De dicto

Freitag, 4. April 2008

"Zunächst gibt es die Zwei-Klassen-Medizin schon lange, und zwar auf der Zahlseite. Privatversicherte mit Familie zahlen nämlich deutlich mehr als gesetzlich Versicherte, weil ihre Ehepartner und Kinder nicht kostenfrei mitversichert sind. Wenn aber für das privatversicherte Kind hohe Beiträge entrichtet werden, für den gesetzlich versicherten Nachwuchs jedoch kein einziger Cent – warum soll das Kind, für deren Krankenschutz die Eltern deutlich mehr aufwenden, nicht auch eine bessere und schnellere Behandlung bekommen?"
- BILD-Zeitung, Nicolaus Fest am 3. April 2008 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Ausgehend von einer Sichtweise, die sich gemeinhin als emanzipatorisch-aufklärerische begreift, wäre Fests Frage ebenso knapp wie banal zu beantworten. Schmerzen, ein rumorender Bauch, steife und geschwollene Gelenke, Übelkeit und dergleichen Überraschungen mehr, die die Natur für uns bereithält, können sich nicht am Geldbeutel messen lassen. Wer bei der Behandlung eines Notleidenden dessen materielle Ausstattung, seine erworbenen Habseligkeiten oder seine finanziellen Möglichkeiten in die Anamnese aufnimmt, wertet den Betroffenen anhand einer subjektiven Kosten-Nutzen-Skala und, sofern er finanziell leichtgewichtig ist, sortiert ihn in die niederen Kategorien menschlichen Unwertes ein. Dort finden sich diejenigen wieder, die der Gesellschaft als entbehrlich eingestuft werden können. Kurzum: Die Frage lautete also, warum Kinder, "für deren Krankenschutz die Eltern deutlich mehr aufwenden, nicht auch eine bessere und schnellere Behandlung bekommen" sollen. Banal ausgedrückt: Weil jedem Menschen der gleiche Wert zukommt! Weil gerade im Leid dieser Gleichheit aller Individuen ein Ausdruck von menschlicher Würde immanent ist! Weil es den Idealen der Aufklärung zuwiderläuft, wenn man Menschen aufgrund ihres Lebensstandards selektiert!

Vielleicht müssen wir es Nicolaus Fest nachsehen. Immerhin entspringt er einer bürgerlich-konservativen Familie - er ist Sohn des berühmten Historikers Joachim Fest -, die zwar immer als liberal galt, aber lediglich dem gewohnt bürgerlichen Liberalismus frönte. Freilich spricht man sich in diesen Kreisen für Freiheit und Gleichheit aus, aber nur als abstrakten Wert. Der Obdachlose, frei von Zwängen und Abgaben, gesegnet mit einem Paar Füße, die einen überall in der Welt hintragen können, erscheint dem Werteliberalen als Inbegriff freiheitlichen und selbstbestimmten Lebens. Dass der Obdachlose aber nicht frei ist, sich so zu ernähren, wie er es benötigt oder möchte, dass gerade im Winter seine Freiheiten zu erfrieren drohen, ist diesem besonderen Typus liberaler Scheinheiligkeit entgangen. An dieser Denkart hat das Bürgertum, dem auch die Familie Fest hinzuzurechnen ist, immer festgehalten. Sie - die Denkart - entstammt der protestantischen Frugalität, der calvinistischen Prädestinationslehre, dem ewigen Krämerseelentum und dem Ringen nach Profit als letzte Form irdischen Heilsverständnisses. Angelehnt an diesem schnöden, langweiligem und menschenverachtenden Weltbild, in dem der Mensch zum belanglosen Rädchen des wirtschaftlichen Getriebes herabgestuft wird, konnten aufklärerische Ideale und emanzipatorisches Denken keinen Einzug ins Bürgertum finden. Hätten sie Einzug gefunden, wäre der eigene Lebensstil bedroht gewesen. Abstrakte Werte aber, die nichts kosten, aber süß in den Ohren klingen, wenn man von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit spricht, konnte man als umzusetzendes Ziel anerkennen. Wo aber aus dem abstrakten Begriff eine materielle Tatsache werden soll, da zieht sich der Bürgerliche zurück, fragt - wie im Falle Fests - im Rahmen seines eingeimpften Weltbildes nach Wert und Mehrwert, d.h. nach demjenigen, der aufgrund finanzieller Möglichkeiten "mehr wert" ist, und nimmt seine in die Wiege gelegte Wahrnehmung als axiomatische Grundvoraussetzung aller Menschen wahr.

Die eingangs gestellte Frage hätte Fest sich selbst beantworten können, wenn er seine pseudoliberale Stocksteifheit gegen ein Hauch von emanzipatorischer Aufklärung eingetauscht hätte. Aber dann würde er nicht für die BILD-Zeitung schreiben.

1 Kommentare:

Christian Soeder 4. April 2008 um 17:11  

Weil jedem Menschen der gleiche Wert zukommt! Danke für diese klaren Worte. Erstaunlich, dass derlei Selbstverständlichkeiten noch immer nicht wirklich selbstverständlich sind und extra erwähnt werden müssen. (Nicolaus Fest ist wohl wirklich ein sehr unsympathischer Zeitgenosse.)

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