Kunst oder Ästhetik?

Donnerstag, 19. Juni 2008

Was Kunst sei, beschäftigt in diesen Tagen viele Gemüter. Diese ewige Frage, dieser Dauerbrenner intellektueller Diskussionen, der die Menschen vor Hunderten von Jahren genauso beschäftigte wie heute, findet gerade in den letzten Jahren Nahrung: Ist es Kunst, wenn laienhafte Gesangesbarden vor einer Jury trällern? Sind diverse andere Erscheinungsformen künstlerischer Gestaltung als Kunst faßbar? Wir kennen alle die Situation, in der wir mit vermeintlicher Kunst konfrontiert werden und kopfschüttelnd aussprechen, dass dies keine Kunst sein könne. Aber müssen wir als Kunst nicht auch begreifen, was uns ästhetisch nicht anspricht? Folgend soll nur ein kurzer und bescheidener Versuch getätigt werden, sich mit der "Kunst" auseinanderzusetzen. Dabei werden ästhetische Kategorien beiseite geschoben, da sie lediglich subjektiver Erscheinung sind und so nicht begreiflich machen können, wie Kunst zu verstehen ist.

Die etymologische Betrachtung bietet uns einen ersten Fingerzeig: "Kunst" entstammt dem "Können". Einem Können, welches dem Tierreich mit seiner triebhaften Geworfenheit in der Gesamtheit der Welt unbekannt ist. Der Mensch kann, er erlernt Können, schaut es sich ab und setzt es gekonnt in die Tat - in die eigene Tat - um. Der vom Können abgeleitete Kunstbegriff existiert nur in einer Welt, in der es Menschen gibt. Wo Menschen sind, wir gekonnt getätigt, wird daher Kunst betrieben. Das Produkt des Menschen, das Künstliche also, ist Grundvoraussetzung der Kunst - das Künstlerische erzeugt das Künstliche. Wo menschliche Kunst waltet, entsteht Künstliches. Diese Erfahrung von Tausenden Generationen ist es, die eine Schöpferidee hat entstehen lassen. Weil der Mensch gekonnt erschuf, glaubte er sein Dasein in Raum und Zeit, gebettet in einen natürlichen Kreislauf und zwischen Mitgeschöpfen, mit einer göttlichen Spiegelung seiner selbst, mit einem erschaffenden höchsten Wesen erklärbar machen zu können. Kunst und Religiosität bedingen daher einander, entstammen beide dem Können des Menschen.

Kunst ist keine Einrichtung, welche sich für gesellschaftliche Kreise quasi künstlich installieren ließ. Kunst ist nicht nur jenes, welches sich hier für elitäre Riegen, dort für proletarische Massen in abgestufter, abgewandelter, hier sublimierter, dort rauher Manier darstellt. Dies ist lediglich der beschränkte Raum der Kunst, jener also, den wir der Einfachheit halber Kunst nennen, der Kunstbegriff des Alltags also. Anders: Wenn wir danach fragen, was Kunst zu sein hat, dann meinen wir damit nicht nur das Künstliche eines Michelangelo, eines van Gogh oder Picassos, sondern das generalisierte Können eines jeden - der Menschheit wenn man so will. Kunst ist nicht nur der ästhetisch erhabene, meist kommerzialisierte Bereich des Künstlichen, sondern die Gesamtheit allen menschlichen Könnens. Wer bei Kunst nur nach Namen fragt, wer Kunst mit Rembrandts und Botticellis begreiflich machen will oder das Künstlerische an dem Künstlichen der Meister ermessen möchte, der bewegt sich nicht im Raume unserer Frage, sondern glaubt elitäre Kunstschaffung als Ausweg und Antwort für sich beanspruchen zu können. Kunst beinhaltet mehr - ist mehr. Sie ist nicht mit individuellen Meisterwerken erklärbar zu machen, sondern hat anderen Kategorien zu folgen.

