen mit dem Inhalt:

"Wer hat uns verraten? Die 68er bei den GRÜNEN und die SOZIALDEMOKRATEN.

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