Kultfigur Mandela

Samstag, 28. Juni 2008

"Nicht für einen Augenblick kann ich eine politische Einrichtung als meine Regierung anerkennen, die zugleich auch die Regierung von Sklaven ist." (Henry David Thoreau, "Civil Disobedience") - Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob Rolihlahla Dalibhunga Mandela, genannt Nelson, jemals Thoreaus kurzes Traktat gelesen hat, ob die Gefängnisbibliothek auf Robben Island dergleichen Schriften überhaupt führte. Aber welche Rolle spielt das schon? Immerhin hat Mandela, ob belesen in Sachen Ungehorsamspflicht oder nicht, nach den stoischen Grundsätzen Thoreaus gehandelt. Er ertrug 28 Jahre lang - von 1962 bis 1990 - seinen "angemessenen Platz", entzog sich ihm auch nicht durch fadenscheinige Angebote, die man ihm ab 1985 verstärkt unterbreitete. "Unter einer Regierung, die irgend jemanden unrechtmäßig einsperrt, ist das Gefängnis der angemessene Platz für einen rechtschaffenen Menschen." (Henry David Thoreau, "Civil Disobedience") - Mandela hielt sich, bewußt oder unbewußt, inspiriert oder selbst erdacht, an die Worte des US-amerikanischen Freiheitsphilosophen und Individualisten, blieb folglich lieber Häftling, als sich dem gesetzlich legitimierten Unrecht zu beugen. Seine persönliche Freiheit erschien ihm nicht wertvoll genug, dafür dem Widerstand der schwarzen Südafrikaner in den Rücken zu fallen. Ein Widerstand, der freilich durch jahrzehntelange Unterdrückung zu einem gewaltsamen Kampf entartet war. Aus Sicht des Apartheid-Regimes, aus Sicht eines starrköpfigen Rechtspositivismus generell, war Mandela in diesen Tagen ein Terrorist, für den man sich eine groß inszinierte Geburtstagsfeier nicht hätte vorstellen können.

Aber Mandela als zu Ehren gekommenen Terroristen zu bezeichnen greift zu kurz, nihiliert ja geradezu die Gewalt, das zum Himmel schreiende Unrecht, welches an den Schwarzen Südafrikas alltäglich begangen wurde. Wie sich dieses Unrecht äußerte, notierte ich bereits vor einigen Monaten in einem anderen Zusammenhang an dieser Stelle. Die damaligen Zeilen sollen hier noch mal zitiert werden:
"Apartheid: aus dem Afrikaans stammend, von apart, "getrennt, einzeln" - soweit die begriffliche Definition. Historisch betrachtet bedeutete sie strikte Rassentrennung und radikalisierte die traditionell südafrikanische Segrationspolitik beträchtlich. In einer wahren Gesetzesflut erhob sie sich zur allumfassenden Staatsdoktrin. Die Apartheidgesetze ließen sich in vier Funktionsbereiche unterordnen: a) die Absicht "Rasseneinheit" zu garantieren, b) die physische Trennung der vier gesetzlich festgeschriebenen Rassen (Weiße, Schwarze, Farbige und Asiaten) umzusetzen, c) eine effektive politische Vorherrschaft der Weißen zu sichern und d) eine umfassende Kontrolle vor allem der Schwarzen in nahezu jeden Lebensbereich zu erlauben.

Um die sogenannte "Rasseneinheit" zu garantieren und folglich auch zu wahren, waren Eheschließungen über die Rassengrenzen hinweg verboten (Prohibition of Mixed Marriages Act, 1949). Ein Jahr später wurde bereits der Geschlechtsverkehr von Weißen mit Angehörigen anderer Rassen unter Strafe gestellt (Immorality Amendment Act), der bereits seit 1927 verboten, aber nicht sanktioniert wurde. Grundpfeiler des Apartheidsystems war der Population Registration Act von 1950, der jeden Einwohner Südafrikas einer der vier Rassen zuordnete. Ausweispapiere dokumentierten die Rassenzugehörigkeit ihrer Besitzer. Die Hautfarbe war das dominierende Merkmal des südafrikanischen Herrschaftssystems.
Der Group Areas Act von 1950 erlaubte es der Regierung, die Angehörigen "niederer Rassen" zwangsweise umzusiedeln, wenn nötig auch mit Gewalt. Ziel war es, rassisch homogene Siedlungsstrukturen entstehen zu lassen. Spätere Gesetze engten die Aufenthaltsrechte von Schwarzen in weißen Siedlungsgebieten weiter ein. Durch die Schaffung sogenannter Bantustans - später Homelands - gelang es der Regierung in Pretoria, dem Ausland phasenweise eine "positive Apartheid" vorzugaukeln. Diese Reservate der Schwarzen sollten später in eine (kontrollierte) Unabhängigkeit entlassen werden und die Bewohner aus den südafrikanischen Staatenverband ausscheiden. Als Fremdarbeiter auf dem Gebiet des weißen Südafrika waren sie somit gänzlich rechtlos. Generell zielte Pretoria darauf ab, den Entwicklungsstand der Schwarzen niedrig zu halten und sie gleichermaßen politisch zu spalten.
Mit dem Suppression of Communism Act von 1950 schuf sich die Regierung eine Waffe, die vielseitig verwendbar war. Indem dieses Gesetz schwammig formuliert wurde, kaum konkrete Sachverhalte angab, konnten unangenehme (schwarze) Gruppierungen als kommunistische Vereinigungen aufgelöst und die Protagonisten verurteilt werden. (Bis 1976 wurde dieses Gesetz rund achtzigmal den politischen Gegebenheiten angepaßt.)
Das Gesetz zur Abschaffung der Ausweise (Abolition of Passes and Consolidation of Documents Act) offenbarte sich als euphemistische Wortspielerei, denn Ausweise wurden zwar abgeschafft, aber durch ein "Reference Book" ersetzt. Dieses Nachweisbuch mußte immer mit sich geführt werden und enthielt umfangreiche persönliche Daten, womit die ständige Kontrolle der Schwarzen (auch der Farbigen und Asiaten) gewährleistet wurde. Weitere Kontrollgesetze sorgten dafür, daß qualifizierte Arbeitsplätze nur an Weiße fielen und das Streikrecht für Schwarze beschränkt wurde. In die gleiche Kerbe schlug auch der Bantu Education Act von 1953, der ein getrenntes Schulsystem definierte und weißen Schülern ein Mehrfaches an Mitteln zu Verfügung stellte. Da durch den Bantu Education Act Erziehung unter die Regierungsaufsicht fiel, wurde den Missionsschulen eine apartheidkritische Erziehungsarbeit faktisch verboten."
Mandela verurteilte unangebrachte Gewalt, duldete das sogenannte Necklacing nicht, bei dem einem Opfer in Benzin getränkte Autoreifen um Hals und Arme gehängt und danach angezündet wurden. Als man Winnie Mandela, der Ehefrau Nelsons, eine Mitbeteiligung bei mindestens einem Fall von Necklacing nachgeweisen konnte, trieb dies den Bruch zwischen den Eheleuten Mandela voran. Nein, vielmehr sprach er sich für eine Widerstandsgewalt aus, eine Form "gerechter Gewalt", die dazu dient, sich von dem Joch zu befreien, das ein Peiniger seinem Opfer auferlegt.

Wahrlich, als Terrorist kann und wird Mandela nicht in die Geschichte eingehen, auch wenn er in vielen Facetten einem solchen glich, weil er sich nicht treu einem positiven Gesetz unterwarf, welches ihn als schwarzen Bürger Südafrikas zum Menschen dritter Klasse gemacht hätte. Der intellektuell beschlagene Rechtsanwalt aus der Transkei glänzt da schon eher mit einer philosophisch fundierten Sichtweise des Freiheitskampfes. Vielleicht scheiterte er auch gerade deshalb - gemäß der alten Weisheit, fern vom platonischen Staat, wonach Philosophen nicht als Politiker taugen - später als Präsident seines Landes, bzw. konnte nicht in dem Ausmaße glänzen wie als führender und denkender Kopf einer Bürgerrechtsbewegung. Wie gesagt, ob Thoreau zu seiner Lektüre gehörte, läßt sich nicht beantworten, lediglich vermuten und erahnen. Und doch ist es gerade das Stoische, standhaft bleibende Verhalten und die Einsicht im Gefängnis am "angemessenen Platz" zu sein, die Mandela zum Freiheitsphilosophen machten. Anders als Thoreau aber, der nur eine Nacht im Gefängnis zubrachte, weil er eine Steuer nicht bezahlen wollte - ein Bekannter übernahm die Schuld und erwirkte somit seine schnelle Freilassung -, kann der Südafrikaner nicht als stiller, kontemplativer, auf Schriften fixierter Philosoph gelten, sondern als eingreifender, maßgebender, als politisch aktiver Denker, den selbst Stacheldraht und Stahlgitter nicht bremsen konnten. Selbst als er vor der Küste Kapstadts isoliert in Haft saß - eben auf oben erwähnter Insel Robben Island -, wurde sein auf Sturheit und Unnachgiebigkeit begründeter Widerstand gegen das Regime von den Massen aufgegriffen, wurde Mandela zur eingesperrten, daher gesichtslosen Gestalt des Freiheitskampfes. Fern des Geschehens, nur durch sein gelebtes Beispiel ungehorsamen Auftretens, erwirkte er eine Autorität, welche ihn zum wahren Geistesvater afrikanische Emazipation machte. Für ihn zählten nicht sichtbare Kategorien wie weiße oder schwarze Hautfarbe; er bemächtigte sich Martin Luthers Anspruch, dass nach der Unterdrückung von Schwarzen durch Weiße, nicht eine Umkehrung der Farben geschehen dürfe. So kam er in den Ruf, der weise Mann des Widerstandes zu sein - Widerstandsphilosoph, pazifistisch gesittet, aber nicht bereit mit Gutmütigkeit in den Tod zu laufen. Laute Worte waren nicht sein Stil, wohl aber ehrliche und direkte Reden, die sich fern von jeglicher beschönigender Diplomatie hielten, dafür aber Inhalte in sich trugen, die Pretoria in Verlegenheit bringen mußten. Mandela steht im Emanzipationskampf der Schwarzen neben Martin Luther King und Malcolm X; im Kampf autochthoner Völker gegen unterdrückende Okkupanten auf einer Stufe mit Mahatma Gandhi - zweifelsohne einer der großen Afrikaner des letzten Jahrhunderts und ein der großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte. Mir scheint es nicht ausgeschlossen, dass eines Tages ein neuer Bertold Brecht eine Hommage an Nelson Mandela niederschreibt, in der dieser gleich dem Galilei als standhafter Rebell mit Manieren gezeichnet wird; als Luthergestalt, die "hier steht und nicht anders kann".

Gestern also wurde Mandela in London gefeiert. Da Madiba in drei Wochen seinen 90. Geburtstag feiern wird, wollte man etwas Besonderes und Denkwürdiges bieten. So entstand ein Geburtstagsprogramm, angefüllt mit prominenten Künstlern wie Will Smith nebst Ehefrau Jada Pinkett, Amy Winehouse, Queen, Eddy Grant, Annie Lennox, Jim Kerr und weiteren. Letzterer behauptete, dass das letzte Konzert vor 20 Jahren, als man an Mandela 70. Geburtstag dessen Freilassung forderte, eine andere, aufgeheiztere Stimmung vorfand - Wut und Verärgerung, wohl auch Ohnmacht ließen ein Konzert zur politischen Kundgebung werden. Doch am gestrigen Abend wurde aus einer möglichen politischen Botschaft, eine Veranstaltung des Feierns und der Belanglosigkeit. Man reihte Musikdarbietungen aneinander, wartete bis Nelson Mandela drei Minuten zur Menge sprach und feierte danach munter weiter. Natürlich gab es auch ein humanitäres Moment, denn mit den Einnahmen der Veranstaltung soll Mandelas Aidsstiftung 46664 unterstützt werden. Immer wieder kommen einem Neil Postmans ("Wir amüsieren uns zu Tode") Thesen in den Sinn, wonach die heutigen Massenmedien nurmehr Unterhaltung transportieren, selbst wenn sie Ernsthaftigkeiten übermitteln wollen. Und so wurde aus eben diesem ernsten Motiv - den Aidsopfern Unterstützung zukommen zu lassen -, eine Veranstaltung der zügellosen Freude, mit Tanz und Gesang, wohl auch mit Freuden für Gaumen und Leber. Tanzen, Feiern, Fröhlichsein, damit man den kranken Verelendeten, so wie sie uns Henning Mankell in "Ich sterbe, aber die Erinnerung bleibt" beschreibt, einen kleinen Dienst erweisen kann. Hier spiegelt sich der Perversität des globalen Wahnsinns wider.
Mandelas Lebenswerk wiederum, seine philosophisch geschulte Dialektik, die er im Freiheitskampf einsetzte, um den Menschen striktes Einstehen für Freiheit aufzuzeigen, wurde einer Banalisierung unterworfen. Er wurde zum Kultstar stilisiert, zum großen alten Mann, von dem man vom Hörensagen weiß, dass er nett und klug sein soll und der den Frieden liebt bis in die letzte Zelle seines Körpers. Eine Kultgestalt, wie sie die oberflächliche Berichterstattung unserer Zeit benötigt, um den Menschen unterhaltend mitzuteilen, dass da jemand mit Weisheit gewirkt hat. Statt sich am 90. Geburtstag dieses Mannes mit der Geschichte zu befassen - mit seiner Geschichte! -, wird feuchtfröhlich gefeiert, mit roten Bäckchen und Lachfalten der Aidsopfer gedacht und Mandelas Auftritt mit weltferner Entrücktheit begangen. Der einstige Held des Freiheitskampfes ein Rockstar!