Die menschliche Welt ist eine künstliche Welt. Auf eines der drei plessnerschen anthropologischen Grundgesetze anspielend: Der Mensch bewegt sich in „natürlicher Künstlichkeit“. Er lebt nicht in natürlicher Geborgenheit, im Schoße seiner ummittelbaren Umwelt, sondern er nimmt den „Umweg über künstliche Dinge“. Des Menschen Natürlichkeit ist Künstlichkeit. Er muß fertigen, gleich ob gedanklich oder handwerklich, um seiner Natürlichkeit Ausdruck zu verleihen. So nutzt er nicht die geballte Faust, sondern einen Hammer; sein Obdach ist nicht der Himmel oder die Krone eines Baumes, sondern ein Haus. Der Mensch ist Kulturträger und Schaffender. Dies setzt ein Wissen, ja, ein Können voraus. Dies Können, diese Kunst folglich, ermöglicht des Menschenwesen Natürlichkeit im künstlichen Kosmos. Zwar nimmt der Mensch das Gegebene an, doch widerstrebt es ihm, zu akzeptieren, was sich ihm darbietet. Er strebt danach, der Formgeber des Gegebenen zu sein, er will künstlerisch tätig werden, will - und muß - das natürliche Gegebene mit Künstlichkeit durchziehen. Durch Erkennen, Handeln und Gestalten vermittelt er gegenüber der Unmittelbarkeit des Vorgegebenen. Dieses zweite Grundgesetz Plessners - "vermittelte Unmittelbarkeit" - besagt, dass der Mensch beständig nach Erfindungen und Entdeckungen strebt, die das Vorgegebene mit seiner menschlichen Welt vermittelbar machen. Was sich hier noch im Materiellen abspielt, wird im dritten Grundgesetz, der "utopische Standort", auf geistige Ebene gehievt. So ist nicht nur in der realen Welt die Kunst des Menschen dessen Natürlichkeit. Durch den tiefen, aber natürlich-künstlichen Graben, der den Menschen von seinem Umfeld, der Natur also, trennt, ersinnt er in seiner kreativen Wesensart einen absoluten Weltgrund. Die Kunst offenbart sich religiös; es ist spirituelle Kunst. Der Kern aller Religiosität ist das Muss des Menschen, Künstler zu sein. Gott ist folglich das Künstliche - so wie wir es weiter oben schon festgestellt haben.

Die Frage, wie Kunst zu definieren sei, ist demnach die Frage nach dem Wesen des Menschen. Wenn wir heute, eingepflanzt in einer Gesellschaft, die Kunst als elitäres Zelebrieren von Vernissagen oder als Verständigkeit in Fragen der Kunst der alten Meister begreift, nach ebenjener fragen, so meinen wir damit eigentlich die Frage nach der Ästhetik. Kommen wir zu der Erkenntnis, das dies oder jenes keine Kunst sei, so wollen wir eigentlich damit sagen, dass uns dies oder jenes ästhetisch nicht anspricht. Wenn ein Kunstschaffender, so wie einst geschehen, aus menschlichen Kot Figuren bastelt, so spricht uns dies im Regelfall ästhetisch nicht an, aber Kunst aufbauend auf den Grundgesetzen Plessners ist es dennoch - es ist künstlich, dem Können des Menschen entsprungen, auch wenn wir dieses Können ekelhaft finden. Die Abhandlungen nach der Künstlichkeit der Kunst sind daher unzureichend und behandeln nur den abgegrenzten Raum, welcher in der Alltagssprache „Kunst“ genannt wird. Eine Kunst also, die wir nicht als menschliches Wesensmerkmal, sondern meist als gesellschaftliche Institution betrachten und verstehen. Die Beantwortung der Frage, was Kunst sei, ist relativ unspektakulär und einfach; die Beantwortung der Frage nach der Ästhetik - die wir ja eigentlich meinen, wenn wir Kunst kritisieren und als solche nicht begreifen wollen -, ist unbeantwortbar und nur soziologisch, kulturell und traditionell zu erahnen, nicht aber hinreichend zu beantworten.

Was also ist Kunst? Um der gestellten Frage doch noch gerecht zu werden: Die Frage nach der Kunst ist die Frage nach der „natürlichen Künstlichkeit“. Die "natürliche Künstlichkeit" entspricht dem Wesen des Menschen. Wer folglich nach Kunst fragt, fragt daher immer auch: Wer sind wir? - Die Kunst ist also nicht, wie es meist interpretiert wird, eine Nische gebildeter oder scheingebildeter Menschen, sondern Wesensmerkmal des gesamten Menschengeschlechts. Und folglich sind die Gesangesbarden aus diversen Fernsehsendungen Künstler. Sie erschaffen Künstliches, wenngleich vielleicht nicht so gekonnt, wie es die Meister ihres Fachs tun. So besehen ist der Mensch per se ein Künstler, jede Tat ein kleines, für sich selbst sprechendes Kunstwerk - ja, selbst die Politik, die "Kunst des Pragmatischen", ist aufgrund ihrer Künstlichkeit als Sachverwalter gesellschaftlicher Strukturen, eine Form des Kunst.

Unserem ästhetischen Empfinden mag es dennoch oft nicht zusprechen, es mag uns sogar dermaßen anwidern, dass wir salopp behaupten, dies alles sei keine Kunst. Aber dies ginge an der Begrifflichkeit vorbei, denn die Kunst eines Menschen zu leugnen, leugnet - im Sinne Plessners - den gesamten Menschen. Wir können über die Qualität der Kunst sprechen, über Vorzüge und Nachteile einer bestimmten Künstlichkeit, aber ihr den Status absprechen, ist ausgeschlossen. Alles was vom Menschen stammt, egal in welcher Form, ist demnach Kunst.