Aus einer Person, die das 20. Jahrhundert nicht nur in Afrika, sondern weltweit geprägt hat, die die ganze Weltgeschichte befruchtete mit seinem Wirken, wurde am gestrigen Abend eine banale Randerscheinung, eine oberflächliche Gestalt, die einer PR-Werkstatt entschlüpft schien; ein Heiliger des Fernsehens, der vergessen ist, sobald die Kameras abgeschaltet sind; ein gutmütiger Nikolaus moderner Prägung, der in seiner altersbedingten Gebrechlichkeit Güte ausstrahlt, ohne überhaupt Botschaften seines Denkens verkünden zu müssen. Gestern wurde nicht das hohe Alter eines Mannes gefeiert, sondern dessen Beerdigung in kaschierter Weise dargeboten. Physisch ist er noch unter uns, aber von seinem Wirken, von seiner Standhaftigkeit, den Inhalten seiner Lebenseinsichten - will man es "Lehren" nennen? - und seinen politisch-philosophischen Ansichten, will scheinbar niemand mehr etwas wissen. Gestern wurde beerdigt, wurde aus den 28 Jahren in Robben Island ein Medienspektakel gemacht, welches mit allen geschmacklosen Platitudes garniert wurde, die überhaupt denkbar sind. Ein Zahlenspiel, wenn man so will: Aus Mandelas 46664 wurde ein 08/15-Zirkus gemacht. Damit ist Nelson Mandela endgütlig im 21. Jahrhundert angekommen: als Kultstar und banaler Held einer satten Gesellschaft, die mit Mandelas physischer Erscheinung eine besonders seltsame Form von Selbstbeweihräucherung vollzieht. Der Geist dieses Mannes, der sich nie einfangen und einsperren ließ, steht heute nicht mehr zur Diskussion. Als Kultstar braucht es derlei Diskussionen nicht. Dabei wäre es heute nötiger denn je mit Thoreau aufzuwarten, und diesem aktiven Schüler - wenn man ihn so nennen darf - des US-amerikanischen Philosophen mit der Honorierung seiner sturen Standhaftigkeit, seiner Liebe zur Gerechtigkeit und nicht zum Gesetz entgegenzutreten. Mandela könnte auch für diese und kommende Generationen zum Wegweiser werden, wenn man sich nicht dazu hinreißen ließe, diesen Mann ins Triviale herunterzuziehen, den man nur noch seiner selbst willen feiert.

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Sit venia verbo

"Vaterlandsliebe, der Haß gegen Vaterländer
Herr K. hielt es nicht für nötig, in einem bestimmten Lande zu leben. Er sagte: "Ich kann überall hungern." Eines Tages aber ging er durch eine Stadt, die vom Feind des Landes besetzt war, in dem er lebte. Da kam ihm entgegen ein Offizier dieses Feindes und zwang ihn, vom Bürgersteig herunterzugehen. Herr K. ging herunter und nahm an sich wahr, daß er gegen diesen Mann empört war, und zwar nicht nur gegen diesen Mann, sondern besonders gegen das Land, dem der Mann angehörte, also daß er wünschte, es möchte vom Erdboden vertilgt werden. "Wodurch", fragte Herr K., "bin ich für diese Minute ein Nationalist geworden? Dadurch, daß ich einem Nationalisten begegnete. Aber darum muß man die Dummheit ja ausrotten, weil sie dumm macht, die ihr begegnen."
- Bertolt Brecht, "Geschichten vom Herrn Keuner" -

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Ridendo dicere verum

Mittwoch, 25. Juni 2008

Über die Verfahrensweise von Maklern, Personaldienstleistern und ähnlichen Parasiten:
"Draußen regnete es, und auch unser beharrliches Schweigen hatte etwas Winterliches. Es war Freitag nachmittag, und unseren Kaffee hatten wir ausgetrunken. Wir saßen in unserem Stammkaffee, Jossele und ich, und warteten auf ein Naturereignis.
"Wir müssen irgendetwas unternehmen", meinte Jossele nach längerem Nachdenken. "Das Leben ist schwer genug. Und jetzt kommt noch diese schreckliche Wohnungsnot hinzu. Die Baukosten werden von Tag zu Tag höher, Wohnungen sind unerschwinglich teuer, und kein Mensch ist bereit, etwas dagegen zu tun."
"Willst du vielleicht Maurer werden?" fragte ich verstimmt.
"Das nicht", erklärte Jossele, "aber ich könnte mich eventuell als Wohnungsvermittler versuchen."
Sprachs und winkte den Kellner an unseren Tisch. Er informierte ihn flugs, daß er vor fünf Minuten eine renommierte Wohnungsmaklerfirma gegründet hätte, und bereit sei, für jeden Kunden, den ihm der Kellner brächte, fünfzig Shekel in bar als Provision zu zahlen.
Wenige Minuten später erschien der erste hoffnungsvolle Klient.
"Nehmen Sie Platz", sagte Jossele, "was für eine Wohnung stellen Sie sich vor?"
"Zwei Zimmer und ein Atelier", strahlte der Interessent, "mit einem großen Küchenbalkon, im Zentrum der Stadt."
"Ich glaube, ich habe das Richtige für Sie", meinte Jossele, "aber lassen Sie mich vorerst meine Bedingungen nennen. Ich stelle Ihnen eine Liste von entsprechenden Wohnungen zur Verfügung, Sie schauen sich das Angebot an und sprechen mit den Eigentümern. Ich verlange keine Vorauszahlung. Aber wenn das Geschäft zustandekommt, zahlen Sie mir drei Prozent Vermittlungsgebühr."
"Natürlich", sagte der Klient, "das klingt fair."
"Herr Ober", rief Jossele den Kellner. "Bringen Sie mir die Zeitungen."
Der Kellner brachte einen ganzen Stoß. Jossele wies unseren Klienten an, Zettel und Bleistift zu nehmen und alle Adressen abzuschreiben. In den Zeitungen waren Unmengen von Wohnungen angeboten. Es war Freitag, und die Wochenendausgaben platzten vor Inseraten. Unser Kundenerstling notierte sich an die dreißig Adressen, unterschrieb den eilig improvisierten Vertrag und machte dem nächsten Klienten Platz.
"Sehr schön", bemerkte Jossele, "das Geschäft läuft."
Inzwischen hatte sich vor unserem Tisch eine Menschenschlange gebildet. Wir leisteten 28 hoffnungsvollen Wohnungsjägern professionellen Beistand, und pünktlich um fünf Uhr schlossen wir unser Büro. Während der letzten Stunde hatte Jossele hauptsächlich Verträge aufgesetzt, die er sich unterschreiben ließ, während ich die Zeitungen durchkämmte.
Nun, ein Unternehmen wir dieses birgt natürlich seine Risiken. Bis zum Abend kamen nur drei Klienten von 28 (!) zurück und zahlten 65072 Shekel Vermittlungsgebühren. Zugegeben, wir waren etwas enttäuscht. Verstimmt zahlten wir dem Ober sechs Kaffee und drei Provisionen.
"Da tut man sein Bestes, um seinen Mitmenschen zu helfen, und was ist der Dank dafür? Ich bin überzeugt, daß wesentlich mehr Klienten durch unsere Bemühungen zu einem Dach über dem Kopf gelangt sind als jetzt gezahlt haben", bemerkte Jossele stocksauer und zog die Rolläden des Kaffees herunter.
"Lauter Betrüger!"
- Ephraim Kishon, "Abraham kann nichts dafür" -

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In nuce

Dienstag, 24. Juni 2008

Über Beziehungen und familiäre oder freundschaftliche Bande, die die BILD-Zeitung pflegt, wurde ja schon hinreichend berichtet. Es ist nicht gerade neu, dass Diekmann Kohls Busenfreund - und nun auch Trauzeuge - ist und BILD-Kolumnist Müller-Vogg ausgezeichnete Kontakte zu Köhler und Merkel besitzt. Aber erwähnenswert ist es dennoch, wenn ein Sportjournalist - der nebenbei auch noch Vize-Chefredakteur der Zeitung ist - plötzlich im politischen Trübgewässer fischt. Alfred Draxler, bekannt eigentlich für seine "fein recherchierten" und in "sublimierter Sprache" verfassten Artikel, äußerte sich zur erfolgten Entschuldigung Anne Wills. Dort heißt es: "Was für eine Blamage für Anne Will (42)! Und welch ein Erfolg für den Berliner CDU-Fraktionschef Friedbert Pflüger (53)! (...) Hintergrund: Berlins CDU-Fraktionschef Friedbert Pflüger hatte die Ablösung von Anne Will gefordert und war presserechtlich gegen sie vorgegangen – mit Erfolg!" - Warum gibt sich ein "ehrenwerter" Sportreporter für diesen politischen Quatsch her? Personalmangel? Mitnichten: Draxlers Ehefrau Martina Krogmann - die selbst beim Springer-Verlag zur Redakteurin ausgebildet wurde - ist Bundestagsabgeordnete für die CDU und - man glaubt es kaum - Patentante von Friedbert Pflügers Sohn! Da hat also der liebe Onkel Alfred ein Paar liebeswürdige Zeilen dem lieben Papa Friedbert zukommen lassen - so liebevoll geht man in BILD-Kreisen miteinander um. Familiäre Nettigkeiten öffentlich ausgetauscht!

Seit einigen Tagen stehen Roland Kochs erfolglose Wahlkampfhelfer vor Gericht. Und vorBILDlich fordert Deutschlands größte Tageszeitung eine harte Bestrafung. Und auch wenn man einkalkulieren muß, warum junge Männer zuweilen so ehrlos handeln - weil sie von Kindesbeinen an mit einen steten Nein abgespeist werden, weil sie immer die verächtlich gemachten Ausländerkinder bleiben (der Autor dieser Zeilen weiß wovon er spricht), weil sie ohne Perspektiven sind und wohl bleiben -, kann man natürlich diese Form konservativer Wahlkampfhilfe nicht dulden. Insofern ist eine angemessene Strafe durchaus im Sinne eines vernünftig geführten Gemeinwesens notwendig. Ob aber eine Tageszeitung ein Gerichtsverfahren so beeinflußen darf bleibt fraglich. Und höchst suspekt ist es, dass es gerade der Springer-Primus war, der damals im Dezember 2007/Januar 2008 die U-Bahn-Schlägereien ausschlachtete, um den hessischen Wahlkampf mit ausreichend Futter zu versorgen. Damals war das grauenhafte Geschehen gerade gut genug, um Kochs billigen Rassismus mit Thesen zu untermauern. BILD lieferte natürlich willig und ohne Gewissensbisse. Heute aber erhebt man den Zeigefinger und will die Wahlkämpfer aus dem Münchner Untergrund hart bestraft sehen.
Bestraft will ich die Täter auch wissen. Gewalt darf nicht ohne Nachspiel bleiben und ist, auch wenn es Entschuldigungen dafür geben mag, nie tolerabel. Wäre ich aber ihr Anwalt, so würde ich mich auf die Immunität von Wahlkämpfern berufen. Außerdem sollte man Roland Koch kontaktieren und ihn fragen, ob er sich nicht für jene einsetzt, die ihm einst so tatkräftig unterstützt haben...