4 Kommentare:

Kurt aka Roger Beathacker 19. Juni 2008 um 17:37  

Wegen zu vieler Fehler noch einmal:

"Alles was vom Menschen stammt, egal in welcher Form, ist demnach Kunst."

Sorry - aber so verallgemeinert, wird der Begriff vollkommen unbrauchbar. Auch wenn sich Kunst von koennen etymologisch herleiten laesst, wird das Wort dadurch noch nicht zum Synonym. Ich moechte deshalb vorschlagen, das Wort einzugrenzen auf einen Bereich des Koennens, der nicht mit einem muessen oder sollen verknuepft ist. Mit anderen Worten: es gibt Dinge, die muss man koennen und andere, die soll man koennen. Beide haengen von den spezifischen Bedingungen ab unter denen Menschen je leben. Zum Beispiel soll man (hier koennte man auf unsere Gesellschaft bezogen eigentlich schon von "muss" sprechen) lesen, schreiben und rechnen koennen und in einer Gesellschaft, in der dieses Koennen zu einer "Selbstverstaendlichkeit" wird - man also allgemein erwartet, dass es jeder kann -, da ist es keine Kunst mehr. - Trotzdem gibt es "Rechenkuenstler", wie es auch "Sprachkuenstler" gibt. - Das sind aber Menschen, die sich des Rechnens oder Sprechens bzw. Schreibens in einer Weise bedienen, wie sie im Alltag nicht erwartet wird.

Im Gegensatz zu der beruechtigten Goebbelschen Behauptung, dass Kunst von koennen kaeme, denn wuerde sie von Wollen kommen, muesse sie "Wunst" heissen - kann man also feststellen: Kunst hat neben Koennen zumindest sehr viel mit Wollen zu tun - man muss wollen (koennen), was man weder muss noch soll - so ungefaehr.

ad sinistram 19. Juni 2008 um 17:42  

Es gibt wahrlich ein Besserkönnen und Schlechterkönnen - zweifellos. Ob z.B. ein Rechner, der besser rechnet als der Durchschnitt, ein Künstler im Sinne allgemeingebräuchlicher Verwendung dieses Begriffes ist, bleibt aber fraglich. Ich möchte - für mich - die Kunst im Sinne Diogenes von Sinope sehen, der in allem, was der Mensch tat und umsetzte, eine Zuwiderhandlung gegen die Natur, gegen die Natürlichkeit sah. Alles was der Mensch schafft, ist demnach künstlich und folglich Kunst. Wenn also das Rechnen und Schreiben zur "Selbstverständlichkeit" gezählt wird, bleibt als Frage offen: Wer rechnet wenn nicht der Mensch? Oder: Wer schreibt, wenn nicht ein menschliches Wesen? Oder provokativer: Wann schreibt ein Baum einem anderen einen Brief? Wann zählt der Hund die Flöhe, die ihn plagen?

Der Mensch, um es wieder mit Plessner zu sagen, atmet rund um die Uhr die Luft der Künstlichkeit, die seiner Natürlichkeit entspricht. Weil er kann, ist ihm dies möglich. Könnte er nicht, würde er nur Instinkten folgen, wäre sein Leben kein Prozess künstlicher Zustände, die mit künstlichen Werkzeugen und damit künstlichen Bedürfnissen und Gefühlen einhergingen. Hier schließt sich der Kreis zu Diogenes wieder, der gerade in den Bedürfnissen, die die Zivilisation dem Menschen einhämmert, eine Verirrung des Menschen erblickte, die ihn von der Natur fortführte. Diogenes hatte erkannt, dass Menschen immer in künstlichen Zuständen leben. Er selbst, naturverbunden und ohne gesellschaftliche Integration, fand sich immer noch "zu künstlich", benutzte - laut Anekdote - nicht mal mehr einen Becher, um sich Wasser aus einem Bach zu schöpfen, weil ihm ein kleiner Junge zeigte, dass auch die Hände genügten. Selbst in einem Becher, künstliches Hilfsmittel des Menschen, sah er des Menschen Kunst und Hang zur Künstlichkeit. Er wollte die Rückführung des Menschen in die Natur. Da hat sich der Mann aus Sinope geirrt, denn die Natur des Menschen ist die Künstlichkeit, ist das Können, welches ihn zur künstlichen Natürlichkeit antreibt.