In eigener Sache: Mir scheint, dass der von mir am 17. Juni 2008 verfasste Artikel, der als Satire gedacht war, von vielen Lesern falsch interpretiert wurde. In allerlei Foren und Blogs mußte ich lesen, dass man eine Quelle ausfindig machen wollte, die die von mir aufgestellte These, wonach der anglo-irische Vertrag von 1921 nichtig sei, untermauern soll. Freilich fand niemand eine Quelle, denn die einzige Quelle, die solcherlei Fakten auswarf, war meine Phantasie, mein Gehirn folglich. Eigentlich war ich mir sicher, man würde den satirischen Unterton herauslesen können, spätestens dann, wenn man an die Textstelle gerät, in der Berlusconi sich zum äthiopischen Kaiser krönen lassen möchte.
Stattdessen stiftete ich Verwirrung und animierte zu allerlei Spitzen, die man gegen mich richtete: "In keiner Zeitung aus England oder Irland hatte ich einen Hinweis auf einen wie von ad mortem, pardon ad sinistram eingestellten Artikel gefunden. Völlig zu recht ist die Besucherzahl seiner Seite trotz mehrjähriger (sic!) Existenz so niedrig. Unseriösität (sic!) wird eben durch Nichtbeachtung gestraft." Ein Leser schrieb mich kurz und knapp an, ich möchte ihm schnellstens die Quelle senden, es eile ihm sehr. In Foren schüttelten einige virtuell den Kopf, weil sie die Vertragsnichtigkeit für bare Münze nahmen.
Nun überlegte ich lange, ob ich mich dafür entschuldigen sollte. Aber ist es eine Entschuldigung wert, wenn man Satire nicht mit dem Satireprädikat markiert? Sind nicht jene Witze, die davor oder danach als ebendiese entblößt werden, langweilig und wenig überraschend bzw. wirken aufgesetzt und wenig originell? Und ist es nicht vielmehr so, dass man heutzutage Realität und Satire kaum noch auseinanderhalten kann? - Nein, dafür entschuldige ich mich nicht, auch wenn ich bedauere, dass mein Abschweifen in Phantasiekonstrukte, wie sie manche Machthabende sicher ebenso ersonnen haben, falsch verstanden und womöglich sogar nicht verstanden wurde.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle nochmal darlegen, dass ich Quellen immer angebe, d.h. verlinke. Verlinke ich nichts, so könnte es möglich sein, dass es nur eigene Gedanken sind, die Witz, Phantasie und Realität vermischen...

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Fußball, Schach oder Halma? - Egal, Hauptsache national!

Ein europaweites Turnier und keinerlei Symbole europäischer Zusammengehörigkeit, dafür aber Symbole einzelner europäischer Mitgliedsstaaten, die nicht das Wir international faßbar machen, sondern ein nationales Wir proklamieren - statt eines einzelnen Wir, zeigen sich viele Wir-Sparten. Dies nährt die nationalistische Komponente dieser Fußball-Europameisterschaft. Ein proletenhafter Nationalismus freilich, einer, der sich auf niedere Instinkte, Ressentiments, dumpfes Parolenschwingen stützt, der sich nur dezent einem rassischen Denken hingibt. Statt Europaflaggen wehen nationale Flaggen - diese meist von angemalten, mit nationaler Symbolik überhäuften Fußballpatrioten geschwungen, die neben Flaggen auch mit dunstig-alkoholischen Fahnen ihrer nationalen Gesinnung frönen. Anstatt eines völkerverbindenden Festes, biedert sich ein in Nationen unterteilendes, Europa zerstückelndes Ereignis dem Betrachter an. Selbstverständlich weisen Apologeten der Spaßgesellschaft darauf hin, dass sich trotz Zerstückelungen Feststimmung einstellt, friedlich gefeiert wird. Doch latent schwelt ein "alter Nationalismus", der nicht verbindet, sondern eben trennt, Menschen in Nationalitäten kategorisiert, den Leiharbeitnehmer mit seinem Ausbeuter, den Fließbandarbeiter mit seinem Manager gleichsetzt, weil sie ja beide ein- und derselben Nation angehören. Die Nation als Überbrücker gesellschaftsimmanenter Gegensätzlichkeiten, als Kanalisierungseinrichtung für Konfliktpotenzial!

So aber jubeln die Massen nur ihrer nationalen Auswahl zu, setzen diese Verbandsmannschaften mit der Nation gleich - eigentlich spielt dort ja eine Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes und nicht die Bundesrepublik Deutschland - und scheren sich einen Dreck darum, ob der Bessere gewinnt oder nicht. Man nimmt gerne in Kauf, durch miese Leistungen, durch stetiges 1:0-Siegen mit darauf einsetzenden Catenaccio, das Finale zu erreichen oder besser noch: den Titel zu gewinnen. Zelebriert wird nicht Fußball, sondern das nationale Ehrgefühl. Da spielen diverse Auswahlmannschaften tristen, langweiligen Hauruck-Fußball, aber der angebliche Fußballanhänger kommt gar nicht auf die Idee, dem Fußball anzuhängen, sondern hofft und bangt für das Team, welches aus seinem Lande kommt, gleichgültig wie erbärmlich, langweilig, trostlos deren Auftritt ist. Er ist nicht Fußballfan, sondern Fan der Auswahl seines Landes. Hierzulande sieht man es lieber, dass sich die DFB-Elf ins Finale rumpelt, anstatt die technischen Raffinessen und herausragenden Spielzüge, die den deutschen Gegnern oft gelingen, als Wertschätzung des Fußballspiels zu besehen. Alleine daran läßt sich sehen, wie wenig verbindend der Charakter eines solchen Turnieres ist: Es geht nicht um eine europaverbindende Feierlichkeit, die man dem Fußballspiel zukommen läßt, sondern um den puren nationalen Zweck, dem jedes Mittel zum Erfolg heilig ist. Lieber sechs Siege, die von Befreiungsschlägen, Sperrketten, taktische Fouls und Zufallstreffern gezeichnet sind und somit den Titel sichern, als ein vielleicht erfolgloses Auftreten mit Direktpässen, technischen Leckerbissen und gekonnten Flügelläufen - dies ist die Devise! Eine Devise, die nicht den Fußball feiert, sondern die Nationalität hofiert.

Dies geht so weit, dass man beispielsweise türkischen Mitbürgern, die in diesem Lande leben und versichern, dass in ihrer Brust zwei Herzen schlügen am Mittwoch, weil sie sich einerseits dem Land ihrer Väter und andererseits dem Land in dem sie leben verbunden fühlen, dieses Gefühl des Zwiespalts abspricht. Hier soll nicht erläutert werden, dass auch jene türkischen Mitbürger sich nicht dem Fußball verschrieben haben, sondern ebenso nationalen Dünkel zum Leitmotiv ihres Betrachtens erheben - auch für sie gilt ja, dass sie keinerlei Interesse am Sublimen des Fußballspiels haben, keine Freude an der Beherrschung des Balls, sondern diesen oder jenen Sieg als nationalen Erfolg verbuchen, auch wenn in diesem oder jenen Erfolgsfalle der Ball die Spieler beherrschte. Ebensowenig soll hier erläutert sein, dass sie ja nicht den beiden Ländern zujubeln, sondern der DFB-Auswahl und der Auswahl der TFF (Türkiye Futbol Federasyonu). Wichtig in diesem Kontext ist aber, dass es immer wieder Stimmen gibt - und diese nicht zu knapp -, die verkünden, dass es solcherlei Doppelherzen, Zwiespalte also, gar nicht geben kann. Mit anderen Worten: Man hängt seiner Nation an, egal wo man lebt, egal ob man schon jemals innerhalb der bevorzugten Nation gelebt hat. Und: Man feiert kein Fest des Fußballs, sondern ein Fest des nationalen Fürsichseins, ein Fest des Separatismus. Der Fußball ist darin belanglos.

Entschlössen die Veranstalter sich dazu, nicht Fußball, sondern Schach spielen zu lassen - ohne Würfel, auch wenn Podolski das gerne so hätte - oder Halma im Mittelkreis, so wäre es den Anhängern auch billig. Die Sportart ist austauschbar, ersetzbar, verwerfbar. Die Formel 1 exisitierte hierzulande nur, solange Schumacher fuhr und gewann. Dann vereinten die "Anhänger" allerlei nationale Symbolik auf Schumacher und erklärten Ferrari zum deutschen Kulturgut. Solange Ullrich durch Alpen und Pyrenäen radelte, wenngleich zum ewigen Zweiten verurteilt, war die Tour de France kein internationales Ereignis mehr - gerade im Radsport gibt es eigentlich kaum nationale Ambitionen -, sondern ein nationales Getümmel, in welches sich viele deutsche Patrioten warfen.
Nie war der Sport im Mittelpunkt, wohl aber die Persönlichkeit, die man mit nationalen Stolz hat anreichern dürfen. In dieser Weise trifft es ebenso zu, wenn im Fußball Welt- oder Europameisterschaften ausgetragen werden. Angestachelt durch die Medien, wird so ein Ereignis zur nationalen Institution, der man sich nicht entziehen kann, ja gar nicht entziehen darf. "Du bist doch Deutscher!", heißt es dann. Oder: "Wir werden morgen gewinnen!" - Das gemeinschaftsverbindende Wir wird zum Ausdruck des klassenübergreifenden Zusammenhalts. Und plötzlich befinden sich Menschen im Fußballfieber, und nicht selten im -wahn, die außerhalb eines solchen Turnieres keinerlei Interesse am Fußballsport festmachen können. Aber wenn Deutschland spiele, so heißt es dann immer ganz selbstverständlich, dann müsse man natürlich seine Fußballaversion ablegen und Patriot sein. Warum man dies so sieht, wird hierbei nie beantwortet, denn Antwort setzt Nachdenken voraus - und über dergleichen Selbstverständlichkeiten denkt man doch nicht mehr nach. Und überhaupt: Wenn alle im Fußballwahn sind, dann wird daran schon etwas Wahres und Sinnvolles sein.

Es werden folglich, betrachtet man den vulgären Nationalismus dieser Tage, keinerlei Fußballfeste, wohl aber viele Deutschland-, Türkei-, Rußland- oder Spanienfeste gefeiert. "Fußball ist unser Leben", gilt schon lange nicht mehr. Die Fußballfans, so wie sie an Leinwände pilgern, gleichen den Heerscharen von angeblichen Katholiken, die den Papst bei seinen Deutschlandbesuchen hochleben lassen. Animiert durch Stimmungsmache, ohne Begriff für das Fußballspiel, freilich aber laut schreiend und bester Trainer von Welt seiend, geben sie ihrem nationalen Hochmut Ausdruck. Musterkatholiken hier, Musterfußballfans dort - die Medien geben vor, wann man was zu sein hat. Wenn dann die Europameisterschaft vorbei ist, dann schimpfen eben jene, die im Nationaltrikot, mit allerlei Flaggen garniert auf Plätzen herumlungerten und mit verzerrten Gesichtern "Deutschland, Deutschland" gröhlten, weil ARD und ZDF Unsummen für die Bundesligarechte ausgeben oder ein UEFA-Pokal-Spiel eines Bundesligisten in Lettland übertragen. Dann ist Fußball nicht angesagt und mit einem Bundesligisten läßt sich zudem kaum ein ungesunder Nationalismus befördern, den man dann wieder schamlos zur Schau stellen könnte.

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Wer braucht schon Sachpolitik?

Montag, 23. Juni 2008

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist noch wer! Zumindest will sie das den Menschen dieses Landes glauben machen. Auf Versammlungen und Parteitagen wird der Kult um die deutsche Sozialdemokratie weiter zelebriert. Dabei geht es den Bacchanten weniger und weniger um die zu umsetzende Politik, die man mittels einer Parteiapparatur befähigt wäre zu betreiben; nein, es dreht sich alles um die Partei selbst. Oder besser gesagt, um die Damen und Herren, die meinen eine Partei repräsentieren zu müssen. Und sie tun gut daran. Denn wenn man sich diese Herrschaften so anschaut, dann ist man froh, dass die sogenannte Sachpolitik keinen Platz mehr im Selbstfindungsprozess einer immer schon heimatlosen Partei innehat. Nun ist es ja nicht so, dass der veranstaltete Zirkus, den man nun immer häufiger, eigentlich regelmäßig, bei größeren Zusammenkünften der führenden Köpfe der SPD betrachten muß, regelrecht neu bzw., dass erst jetzt diese Partei unwählbar geworden wäre. Sie taugt ja schon seit Jahr und Tag nicht mehr als "kleineres Übel" für das man sich resignierterweise entscheiden könnte. Aber durchaus neu ist das regelmäßige In-Szene-setzen mittelmäßiger, uninteressanter und blaßer Apparatschiks, bei denen man sich fragen muß, wie sie zu ihrem Posten haben kommen können.

Angefangen beim Parteivorsitzenden selbst, der unrasiert, wahrscheinlich aber meist gewaschen, einen pragmatischen Sozialdemokraten mimt. Pragmatisch aber nur, wenn es Richtung freien Markt oder Union geht, die LINKE tunlichst kleinhalten will, sich abgegrenzt wissen möchte. Doch vollzogene Annäherungen, die sofort von Medien und Koalitionspartner angemahnt werden, zeigen seine Standhaftigkeit auf, bzw. die nicht vorhandene Standhaftigkeit. Komischerweise, so wird berichtet, würde innerhalb der SPD die abhandengekommene Standhaftigkeit immer noch als "zu standhaft" verstanden. Alleine dies zeichnet ein trauriges, aber doch aussagekräftiges Bild der deutschen Sozialdemokratie - selbst Wankelmut ist dem deutschen Sozialdemokraten noch zu standhaft! Kein Pakt mit der LINKEN wird gefordert und Kurt Beck schließt sich dem an. Gleichzeitig aber wirft man eine Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten in die Öffentlichkeit, weiß auch, dass man jegliche Stimme braucht, um den Sparkassendirektor Köhler aus dem Amt zu werfen, will aber mit der LINKEN keinerlei Berührungspunkte schaffen. Aber innerhalb der SPD spricht niemand von bornierter Kurzsichtigkeit. Nein, man muß ja auch Opfer bringen, um ja nicht mit dem Teufel in Kontakt zu treten, um ein frommes Mitglied der Parteiengemeinschaft zu bleiben. Oder Gabriel und Steinbrück, einst stete Handlanger der schröderianisch-münteferingischer "asozialen Ungerechtigkeit", wurden seinerzeit mit Abwahl abgestraft und führen heute, farblos wie eh und je, Ministerien. Steinbrück, der sich selbst als Sozialdemokrat sieht, als ausgemachter Marktfetischist! Clement, ausrangierter Minister, aber begehrter Lobbyist, zeigt Woche für Woche, wie er Sozialdemokratie auslegt. Belohnt wird er mit Aufmerksamkeit und leeren Drohungen, man werde ihn aus der erlesenen SPD-Riege ausschließen. Inhaltlich setzt sich keiner der führenden SPD-Granden mit ihm auseinander - wohl auch, weil der Inhalt Clements der Inhalt der Führungsriege ist. Ein bis vor kurzem unbekannter Parteibeamter, heute Außenminister, zeigt salopp was er von Demokratie hält, macht unliebsame Volksentscheidungen zum Motiv eines Ausschlusses. Nahles als Parteilinke, kooperierend mit jenen Granden, die sich jeglichen verbliebenen sozialdemokratischen Grundkonsens erwehren. Für einen Posten bedarf es keinerlei Prinzipien. Scholz, der einen ausgemachten Rückschritt bei Arbeitszeitregelungen als innovativen Fortschritt hochjubelt, aber sogar jubelnd stoisch langweilig bleibt. Man kann ihm nicht mal böse sein kann, weil man ihn sowieso nach drei Minuten schon wieder aus dem Gedächtnis getilgt hat. Und dann freilich die viertklassigen SPD-Mitläufer aus der zweiten Reihe - in der ersten Reihe sind sie drittklassig -, die versucht sind, immer wieder in den Vordergrund zu drängen: Griesgram und Verbalradikalo Stiegler, der ein Paar verlorene CSU-Prozentpunkte als SPD-Sieg verbucht, und vorallem Thilo Sarrazin, der unproduktiven Menschen - sofern sie ohne Erwerb sind - nur eine abgespeckte Menschenwürde zukommen lassen würde. Natürlich hält diese Runde sozialdemokratischer Sektierer, die sich auf ihren Zusammenkünften nurmehr um sich selbst kümmern, zusammen wie Pech und Schwefel. Und kritisiert man deren Agenda 2010, so kommt unisono zum Ausdruck, dass sie der reinste Segen gewesen wäre, dass man aber nicht dabei stehenbleiben dürfe, sondern weitere Reformen folgen müßten. Dies ist, auch wenn es gerne so dargestellt wird, keine Forderung des Seeheimer Kreises alleine, sondern bis zur Basis hinunter Allgemeingut. Die SPD ist an akuter Reformitis erkrankt. Dabei geht es schon lange nicht mehr um konkrete Reformen, sondern um die Reform der Reformbereitschaft - man ist auch viel zu viel mit Personalien beschäftigt, um sich konkret der Ungerechtigkeit widmen zu können. Dies überläßt man derzeit dem Koalitionspartner, der da nur zu gerne aushilft. Über diesen ganzen Wahnsinn von Selbstfindung und -beweihräucherung schwebt die personifizierte Hassliebe deutscher Sozialdemokraten: Lafontaine!

Da stehen sie dann dort, lassen den Kopf hängen und fühlen sich von den Menschen unverstanden. Mal sind es nur 20 Prozent, die die SPD erhalten würde, wenn am Sonntag Wahl wäre, ein andermal sind es immerhin noch 22. Und wenn man dann plötzlich auf 25 Prozent hochschnellt, dann verkündet man das Ende der Talsohle und zeigt auf, dass es nun kontinuierlich aufwärts gehe - bis zur nächsten Sonntagsfrage. Die Sozialdemokratie hat sich ja schon lange von ihren verbliebenen Prinzipien entfernt. Als der Hund nicht zum Herrn kam, da kam der Herr eben zum Hund. Aber es ist schon wahr: Nun beschäftigt sich die SPD gar nicht mehr mit Prinzipien und konkreten Vorstellungen, wie eine faire Gesellschaft zu organisieren sei. Damit schlüge sie den Menschen weniger vor den Kopf als zuvor, aber die Menschen entfernen sich dennoch. Solange Beck sich um Beck, Steinmeier um Steinmeier und Nahles um Nahles kümmert, kommen sie nicht auf dumme Gedanken. Man sollte als Wähler klar formulieren, dass man nur SPD wählt, wenn sie sich weiterhin mit sich selbst beschäftigt. Sie sollen von 2009 bis 2013 ihren Parteivorsitzenden Beck schwächen und stärken, deswegen auf Parteitagen über sich selbst schimpfen und sich später wieder selbst feiern, ein wenig Pöstchen innerhalb der Partei verschieben und verteilen, aber keinerlei Sachpolitik machen, keinerlei Ansturm auf neue Reformiererei starten. Daher: Wählt SPD, solange sie zu beschäftigt ist, weiterhin das Bürgerliche raushängen zu lassen! Wenn dies geschieht, dann könnten die 20 Prozent verdoppelt werden, es sei denn, die Union bemerkt, dass man damit Stimmen gewinnen kann. In Zeiten der Unterhaltung juckt es doch eh niemanden mehr, was Parteisoldaten fordern oder umsetzen. Wichtig ist, wer es fordert oder umsetzt, wer sein Werk mit Worten verteidigt; wieviele Ehen er hatte, wie oft er seine Partnerin betrogen hat, wieviele unehelichen Kinder er hat...

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De dicto

Samstag, 21. Juni 2008

"Darum muss in Irland nicht neu über den in der Tat kaum verständlichen Vertrag abgestimmt werden – sondern über die irische EU-Mitgliedschaft insgesamt."
- BILD-Zeitung, Nikolaus Blome am 20. Juni 2008 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Oh, ihr Engelszungen! Da interveniert Blome gegen den Stil der EU-Granden, die mit "Augen zu und durch" die Ratifizierung des Lissaboner Vertrages durchboxen wollen; mahnt an, dass man die Iren nicht abstimmen lassen kann, bist der EU das Ergebnis paßt, hält diese Haltung gar für "aberwitzig"; kommt danach zur Erkenntnis, dass es inzwischen "um viel mehr als um das Ja der kleinen grünen Insel am Rande Europas" geht, denn das Nein des irischen Volkes sei kein Sportunfall, sondern eher schon ein Genickbruch, der in fast jedem EU-Staat hätte danebengehen können; schlußfolgert gar nicht mal verkehrt, es ginge darum "was für eine EU die Völker haben wollen, und was für eine auf keinen Fall", um dann doch in den ewiggleichen Wahnsinn aus dem Hause Springer abzugleiten...

Natürlich findet Blome nicht die Direktheit, ein "Europa der Völker" zu fordern, welches dem jetztigen Modell des "Europas der Konzerne" diametral entgegengesetzt wäre. Aber grundsätzlich ist den Worten Blomes bis dahin zuzustimmen. Und prompt als man sich wundert, sowas in dieser Zeitung lesen zu dürfen, fällt auch schon der oben zitierte Satz. Bis zu diesem Moment sprach er mit Engelszungen, sprach an was viele denken. Beinahe hätte man meinen können, er spreche sich für Basisdemokratie aus, für Respekt vor dem Souverän eines jeden demokratischen Staatswesens. Legitim scheint ihm die Institution Referendum aber nur, wenn sie hilfreich wäre, die Iren mundtot zu machen. Und weil ein monatliches Befragen des irischen Volkes womöglich immer ein Nein heraufbeschwören würde, soll man die irischen Rebellen eben befragen, ob sie nicht aus der EU austreten wollen. Natürlich immer darauf spekulierend, dass die Iren, die sich von der EU unter Druck gesetzt fühlen, die als Souverän des Staates Irland nicht respektiert werden, ihren irischen Sturkopf gebrauchen, um sich gegen die Union zu entscheiden. Da wirft Blome der EU vor, sie würde "aberwitzige" Vorstellungen hegen, wie man Irland zur Ratifizierung treiben könne und er selbst fordert den Rauswurf, den er freilich in ein aberwitziges Referendum packen würde, damit er auch einen Anflug demokratischer Legitimation für sich beanspruchen könnte. Als Bertold Brecht danach fragte, ob es nicht einfacher wäre, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes, da wußte er noch nichts von EU-Politikern und bürokratischen Parlamentskonstrukten, die ein vermeintlich demokratisches Europa verwalten werden. Heute braucht niemand mehr ein neues Volk wählen; heute werfen wir ein unerträgliches Volk einfach hinaus - wir haben ja genug Völker! Genug Völker die bereit sind, sich gar nicht erst fragen zu lassen.

Soll man Blomes Schlußsatz zynisch verstehen? Ist es Zynismus, wenn er feststellt, dass nur so "das neue Europa, das wir brauchen" entsteht? Verräterisch, seine Ignoranz bloßlegend ist er allemal. Er verrät eine Mentalität, die über Leichen zu wandeln bereit ist, wenn nur umgesetzt wird, was die wohlhabenden Wirtschaftsmächte innerhalb der EU fordern. Es hätte auch verwundert, wenn ein BILD-Kommentar vernünftig zu einem Ende geführt worden wäre. So aber stellte sich heraus - wie so oft bei dieser Tageszeitung -, dass Blomes Worte kein Ausdruck von Vernunft, sondern Schlagengezische war - und für manchen, der auf die Anfangszeilen dieses Herrn hereinfiel, war es vielleicht sogar Schlangengift.

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Sit venia verbo

Freitag, 20. Juni 2008

"Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verräth in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz seyn könnte, indem er sonst nicht zu Dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen theilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz seyn könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu seyn."
- Arthur Schopenhauer, "Parerga und Paralipomena" -

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Kunst oder Ästhetik?

Donnerstag, 19. Juni 2008

Was Kunst sei, beschäftigt in diesen Tagen viele Gemüter. Diese ewige Frage, dieser Dauerbrenner intellektueller Diskussionen, der die Menschen vor Hunderten von Jahren genauso beschäftigte wie heute, findet gerade in den letzten Jahren Nahrung: Ist es Kunst, wenn laienhafte Gesangesbarden vor einer Jury trällern? Sind diverse andere Erscheinungsformen künstlerischer Gestaltung als Kunst faßbar? Wir kennen alle die Situation, in der wir mit vermeintlicher Kunst konfrontiert werden und kopfschüttelnd aussprechen, dass dies keine Kunst sein könne. Aber müssen wir als Kunst nicht auch begreifen, was uns ästhetisch nicht anspricht? Folgend soll nur ein kurzer und bescheidener Versuch getätigt werden, sich mit der "Kunst" auseinanderzusetzen. Dabei werden ästhetische Kategorien beiseite geschoben, da sie lediglich subjektiver Erscheinung sind und so nicht begreiflich machen können, wie Kunst zu verstehen ist.

Die etymologische Betrachtung bietet uns einen ersten Fingerzeig: "Kunst" entstammt dem "Können". Einem Können, welches dem Tierreich mit seiner triebhaften Geworfenheit in der Gesamtheit der Welt unbekannt ist. Der Mensch kann, er erlernt Können, schaut es sich ab und setzt es gekonnt in die Tat - in die eigene Tat - um. Der vom Können abgeleitete Kunstbegriff existiert nur in einer Welt, in der es Menschen gibt. Wo Menschen sind, wir gekonnt getätigt, wird daher Kunst betrieben. Das Produkt des Menschen, das Künstliche also, ist Grundvoraussetzung der Kunst - das Künstlerische erzeugt das Künstliche. Wo menschliche Kunst waltet, entsteht Künstliches. Diese Erfahrung von Tausenden Generationen ist es, die eine Schöpferidee hat entstehen lassen. Weil der Mensch gekonnt erschuf, glaubte er sein Dasein in Raum und Zeit, gebettet in einen natürlichen Kreislauf und zwischen Mitgeschöpfen, mit einer göttlichen Spiegelung seiner selbst, mit einem erschaffenden höchsten Wesen erklärbar machen zu können. Kunst und Religiosität bedingen daher einander, entstammen beide dem Können des Menschen.