Innerhalb der Kunst, die das Allgemeine des Menschen ist, gibt es freilich Nuancen, ein Besser oder Schlechte, gibt es ästhetische Variablen, die keinerlei Objektivität kennen. Aber so, um beim künstlerischen Kotformen zu bleiben, handelt es sich dennoch um Kunst. Auch wenn diese Kunst Scheiße ist, ist sie in gestalteter Form künstlich aufbereitet.

Kurt aka Roger Beathacker 19. Juni 2008 um 18:32  

In dem was Du gerade noch einmal expliziert hast lieber Roberto, liegt ja mein Einwand gar nicht. das ist alles vollkommen richtig, aber es ist verfehlt den Kunstbegriff darauf anzuwenden - da wuerde ich es vorziehen umfassender von Kultur zu sprechen. Das, was wir Gegenwaertige unter Kunst verstehen, hat auch nicht allein mit besser oder schlechter koennen zu tun (mitunter hat es damit sogar gar nichts zu tun), sondern mit Unerwartbarkeit und Irritation.

Es gibt bestimmt etliche Menschen, die genauso gut malen koennen, wie bekannte Kuenstler der Vergangenheit - wenn sie aber genau das malen, was ihre Vorgaenger gemalt haben und genauso, dann faellt etwas weg: das Unerwartete, Unverhoffte, Irritierende. Da scheidet sich die Kunst vom Kunsthandwerk, der Maler vom Manieristen. Kunst ist eben nicht dass, was alle besser oder schlechter koennen - auch wenn wir von allerhand "kuenstlichem" umgeben sind.

Man kann es weiter auf die Spitze treiben: Selbst die Natur, das "Natuerliche" ist schon ein Erzeugnis der Kultur - mithin etwas kuenstliches ...

Es muss "Redekunst" vorhanden sein, damit von "Natur" die Rede sei - damit sie unterschieden, damit sie ueberhaupt "Etwas" werde ...

Da fragt sich dann freilich: worin wurzelt die Kultur, das Kuenstliche?

"Im Menschen!" wird man antworten.

- Und worin wurzelt der Mensch?

Anonym 20. Juni 2008 um 21:00  

Wer "Schopenhauer" sagt, muss auch "Nietzsche" sagen können.

Ich weiss nicht, inwiefern ich jetzt ausholen möchte, um das Konzept der dionysischen und apollinischen Kunst zu umreißen, aber soviel sei gesagt:

Jeden Menschen zum Künstler zu machen ist eine Herabsetzung der Kunst. Es GIBT den Künstler, einen Künstler-Menschen und die Natur macht ihn paradoxerweise dazu, gebärt ihn, er entsteht aus einem urnatürlichen Vorgang, der Geburt, und vergeht auf ebenso natürliche Art und Weise.

Der Mensch als Produkt der Natur lebt natürlich, er lebt dahingehend natürlich, als dass er Werkzeuge benutzt (moralische, kulturelle, mechanische), raffinierte Werkzeuge, aber macht ihn das zum Feind von Gaia, vom Ursprung? Auch nicht-Menschen, Tiere - Affen, Vögel, etc. - nutzen Werkzeuge um zu überleben, gleichsam dem Menschen, aber ungleich plumper. Der Mensch braucht die Krücke Religion als Werkzeug z.B., wenn nicht Religion, dann die heilende Kraft der Kunst - wobei die Scheuklappen der Religiösität, vor allem der christlichen, der Kunst im dionysischen und apollinischen Sinne nichteinmal bewusst sind, sondern sie wiederum als Werkzeug, als Mittel zum Zweck, zu benutzen versuchen, um ihr eigenes Süppchen zu kochen.

Ein Mensch alleine ist clever - viele Menschen, die auf engem Raum zusammenleben sind eine Katastrophe; wenn sie sich widernatürlich verhalten und KEINE Werkzeuge benutzen. Hand in Hand mit der Anzahl der Exemplare der Spezies "homo sapiens", entstand Zivilastion, statt Instinkt musste der Mensch nun die Handhabung anderer Instrumente erlernen, durfte seinem Instinkt, der nun, obwohl seit Menschengedenken Richtschnur, nicht mehr salonfähig war, nicht mehr folgen, obgleich derselbe immer wieder vereinzelt hervorbricht.


Doch zurück zur Kunst an sich. Die ursprünglichste Ausprägung ihrer ist die Musik. Nun stelle man sich vor, diese unsere Welt, ist eine Welt der Täuschung, eine Illusion, daneben: die Welt der Ideen. Musik, die ursprüngliche Kunst, ist ein direkter Ausdruck dieses Willens, dieser Idee, ein Abbild dessen.

Was gibt es natürlicheres, schöneres, als diese gehauchte Ahnung dieser Idee, die der ästhetische Zuhörer in ihr wahrnimmt?

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