Kunst ist keine Einrichtung, welche sich für gesellschaftliche Kreise quasi künstlich installieren ließ. Kunst ist nicht nur jenes, welches sich hier für elitäre Riegen, dort für proletarische Massen in abgestufter, abgewandelter, hier sublimierter, dort rauher Manier darstellt. Dies ist lediglich der beschränkte Raum der Kunst, jener also, den wir der Einfachheit halber Kunst nennen, der Kunstbegriff des Alltags also. Anders: Wenn wir danach fragen, was Kunst zu sein hat, dann meinen wir damit nicht nur das Künstliche eines Michelangelo, eines van Gogh oder Picassos, sondern das generalisierte Können eines jeden - der Menschheit wenn man so will. Kunst ist nicht nur der ästhetisch erhabene, meist kommerzialisierte Bereich des Künstlichen, sondern die Gesamtheit allen menschlichen Könnens. Wer bei Kunst nur nach Namen fragt, wer Kunst mit Rembrandts und Botticellis begreiflich machen will oder das Künstlerische an dem Künstlichen der Meister ermessen möchte, der bewegt sich nicht im Raume unserer Frage, sondern glaubt elitäre Kunstschaffung als Ausweg und Antwort für sich beanspruchen zu können. Kunst beinhaltet mehr - ist mehr. Sie ist nicht mit individuellen Meisterwerken erklärbar zu machen, sondern hat anderen Kategorien zu folgen.

Die menschliche Welt ist eine künstliche Welt. Auf eines der drei plessnerschen anthropologischen Grundgesetze anspielend: Der Mensch bewegt sich in „natürlicher Künstlichkeit“. Er lebt nicht in natürlicher Geborgenheit, im Schoße seiner ummittelbaren Umwelt, sondern er nimmt den „Umweg über künstliche Dinge“. Des Menschen Natürlichkeit ist Künstlichkeit. Er muß fertigen, gleich ob gedanklich oder handwerklich, um seiner Natürlichkeit Ausdruck zu verleihen. So nutzt er nicht die geballte Faust, sondern einen Hammer; sein Obdach ist nicht der Himmel oder die Krone eines Baumes, sondern ein Haus. Der Mensch ist Kulturträger und Schaffender. Dies setzt ein Wissen, ja, ein Können voraus. Dies Können, diese Kunst folglich, ermöglicht des Menschenwesen Natürlichkeit im künstlichen Kosmos. Zwar nimmt der Mensch das Gegebene an, doch widerstrebt es ihm, zu akzeptieren, was sich ihm darbietet. Er strebt danach, der Formgeber des Gegebenen zu sein, er will künstlerisch tätig werden, will - und muß - das natürliche Gegebene mit Künstlichkeit durchziehen. Durch Erkennen, Handeln und Gestalten vermittelt er gegenüber der Unmittelbarkeit des Vorgegebenen. Dieses zweite Grundgesetz Plessners - "vermittelte Unmittelbarkeit" - besagt, dass der Mensch beständig nach Erfindungen und Entdeckungen strebt, die das Vorgegebene mit seiner menschlichen Welt vermittelbar machen. Was sich hier noch im Materiellen abspielt, wird im dritten Grundgesetz, der "utopische Standort", auf geistige Ebene gehievt. So ist nicht nur in der realen Welt die Kunst des Menschen dessen Natürlichkeit. Durch den tiefen, aber natürlich-künstlichen Graben, der den Menschen von seinem Umfeld, der Natur also, trennt, ersinnt er in seiner kreativen Wesensart einen absoluten Weltgrund. Die Kunst offenbart sich religiös; es ist spirituelle Kunst. Der Kern aller Religiosität ist das Muss des Menschen, Künstler zu sein. Gott ist folglich das Künstliche - so wie wir es weiter oben schon festgestellt haben.

Die Frage, wie Kunst zu definieren sei, ist demnach die Frage nach dem Wesen des Menschen. Wenn wir heute, eingepflanzt in einer Gesellschaft, die Kunst als elitäres Zelebrieren von Vernissagen oder als Verständigkeit in Fragen der Kunst der alten Meister begreift, nach ebenjener fragen, so meinen wir damit eigentlich die Frage nach der Ästhetik. Kommen wir zu der Erkenntnis, das dies oder jenes keine Kunst sei, so wollen wir eigentlich damit sagen, dass uns dies oder jenes ästhetisch nicht anspricht. Wenn ein Kunstschaffender, so wie einst geschehen, aus menschlichen Kot Figuren bastelt, so spricht uns dies im Regelfall ästhetisch nicht an, aber Kunst aufbauend auf den Grundgesetzen Plessners ist es dennoch - es ist künstlich, dem Können des Menschen entsprungen, auch wenn wir dieses Können ekelhaft finden. Die Abhandlungen nach der Künstlichkeit der Kunst sind daher unzureichend und behandeln nur den abgegrenzten Raum, welcher in der Alltagssprache „Kunst“ genannt wird. Eine Kunst also, die wir nicht als menschliches Wesensmerkmal, sondern meist als gesellschaftliche Institution betrachten und verstehen. Die Beantwortung der Frage, was Kunst sei, ist relativ unspektakulär und einfach; die Beantwortung der Frage nach der Ästhetik - die wir ja eigentlich meinen, wenn wir Kunst kritisieren und als solche nicht begreifen wollen -, ist unbeantwortbar und nur soziologisch, kulturell und traditionell zu erahnen, nicht aber hinreichend zu beantworten.

Was also ist Kunst? Um der gestellten Frage doch noch gerecht zu werden: Die Frage nach der Kunst ist die Frage nach der „natürlichen Künstlichkeit“. Die "natürliche Künstlichkeit" entspricht dem Wesen des Menschen. Wer folglich nach Kunst fragt, fragt daher immer auch: Wer sind wir? - Die Kunst ist also nicht, wie es meist interpretiert wird, eine Nische gebildeter oder scheingebildeter Menschen, sondern Wesensmerkmal des gesamten Menschengeschlechts. Und folglich sind die Gesangesbarden aus diversen Fernsehsendungen Künstler. Sie erschaffen Künstliches, wenngleich vielleicht nicht so gekonnt, wie es die Meister ihres Fachs tun. So besehen ist der Mensch per se ein Künstler, jede Tat ein kleines, für sich selbst sprechendes Kunstwerk - ja, selbst die Politik, die "Kunst des Pragmatischen", ist aufgrund ihrer Künstlichkeit als Sachverwalter gesellschaftlicher Strukturen, eine Form des Kunst.

Unserem ästhetischen Empfinden mag es dennoch oft nicht zusprechen, es mag uns sogar dermaßen anwidern, dass wir salopp behaupten, dies alles sei keine Kunst. Aber dies ginge an der Begrifflichkeit vorbei, denn die Kunst eines Menschen zu leugnen, leugnet - im Sinne Plessners - den gesamten Menschen. Wir können über die Qualität der Kunst sprechen, über Vorzüge und Nachteile einer bestimmten Künstlichkeit, aber ihr den Status absprechen, ist ausgeschlossen. Alles was vom Menschen stammt, egal in welcher Form, ist demnach Kunst.

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Nomen non est omen

Mittwoch, 18. Juni 2008

Heute: "Demographischer Wandel"
„Natürlich wissen wir, dass wir angesichts der Bevölkerungsentwicklung gerade die Jüngeren ermuntern müssen, neben der gesetzlichen Rentenversicherung private Vorsorge vorzunehmen, weil wir heute nicht mehr garantieren können, dass die Jüngeren in ihrem Rentenalter mit der gesetzlichen Rente ihren Lebensstandard aufrechterhalten können.“
- Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich des Jahreskongresses der Hessischen Landesregierung im August 2007 -

"Es gibt Probleme mit und Probleme ohne Lösung. Wir sitzen in einer demographischen Falle, in der wir ein halbes Jahrhundert bleiben werden - mindestens."
- Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg in der FAZ vom 28.08.2006 -
Der Demographische Wandel bezeichnet den Bevölkerungsrückgang in Deutschland. Die Annahme ist, dass in Deutschland immer weniger Kinder geboren werden und zugleich die Menschen, durch eine gesteigerte Lebenserwartung immer älter werden. Das statistische Bundesamt hat 2006 die 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung herausgebracht, nachdem die Bevölkerungszahl von 82,5 Millionen Menschen im Jahre 2005 auf bis zu 69 Millionen Menschen im Jahre 2050 abnehmen werde.
In Deutschland werden das „Demographische Problem“ sowie die „Globalisierung“ als die zwei Hauptargumente angeführt und instrumentalisiert, um marktwirtschaftliche Reformen sowie Sozialabbau, im Sinne einer neoliberalen Ideologie, zu legitimieren. Es müsse eine Rentenkürzung, eine Erhöhung des Renteneintrittsalters sowie eine Umschichtung hin zu privater Altersvorsorge stattfinden. Nutznießer einer privaten Altersvorsorge sind in erster Linie Banken und Versicherungen. Weiterhin soll damit das sogenannte „lebenslange Lernen“ sowie eine Beschäftigung im hohen Alter forciert werden. Die Reform der Rente mit 67 in Deutschland wurde z.B. mit dem demographischen Wandel gerechtfertigt. Da die Menschen länger gesund leben würden, könnten sie auch länger arbeiten, so die Begründung. Das Problem ist hierbei, dass das Arbeitsaustrittsalter und das tatsächliche Renteneintrittsalter heute kaum zusammenfallen. Viele deutsche Unternehmen beschäftigen kaum ältere Menschen, sondern entlassen sie, sobald sie können. Insofern bewirkt die Rente mit 67 nur eine Rentenkürzung der Betroffenen, da sie mit 50 oder 55 vorzeitig in Rente geschickt werden und demzufolge mit Abschlägen bei ihrer Rente rechnen müssen.
Der Konflikt zwischen alten und jungen Menschen wird bei der Debatte konstruiert, um vom wahren Konflikt, der zwischen armen und reichen Menschen in Deutschland, abzulenken. Weiterhin stellt sich die Frage, wenn die Weltbevölkerung demnächst an Überbevölkerung leiden werde, wieso Deutschland dann mehr Kinder brauche? Der Verdacht liegt nahe, dass es eben darum geht mehr „deutsche“ und von diesen am besten auch nur welche aus reichen Familien in die Welt zu setzen. Dass dieser Diskurs zunehmend nationalistisch-faschistische Züge trägt, ist äußerst bedenklich. Im Kern stützt sich das ganze Problem, auf eine Prognose des statistischen Bundesamtes über die nächsten 50 Jahre. Abgesehen davon, dass Prognosen von Annahmen ausgehen und keine Hellseherei sind, kann man der vermeintlichen Überalterung der Gesellschaft und dem Geburtenrückgang auch konstruktiv begegnen. Solange jedoch schwangere Frauen und ältere Menschen aus Unternehmen geworfen werden, Kindertagesstätten völlig überteuert sind, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sich für Frauen schwer gestaltet und die Anforderungen von Mobilität und Flexibilität an Arbeitnehmer derart hoch sind, wird sich jeder dreimal überlegen ob er oder sie eine Familie gründen möchte oder nicht.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Rule, Europa!

Dienstag, 17. Juni 2008

Seit heute Nacht ist die Welt um eine Episode menschlicher Historie reicher. Eine Episode voller Niedertracht, lange von der britischen Regierung geheimgehalten. Doch letztendlich kommt ans Tageslicht der Geschichte, was lange in Aktenordnern verstaubte und ermöglicht eine Wendung der Umstände, ermöglicht ein völliges Umdenken. Europa scheint gerettet, weil sich Großbritannien zur Wahrheit entschloss! Man sollte sich festhalten, denn das Folgende kommt einem Erdrutsch gleich: Der anglo-irische Vertrag von 1921 ist ungültig! Ungültig! Wie der britische Geheimdienst in einer außerordentlichen, hektisch einberufenen Pressekonferenz bekanntgab, sollen alle damaligen Mitglieder der irischen Delegation, die auch die Akte unterschrieben haben, Mitglieder des Geheimdienstes seiner Majestät gewesen sein. Arthur Griffith, Michael Collins, Robert Barton, E.J. Duggan und Charles Gavan Duffy seien demnach schon Jahre zuvor rekrutiert worden, um die irische Unabhängigkeitsbewegung in geordnete Bahnen zu lenken. Premierminister David Lloyd George war der Ansicht, man müsse das "ausufernde, irische Rebellenlager" einigermaßen unblutig in die Unabhängigkeit führen und korrumpierte die irische Führungsriege. Der aktuelle Premierminister Brown äußerte sich beschämt zu diesen Ereignissen, entschuldigte sich beim irischen Volk und verkündete nebenher, dass man in London den anglo-irischen Vertrag für hinfällig und nichtig betrachte. Ein Vertrag zwischen einer britischen Delegation und britischen Agenten könne keine Grundlage für eine irische Unabhängigkeit sein. Irland sei deshalb als Teil der britischen Krone zu betrachten, demnach also Mitglied des Vereinigten Königreiches. Zwar verspreche man, die irische Autonomie kaum anzutasten, doch in verfassungsgebenden Fragen, soll fortan die britische Demokratie, d.h. das Unter- und Oberhaus des britischen Parlaments entscheiden dürfen. Die irische Unabhängigkeit von 1921 sei, so Brown weiter, ein "Mißverständnis der Geschichte", doch er weise darauf hin, dass das Aufdecken dieses historischen Skandals nichts mit dem irischen Nein zum Vertrag von Lissabon zu tun habe. Zuweilen geschehen aber eben solcherlei Zufälle und man werde sicherlich pragmatisch genug sein, diesen Zufall dahingehend zu nutzen, das Beste für Großbritannien, mit dem nach Hause zurückgekehrten Irland, und Europa zu erwirken.

Prompt wurde die neue Konstellation innerhalb europäischen Gefüges von den Regierungen anerkannt. Berlin, Paris, Madrid und Brüssel gratulierten geschlossen den Iren, endlich wieder heim ins Reich gefunden zu haben. Die Bundesregierung äußerte sich dahingehend, dass man zwar Mitleid mit den Iren habe, weil sie Jahrzehnte in der Illusion einer vollwertigen Unabhängigkeit lebten, doch dürfe man den Wink des Schicksals nicht verkennen und sollte nun schnell zur Ratifizierung des EU-Vertrages übergehen. Den Vorschlag, den man kürzlich noch unterbreitete, wonach das irische Volk nicht mehr über die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon zu entscheiden habe, sondern gleich um die Mitgliedschaft in der EU, ist nun natürlich hinfällig und man ist froh, dass man die netten Sonderlinge von der grünen Insel in der Union behalten dürfe. Außerdem begrüße man Irland als Teil eines neuen Großbritanniens, müsse nun nicht mehr müßig das Volk bemühen - welches ja, man beachte die Wahlbeteiligung des Referendums, sowieso keinerlei Interesse an Politik zeige -, sondern dürfe auf ein baldiges Inkrafttreten des Vertrages hoffen. Die französische Regierung ließ mitteilen, dass man die Entscheidung des irischen Volkes akzeptiert hätte, nun aber die Vorzeichen andere seien. Ein irisches Volk habe es ja, wenn man es genau betrachtet und im Lichte der Erkenntnis wendet, nie gegeben. Nun müsse man eben abwarten, was das britische Volk zu sagen habe, besser gesagt: was die Vertretung des britischen Volkes in Unter- und Oberhaus zu sagen hat. Aus Brüssel ist zu hören, dass das britische Verhalten von 1921 verwerflich sei, aber man dürfe die "Einheit Großbritanniens und den europäischen Integrationsprozess nicht zu sehr mit moralischen Bedenken belasten". Was zählt sei das Hier und Jetzt und dies sei nun mal so geartet, dass ein unabhängiges Irland ein geschichtlicher Irrtum ohne vertragliche Grundlage gewesen sei. Und damit sei auch die irische Verfassung, die sich hartnäckig an Volksentscheide gekettet habe, niemals völkerrechtlich legitimiert gewesen und demnach ebenso eine irrtümliche Erscheinung der Geschichte.

In Berlin und Paris soll in den kommenden Tagen über die Worte des luxemburgischen Ministerpräsidenten Juncker beraten werden. Dieser hat den großen EU-Staaten vorgeworfen, mit Arroganz gegen kleinere Länder aufzutreten. Man munkelt, dass man Luxemburg fristlos aus der EU werfen werde, weil der Pseudo-Moralismus, den man aus den Worten Junckers herauslesen kann, zur Zersetzung der Europäischen Union beitrage. Gleichzeitig soll die Tschechische Republik verwarnt werden, weil der Lissaboner Vertrag einer Prüfung des nationalen Verfassungsgerichts unterzogen wird. Unverhältnismäßige Skepsis und verschlagenes Mißtrauen könne man nicht wortlos stehen lassen. Das noch unentschlossene EU-Europa müsse nun wissen, dass die Zeiten der Worte vorbei sind, nun müssen Taten und Aktionen folgen.
In einer Sondersitzung der großen EU-Staaten soll über die griechischen Pläne bezüglich einer Annexion Zyperns beraten werden. Grundsätzlich könne Europa so ein Vorgehen nicht unterstützen, nicht einmal tolerieren. Aber sollte sich das Repräsentantenhaus Zyperns am 3. Juli gegen den EU-Vertrag aussprechen, so würden Berlin, Paris und Brüssel logistische und auch Waffenhilfe leisten. Böse Zungen behaupten, dass die EU ebenso Delegationen nach Ankara schicken wird, um über eine türkische Annexion Zyperns zu diskutieren. Sollte sich nämlich Griechenland nicht zutrauen, Zyperns Defäitismus zu bändigen, so hätte man sich so die Möglichkeit bewahrt, Zypern aus der EU herausannektieren zu lassen. Freilich könnte man in Falle einer türkischen Intervention keine Hilfe leisten, man würde aber nicht zu sehr auf Menschenrechte pochen und die Türkei mit der Härte vorgehen lassen, die in so einem dringendem Falle geboten wäre.
Madrid will nächste Wochen anfragen lassen, ob Europa ein Ja zum Vertrag mit der Zurückerstattung der Spanischen Niederlande honorieren würde. Beobachter mutmaßen, dass man Madrid bis auf den 8. Juli vertrösten wird, bis man in Brüssel weiß, ob die Erste Kammer der Generalstaaten dem Lissaboner Vertrag zustimmen wird oder nicht. Die deutsche Bundesregierung sieht sich diesbezüglich unter ihrem Wert verkauft. Hätte sie gewußt, dass man einen Ratifizierungsprozess mit territorialen Gewinnen verbandeln könnte, hätte sie ihren Anspruch auf Polen erneuert und sich ein Ausbreiten östlich der Oder erbeten. Indes sieht Polen es andersherum und versucht aus der bereits vollzogenen Ratifizierung Gewinn zu schlagen, indem man deutsche Ländereien westlich der Oder für sich beansprucht. Immerhin, so lautet das polnische Argument, wäre damit - da in Polen wie gesagt die Ratifizierung schon durchgewunken wurde - die ehemalige DDR mit ins europäische Boot geholt. Denn man dürfe nicht vergessen, so Warschau, dass die BRD noch nicht ratifiziert habe und die kommunistischen Umtriebe innerhalb Deutschlands bewirken könnten, dass die baldige kommunistische Bundespräsidentin Schwan, ihre Unterschrift verweigere.

Von wegen, die EU stehe am Scheideweg! Die Regierungen Europas sind, wie die Zukunft zeigen wird, flexibel genug, ihre Wirtschaftsordnung zu installieren. Am Ende des Jahres wird der Europäische Rat zusammensitzen und über den Anflug von Pessimismus lachen. Und den Machern des neuen Europa werden dann Dankesnoten übermittelt. Ein Schreiben an den spanischen König, der in seiner neuen Hauptstadt Amsterdam residieren wird; ein weiteres Schreiben an den Staatschef Polens, der im polnischen Dresden einen Kultururlaub absolviert; eine Dankesschrift an Silvio Berlusconi, der sich in Addis Abeba zum Neguse Negest ausrufen läßt. Gleichzeitig wird man dann einen vereinten Waffengang beschließen und diesem widerspenstigen irischen Volk zur europäischen Linientreue verhelfen. Rule, Britannia...

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In nuce

Montag, 16. Juni 2008

Mathias Richling und Bruno Jonas als die Handlanger der Politik? - Der Konkret betrachtet die qualitative Entwicklung des politischen Kabaretts innerhalb der ARD-Sendung "Scheibenwischer" und kommt zu der Einsicht, dass eine unabhängige Persiflage der Zustände nicht mehr gegeben ist. Entweder flüchten sich die Beteiligten in Binsenweisheiten, abgeschmackte Sprüche oder übernehmen kritiklos die Ressentiments der Politik, gerade auch gegen die LINKE, oder man ist so albern, dass man vielleicht von Stammtischwitzelei, nicht aber von politischen Kabarett sprechen sollte. So wie das Ensemble des "Scheibenwischer" auftritt, steht man nicht als zynische, in Lachen gehüllte Opposition parat, sondern ist stiller Teilhaber einer Koalition gleichgeschalteter Parteienentwürfe, die sich allesamt zum Büttel der Wirtschaft ernannt haben. Indem man kalauerhaft, dennoch zurückhaltend und dezent kritisiert - ein Witzchen über die Frisur einer Politikerin hier, ein Scherzlein auf Kosten eines Sprachfehlers oder einer Spracheigenheit eines Politikers dort -, atomisiert man fundamentale Kritik, die sich ja gerade im Kabarett auf geschickte und liebenswerte Art und Weise in aller Härte über den Kritisierten ergießen soll. Oder anders: Wenn man Merkels Eisenherz-Frisur ständig ins Zentrum der Lächerlichkeit stellt oder das nasale Rümpfen der Gesundheitsministerin, so nihiliert man die schelmenhafte Kritik an deren Außen- oder Gesundheitspolitik. Man reduziert sein Repertoire kritischer Auseinandersetzung mit den politischen Gegebenheiten zugunsten einer geckenhaften Oberflächlichkeit.
Zensur kann man das freilich nur schwerlich nennen. Selbstzensur, um mit der politischen Elite - an dieser Stelle, wie so oft, sei angemerkt: jene, die sich selbst zur Elite erklärten! - nicht anzuecken trifft eher zu. Wenn zuweilen führende Berliner Politiker im Publikum des "Scheibenwischer" sitzen, sich schenkelklopfend geben und Tränen des Lachens in den Augen haben, dann muß man sich doch fragen, was das Ensemble falsch macht. Soviel Dummheit, Dreistigkeit, Hinterfotzigkeit und ungesundes Maß an krimineller Energie, kann doch den Betreffenden gar nicht zum Lachen bringen, selbst wenn man die Kritik schelmenhaft zum Besten gibt. Selbstzensur also: Im Falle des letztjährigen Nockherberg-Redners Django Asül war es dies jedenfalls nicht. Lobend komplimentierte man ihn aus seiner Rolle als Festredner. Er wäre bissig gewesen, direkt, hat Themen angesprochen, die den anwesenden Politikern wehtaten. Aber er war, so munkelte man im Stillen, zu bissig, zu direkt, zu sehr auf die kritischen Themen eingegangen. Und Türke ist er ja auch noch! Das Establishment der bayerischen Politik äußerte sich besorgt. Sich derart von einem Deutschtürken heruntermachen zu lassen, wurde als gefährliches Zeichen der Zeit gewertet. Und so hält seit diesem Jahr wieder ein braver Niemand - Michael Lerchenberg - die Festrede für seine Herrn.
Selbstzensur scheint voll im Trend zu sein. Auch der private Radiosender Antenne Bayern - der meistgehörte Radiosender des Freistaats und dabei maßlos überschätzt - hat sich selbst zensiert. Oder sagen wir lieber: Hat den neuen Hit der Ärzte zensiert. In "Lasse redn" kommt jene Passage nicht vor, die sich kritisch zur BILD-Zeitung äußert. Demnach hätten die ewigen Nörgler - gegen die sich der Song richtet - ihre Bildung sowieso nur aus der BILD und die bestehe ja nur aus "Angst, Hass, Titten und dem Wetterbericht". Kurz und prägnant getroffen - aber der Antenne Bayern-Redaktion reichte es, um die Passage herauszuschneiden. Wer den Titel nur aus diesem Radiosender kennt, dem würde es nicht mal auffallen. Und so fragt man sich, wieso Antenne Bayern ein derartiges Interesse am makellosen Ruf der BILD hat. Ganz einfach: Die Axel Springer AG ist mit 16 Prozent an Antenne Bayern beteiligt! Was auch das alltägliche Aufgreifen seltsamster BILD-Schlagzeilen innerhalb des Radioprogramms erklärt. Kritik äußern die sprachgewandten Nichtssager von Antenne Bayern nämlich nie. Stattdessen werden BILD-Themen zum Gegenstand flapsiger Sprüche und vorgefertigter Ansichten.
Pressefreiheit - ein schöner Begriff!

Bildung ein Grundrecht? - Mitnichten! Die Phorms AG möchte damit den eigenen Säckel füllen. In der Privatschul-Kette erlernen schon Erstklässler die englische Sprache, sollen zum Abitur getrimmt, mit dem International Baccalaureate Diploma ausgezeichnet und als Weltbürger anerkannt werden. Kurzum: Hier wird der effiziente, profitorientierte, unkritische homo novus der kommenden Welt herangezüchtet, der nicht von einer spielerischen Kindheit zu berichten weiß, dafür aber von Ganztagsunterricht, ausgefüllten Nachmittagen und Lehrern, die es gut mit einem meinten. Wir dürfen darauf warten, dass die Phorms AG von irgendeinem unserer Volksvertreter bald gelobt wird. Wie könnte man auch eine Zuchtanstalt für neue Effektivmenschen verurteilen? 1000 Euro wird für einen Platz an so einer Schule monatlich berechnet. Reiche Kinder können einen leid tun...

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Wollt Ihr den totalen... ?

Sonntag, 15. Juni 2008

Wohin man in diesen Tagen auch blickt, man entkommt dem runden, von Kinderhänden aus Sialkot (Pakistan) gefertigten Leder nicht. Alles, schier jeder Bereich des täglichen Lebens, nimmt Anteil an dem Ereignis jenseits und innerhalb der Alpen. Selbst Sparten, die nicht mal einen Hauch von Affinität zum Fußball besitzen, sind durchwachsen von dieser Totalität. Das fußballerische Mitläufertum macht es sich in jeder Nische bequem, wenn sich damit nur ein Paar Cent mehr verdienen läßt. Niemand will diesem eindimensionalen Totalitarismus entfliehen, denn man erwartet - gerade wenn man ein Unternehmen führt, ein Geschäft besitzt -, dass man sich mit der kollektiven Berauschung des Massenereignisses solidarisiert und sich zum Teil uniformen Marschtrittes macht. Was dabei herauskommt ist eine oberflächliche, auf den kurzen Moment des Spektakels fixierte, ins Kollektiv einreihende Fußballhysterie, die gerade auch jene erfaßt, die sonst keinerlei Nähe zu diesem Sport empfinden und sich angewidert abwenden, wenn wieder einmal ein Bundesliga- oder Europapokalspiel übertragen wird. Dies vorallem dann, wenn teure GEZ-Gelder dafür aufgebracht werden und sie dahinter eine unanständige Verschwendermentalität der Öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten wittern.

Egal wohin ich blicke, die zeitlich begrenzte Gleichschaltung hat die Gesellschaft erfaßt. Nationalflaggen hängen inflationär aus Fenstern und über Balkongeländern; Fahrzeuge werden ebenso damit entstellt. Menschen pilgern abendlich vor Leinwände und suchen Kneipen auf, die sie sonst meiden, nur um in der Masse gebettet, ihre Ahnungslosigkeit bezüglich dieses Sports zur Schau zu stellen. Hupkonzerte ergießen sich in trauter Langeweile in den Straßen. Kindern werden Unsummen Taschengeldes abgenommen, damit sie diverse Aufkleberheftchen mit grimmig dreinblickenden Fußballergesichtern zieren können. Supermarkt-Prospekte garnieren ihre Angebote mit Fußballzierleisten und sinnfreien Sprüchen, die wie Anleihen aus dem Sport-Jargon klingen. Bier- und Kartoffelchipshersteller präsentieren Angebote, die mit einer Gratis-Deutschland-Flagge einhergehen. Ein Leiharbeitsunternehmen wirbt in einer Postwurfsendung mit dem Satz: "Es ist EM! Bleiben Sie am Ball mit...!", um in der danach folgenden Selbstbeweihräucherung den Fußball völlig zu vergessen. Bäcker bieten Tüten mit elf Stück Laugengebäck an, um die Summe einer Fußballmannschaft damit zu symbolisieren. Diese ließen sich, so die Bäckereiangestellte, doch wunderbar zum Fußball verspeisen, besser als Chips - ich fragte sie, ob ich sie auch erwerben dürfe, wenn ich sie nicht zum Fußball esse. Was haben die Leute überhaupt immer mit ihren Kartoffelchips zum Fußball? Radiomoderatoren sprechen nur von der Europameisterschaft und lassen dabei die Zuhörer versehentlich wissen, dass sie eigentlich gar keine Ahnung von Fußball haben. Fernsehsendungen aller Gattungen, ob ernsthaft oder banal, erwähnen mit mindestens einen Satz das Großereignis. In allerlei Fernsehserien stellt man eine Verbindung zum aktuellen Geschehen her und läßt die Laiendarsteller mit Fanartikeln oder sinnfreien, aber flotten Stimmungssprüchchen herumlaufen. Ob großes Warenhaus oder kleiner Friseursalon: Die EM lungert in den Schaufenstern herum! Tageszeitungen sehen es als ihren größten Zweck an, als ihre göttliche Berufung, die Europameisterschaft in endlose Sphären zu schreiben. BILD-Titelmädchen spielen mit ihren Bällen - diese meist in Landesfarben getunkt. Das Internet trieft vor Berichterstattung aus Österreich und der Schweiz. Werbespots sprechen nur noch EM-pfehlungen aus. Sportsendungen machen aus jedem Foul ein globales Ereignis, aus jedem Fehlpaß ein nationales Desaster, aus jedem Kratzen des Torwarts an seinem Hodensack eine psychologische Analyse. Schulkinder lernen im Unterricht die Flaggen der teilnehmenden Länder kennen, müssen sie auf- und ausmalen. Bahncards werden verlängert, je länger die DFB-Elf im Turnier herumgestolpert. Überall belauscht man Gespräche, von denen man Bruchstücke erfaßt: "Deutschland" und "Österreich" und "Foul" und "Ballack" und "Schweinsteiger"! - Wieder zwei Bibliothekarinnen, die ihre Fußballaversion zur Seite gepackt haben, um patriotisch-kollektivistisch als Experten aufzutreten! Ich schalten das Radio an und höre: "EM"... ich drehe weiter... "... in Österreich und der Schweiz" -weiter!... "Europameisterschaft" - ich schalte wieder ab. Zappe durchs Fernsehprogramm: Mutter Beimar sagt "EM"; ein Animateur auf einem interaktiven Spielesender trägt Trikot und verkündet unheilschwanger "EM" und "Anrufen!"; danach eine mir unbekannte Moderatorin, die ebenso "EM" aus ihrem Mund presst. Im Deutschen Sportfernsehen sitzen ausrangierte Fußballgrößen. Lattek spricht von der EM; Thomas Helmer benutzt die Abkürzung "EM" dreimal pro Teilsatz; Wontorra sagt "EM", ein Journalist des Kicker EM-t ebenso; auch Magath sagt "EM" und Beckenbauer "Ähm..."! Ich lerne: Oliver Pocher ist nun Fußballexperte geworden. Sicher hat er mehr Ahnung als Johannes B. Kerner, der seinen patriotisch-lächelnden Quadratschädel durchs EM-Programm schleppt und dabei natürlich nicht vergisst, die Wichtigkeit, Größe und Weltgeltung des nächsten Deutschlandspiels in jedem zweiten Satz zu erwähnen.

Wohin soll ich fliehen? Nicht Gott, diese niedliche Erfindung des Menschen, ist allgegenwärtig, nicht Gottvater oder Gottsohn, sondern Gottfußball. Nein, seinen Blicken entkommen wir nicht! Ich sitze fest - es wird mir schlagartig bewußt. Koffein zur Beruhigung! Ich greife nach einer Flasche Coca-Cola Zero - werfe sie sofort gegen die Wand! Ballack lächelte mich von der schwarzen Flaschenbanderole herunter an. Aus meinem Kühlschrank grinsen überhaupt viele Fußballer heraus oder drängen sich Fußbälle in mein Blickfeld. Auch darin kann ich also keinen Trost, keine Ablenkung mehr finden. An diesem Punkt angelangt wird sich mancher Zeitgenosse denken, dass man mitlaufen sollte, wenn man der Maschinerie schon nicht entkommen kann. Dann zieht er sich ein Trikot an, malt sich Schwarz-Rot-Gelb ins Gesicht und gröhlt lauter und derber als jene, die schon von Anfang an infiziert waren.
Ja, so muß es sein! All die Verrückten, die sich um eine Leinwand oder einem Fernsehgerät tummeln, die unter dem Jahr nichts von Fußball wissen wollen, sind gar keine Freunde des Fußballs, verachten in ihrem Innersten die Europameisterschaft. Es sind nur Resignierte, die im Angriff die beste Verteidigung erblickt haben. Wenn es sich schon nicht mehr aushalten läßt im Alltagsleben, dann saufen und gröhlen sie sich eben bewußtlos. Sie haben jenen Fluchtweg entdeckt, der die beste Chance auf Entkommen bietet!

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Irische Rebellen

Samstag, 14. Juni 2008

Print- und Broadcastmedien zeigen sich im Trauerflor. Unverständnis nährt ihr Programm. Enttäuschung liest sich zwischen den Zeilen und ist aus den Tonlagen der Nachrichtensprecher heraushörbar. Während die einen in ihrer Trauer in Jammertäler versinken und meinen den Untergang des Abendlandes am Horizont erkennen zu können, flüchten sich andere Trauernde in einen blümchenumrandeten Optimismus, der hartnäckig glaubhaft machen will, dass das Schiff auf Kurs zu bleiben hat, wenn es den geheiligten Hafen auch wirklich erreichen möchte. Einig ist sich die Trauergemeinde aber in einer Sache: Schuld hat das irische Volk! Und ein großes deutsches Magazin schrieb schon im Vorfeld, dass die Iren rebellenhaft gesittet seien. Wer also bei einem Referendum, bei dem er zwischen zwei Positionen frei entscheiden darf, eine Ansicht vertritt, die den Kapital- und Machteignern zuwiderläuft, der ist ein Rebell! Selbst wenn er sein Rebellendasein in demokratische Strukturen wirft!
Bestenfalls am Rande der Berichterstattung wird dargelegt, warum das Referendum betreffs Vertrag von Lissabon gescheitert ist. Schon an dieser Wortwahl muß man sich stoßen. Ein Referendum kann nicht scheitern! Es kann nur ein Ergebnis zutage bringen. Gescheitert kann es nur für denjenigen sein, der bestimmte Interessen vertritt. Eine Regierung aber, die ein Referendum einleitet, hat wertneutral das Ergebnis zu erwarten und anzunehmen. Dies entspricht dem demokratischen Sinn von Volksentscheiden. Man will in Erfahrung bringen, was das Volk denkt, und darauf aufbauend die nationale Politik ausrichten. Viele Faktoren werden in den Massenmedien behandelt, warum die Iren so widerspenstig votiert haben. Das Hauptargument, so wird klargemacht, ist das Anspruchsdenken des gemeinen Wohlstands-Iren, der Angst hat, seinen jüngst erworbenen Reichtum - was Eliten für Reichtum ansehen - zu verlieren. Diese Deutung, davon darf man ausgehen, soll die "irische Rebellion" in ein fressendes, saufendes und folglich wohlstandssuhlendes Licht rücken. Folglich war es irischer Egoismus, der die Menschen von der grünen Insel zu dieser bodenlosen Frechheit gegenüber Europa - die ARD zeigte einen irischen Barkeeper in Brüssel, der seine Landleute scharf kritisierte, weil sie lange Unterstützung von der EU bekamen und dieser nun so in den Rücken fielen - animiert hat. Welch unmenschlicher Dolchstoß, den das irische Volk uns Europäern da versetzt! Wegen der Inhalte, so soll es den Menschen in Europa eingebleut werden, habe man sich nicht so entschieden. Es war nur die selbstsüchtige Angst um den eigenen satten Bauch. Sicher mag mancher deswegen so votiert haben - menschliche Entscheidungen sind ja zuweilen irrational und egoistisch geleitet -, aber es dürfte noch allerlei andere Gründe geben.

Die Iren wußten, dass sie das einzige Mitgliedsland Europas sind, welches per Referendum über die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon zu entscheiden hat. Man darf also getrost festhalten, dass Irland die letzte verbliebene Demokratie in Europa ist! Immerhin, es geht ja nicht um eine Nebensächlichkeit, sondern um die Installation einer neuen, nationale Verfassungen überstülpende Universalverfassung, die zwar so nicht genannt wird, aber de facto als solche manifestiert wäre. Und über Verfassungen, so lehrt es uns das Völkerrecht, habe das Volk selbst abzustimmen. Freilich, in Deutschland haben wir das Zwischenstadium des Grundgesetzes ebensowenig per Volksentscheid überwunden. Wir haben es ja überhaupt nicht überwunden - haben unser Grundgesetz ja immer noch -, sondern aus der Wiedervereinigung juristisch gesehen - und nicht nur juristisch, seien wir ehrlich! - einen Anschluß der DDR an die Bundesrepublik (Artikel 23 GG) gemacht. So umging man eine neue Verfassung, die ja per Grundgesetz im Falle einer Wiedervereinigung (Artikel 146 GG) verpflichtend gewesen wäre. Aber daraus eine alte deutsche Tradition abzuleiten, die besagt, dass das deutsche Volk gar nicht über Verfassungen abstimmen darf und will, weil es bei der nie vollzogenen Wiedervereinigung auch nicht gefragt wurde, entspricht der Lächerlichkeit der hiesigen Eliten.
Wie weit es mit dem demokratischen Verständnis der europäischen Politikerkaste her ist, bedarf wirklich keiner großen Analyse. Die Referenden, die 2005 in Frankreich und den Niederlanden gegen die damalige EU-Verfassung ausfielen - der Lissaboner Vertrag ist ja nur eine Abwandlung des damaligen Werkes -, wurden mit dem neuen Verfassungsentwurf, der sich nun eben Vertrag nennt, nicht nur neutralisiert, sondern auch für einen neuen Ratifizierungsprozess ausgeschaltet. Nun entschied nicht mehr das französische oder niederländische Volk - denn diese haben nur im Falle einer neu zu installierenden Verfassung Mitspracherecht, nicht aber bei einem Vertrag -, sondern deren Abgeordnete, die sich in der Obhut ihrer Wirtschaftsfreunde schadlos halten und deren knallharte Handelsinteressen sie zu vertreten haben.

Und eben da sind wir beim Punkt: Der Tratado de Lisboa ist eben weniger eine Verfassung in dem Sinne, wie sich das der europäische Bürger vorstellt. Er bekennt sich nicht zur Neutralität in Fragen der Wirtschaftsgestaltung, sondern macht den Freihandel zum einzigen und alleinigen Wirtschaftssystem, welches in Europa vorzuherrschen habe. Auch gegenüber Drittländern sei der Freihandel zu vertreten. Kurzum: Der Freihandel soll weltweit die einzige Wirtschaftsform sein, ohne Kompromisse. Wer sich auch außerhalb der EU-Mitgliedschaft nicht freihändlerisch gibt, mit dem werden keine Geschäfte mehr gemacht. Und wer weiß, vielleicht erlaubt es die militärische Komponente des EU-Vertrages, dass man dann auch mit Waffen interveniert, wenn ein afrikanisches Land glaubt, es müsse Schutzzölle errichten, um den heimischen Markt etwas zu schonen? Dies alles ist sicher keine Randnotiz. Und man stelle sich vor, ein Mitgliedsstaat erkennt, dass es der Freihandel ist, der ihn an den Rand des Zusammenbruchs und Ruins bringt - die Gründe können vielfältiger Art sein -, er aber darf, aufgrund dieses Vertrages, seine Wirtschaft nicht neu strukturieren. Die Mitglieder der Regierungen Europas schwören aber beim Amtsantritt, Not vom Volke abzuwenden und für das Wohl desselbigen einzutreten. Wie aber kann man das, wenn einem ein Vertrag solche engen Spielräume läßt? Denn Not abwenden und Wohl fördern könnte auch bedeuten - und wir wissen um die ökonomische Grundlage allen menschlichen Seins -, den Freihandel einzuschränken, dem Sozialstaat - der ja mittels Freihandelsbekenntnis mehr und mehr demontiert wird - wieder zu rüsten. Aber da werden sich die Herren an den Schalthebeln der Macht einfach auf den Vertrag berufen und Europa die Schuld geben. Davon kann man ausgehen! Und wenn dann ein Mitgliedsland doch den Vertrag bricht, wer will da ernsthaft glauben, dass die Union wort- und waffenlos zusieht? Der Bruch des Kontraktes könnte ja Gelüste bei anderen Mitgliedern hervorrufen und dann stände die Union, die ja keine Vereinigung von Europäern, sondern eine Vereinigung der Konzerne ist, kurz vor dem Zusammenbruch.

Laut Völkerrecht steht es jedem Volk zu, zu einer neuen Verfassung befragt zu werden. Wenn natürlich die Verfassung Vertrag genannt, umgeht man solche demokratischen Spielereien mit zynischem Lächeln. Sollte man aber die Völker Europas befragen, so hat jede Nation für sich selbst zu stimmen. Es geht beispielsweise nicht an, dass das portugiesische Volk die maltesische Verfassung aufhöbe, oder Polen das deutsche Grundgesetz. Konkreter: Es gibt völkerrechtlich betrachtet kein europäisches Volk, welches zu befragen wäre. Deshalb ist es nicht machbar, alle 500 Millionen Einwohner der Europäischen Union in einer großen, allgemeinen Wahl zu befragen. Jedes Referendum muß innerhalb des jeweiligen Mitgliedslandes vollzogen werden. Viele nationale Referenden, alle für sich selbst gültig - kein internationales Referendum! Einen europäischen Mehrheitsbeschluss kann es völkerrechtlich betrachtet nicht geben, wäre, sofern man es doch in dieser Weise vollziehen würde, juristisch gesehen wertlos und für die Menschen nicht verpflichtend. Dieses Szenario von einem länderübergreifenden EU-Referendum ist keine Phantasie, sondern wurde schon mehrmals in Erwägung gezogen. Vorallem deshalb, weil man damit rechnet, dass es gerade jüngere EU-Mitglieder wären, die sich - auch aus Dankbarkeit und Hoffnung - für eine EU-Verfassung entscheiden würden. Diese würden die skeptischeren Völker Europas überstimmen und den Anschein von demokratischer Legitimität erfüllen.
Verfassungsimmanente Werte hin oder her: Wenn eine Verfassungsinstallation so vollzogen wird, ist sie nicht legitim umgesetzt. Dabei spielt es auch gar keine Rolle mehr, ob der EU-Vertrag den neoliberalen Dogmen Folge leistet oder eine aufgeklärte, weitsichtige, menschenliebende, ethisch einwandfrei Sammlung von Grundsätzen ist. Denn eine Verfassung, egal welcher Coleur, muß vom Souverän legitimiert werden - direkt und unmittelbar.

Die Kritik an der Vorgehensweise der Installation ist in den Massenmedien nicht aufzufinden. Ebensowenig findet man kritische Stimmen am weiteren Inhalt - die absolutistische Grundlage des Freihandels wurde ja schon angesprochen - des Vertrages. Man liest oder hört kaum etwas über das Ermächtigungsgesetz, welches sich im Artikel 48, Absatz 6 widerspiegelt. Dort kann der Europäische Rat aus freien Stücken "eine Änderung aller oder eines Teils der Bestimmungen [...] über die Arbeitsweise der EU" erwirken. Der Staatsrechtler Schachtschneider legt dar, dass dies bedeuten würde, der nicht demokratisch legitimierte Europäische Rat könne, ohne dass die nationalen Legislativen oder das Europäische Parlament zustimmen müßten, die Bestimmungen des Vertrages und damit die "Spielregeln", nach denen Politik und Gesetze gemacht werden, jederzeit abändern. Würde dieser Vertrag in Kraft treten, sei "Deutschland keine Demokratie mehr" - Schachtschneider attestiert dies aber auch schon der heutigen Bundesrepublik, weil er eine Parteien- und Medienoligarchie nicht als Demokratie bezeichnen möchte -, woraus sich eine Widerstandslage nach Artikel 20, Absatz 4 GG ergäbe.
Von der demokratischen Wirkungs- und Arbeitsweise der EU ist hierbei noch gar nicht zu sprechen. Alles was innerhalb der EU an Gesetzen - Richtlinien genannt - erlassen wird, ist nicht einem demokratischen Verfahrensweg zu verdanken, sondern bürokratischer Beamtelei. Das vielgerühmte Europäische Parlament ist gar kein Parlament. Es unterliegt einer ungleichen Stimmengewichtung, hat kein Initiativrecht, kann also nicht aus eigener Kraft Gesetze hervorbringen und ebensowenig ein Beschlußrecht, dass es berechtigen würde, Gesetze zu beschließen. Lediglich einige wenige, (noch) nicht gesetzlich fixierte Themenbereiche, werden im Europäischen Parlament erörtert. Was innerhalb der EU geschieht, ist die Abkehr vom demokratischen Standard, um es durch einen verbeamteten Überwachungs-, Kontroll- und Umsetzungsapparat zu ersetzen. Gesetze entstehen nicht mehr aus der Notwendigkeit heraus, nicht auf Belange des Volkes gründend, sondern auf die Initiative eines Beamten, der - gerade in Brüssel - von Lobbyisten umringt ist und sicher weiß, mit denen gut umzugehen. Diese fütternde Hand wird freilich nicht gebissen. Man entwirft Richtlinien, erzählt den Menschen in EU-Europa, das Europäische Parlament hätte dies beschlossen - was einer glatten Lüge entspricht - und legitimiert somit das Unrecht aus dem staubigen Hinterzimmer eines Gesetzesschmiedes, der vom Volk soviel Ahnung hat wie von Ethik und Anstand. Von EU-Richtlinien, Arbeitsweisen der EU-Gremien, der Wirkungslosigkeit des Europäischen Parlaments, so schätzt Schachtschneider ein, wissen die nationalen Politiker hierzulande - und wahrscheinlich überall in EU-Europa - wenig bis gar nichts.
Gleichwohl findet sich genausoviel Kritik zur militaristischen Ausgestaltung Europas in den Massenmedien - nämlich gar keine! Man hält es dort scheinbar für wenig bedenkenswert, dass die neue EU mit Artikel 42, Absatz 1, Satz 3 bereits für militärische Reformen bereitsteht, wenn auch nur eine "Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen" besteht. Alleine die Grundsätze reichen aus! Von der Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten, ihre militärische Fähigkeiten schrittweise zu verbessern, ganz zu schweigen! Die militärische Komponente des Lissaboner Vertrages soll den Primatsanspruch der EU geltend machen, soll dazu führen, dass die EU sich - ganz im Stile des US-Imperialismus - für "geopolitische Notwendigkeiten" handlungsfähig macht. Diese Notwendigkeiten, wir kennen es von den Rechtfertigungen der US-Administration, werden als "Akt der Wehrhaftigkeit", als Form präventiver Selbstverteidigung ausgelegt. Der EU-Vertrag soll diese Auslegung natürlich vereinfachen. Wenn man dann EU-wichtige Pipelines per Militäreinsatz schützt, hat man immerhin eine Verfassung auf seiner Seite, die den Mord und den Totschlag vielleicht nicht ausdrücklich erlaubt, aber immerhin nicht schwer verurteilt.

Die Entscheidung des irischen Volkes, man kann es gar nicht laut genug hinausschreien, war ein Segen für die Völker Europas. Das wollen die Machthabenden freilich nicht hören. Für sie gilt nur die Umsetzung des Freihandels. Die ersten Stimmen wollen Irland ausklammern und ein "Kerneuropa" mit geltendem EU-Vertrag umsetzen. Hinweg also auch die Einstimmigkeit, die man sonst als maßgebendes Kriterium angesehen hat! Auch daran wird meßbar, wie es um den demokratischen Geist in Europa bestellt ist. Man geht jeden Schritt, um ja nicht die Völker selbst fragen zu müssen und wenn sie dann doch gefragt werden müssen, weil nationale Verfassungen ein Referendum bindend machen, dann schließt man eben jene Mitgliedsnation aus.
Und damit die noble Runde der sogenannten Staatsmänner - die ja nichts anderes als Marionetten der Konzerne sind - auch einen Grund zum Feiern hat, zeichnete man Angela Merkel, unter deren Ratsvorsitz im ersten Halbjahr 2007 dieser Mist angehäuft wurde, mit dem Karlspreis aus. Einen Preis, der jenen verliehen wird, die sich um die Europäische Einigung und Integration bemühen. Solche Preise, die sich selbsterklärte Eliten für andere selbsterklärte Eliten erdenken, sind natürlich wenig aussagekräftig. Den Karlspreis gibt es seit 1949. Ich wage zu behaupten, dass man auch Adolf Hitler 1941 diesen Preis verliehen hätte, wenn er da schon existiert hätte. Immerhin war zu dieser Zeit Europa unter der Herrschaft einer Regierung - Marionettenregierungen eingeschlossen - gestanden. Hat nicht Charlemagne, nach dem der Preis ja benannt ist, in ähnlicher, wenngleich archaischer Form, Mitteleuropa erobert? Für die Eliten in Politik und Wirtschaft zählt doch nicht das Wer, sondern lediglich das Ob und Wie. Thoreau zitierend: "... doch weil sie selten moralische Urteile fällen, könnten sie - ohne es zu wollen - ebensowohl dem Teufel dienen wie Gott."

Und Leuten, die sich kritisch mit dieser Gesellschaft auseinandersetzen, die dagegen anschreiben und anschreien, die demonstrieren und ihre Mitmenschen aufklären, die von sich behaupten, dieser Regierung nicht mehr untertan sein zu können, Leuten wie uns, die via Internet für Aufklärung und Einsicht stehen - oft glücklos und ohne Erfolg -, sagt man nach Verfassungsfeinde zu sein...

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